In den siebziger Jahren wollte ein Unternehmer Barmbek-Uhlenhorst zur zweiten Kraft in Hamburg aufbauen. Doch ein Zweitligaaufstieg drohte im Kollaps zu enden – bis Heino und Roberto Blanco kamen.
Diese Reportage stammt aus dem 11FREUNDE SPEZIAL „Die Geschichte der Zweiten Liga“. Erhältlich bei uns im Shop.
Am Tag, als es in Barmbek zum ersten Mal nach großem Fußball aussah, drückte Hermann Sanne dem sechsjährigen Andreas Brehme einen blau-gelben Wimpel in die Hand. Es war der 22. August 1967, die Sonne strahlte durch die engen Straßen des Hamburger Arbeiterviertels, und Sanne, Mäzen und Selfmade-Millionär, war an diesem Tag außerordentlich gut gelaunt. Sein Klub Barmbek-Uhlenhorst, im Volksmund liebevoll BU genannt, weihte gegen den Hamburger SV seinen neuen Rasenplatz ein, 7000 Zuschauer waren gekommen. Sanne dirigierte, schüttelte Hände, und dann schickte er den jungen Brehme los, während dessen Hand den Wimpel umklammerte. Am Mittelkreis blieb der Junge stehen. „Na, mein Lütter, wie heißt du denn?“, fragte Uwe Seeler, und der Lütte sagte: „Andi“. Er übergab dem Spielführer des HSV den Wimpel und rannte davon. Der Regionalligist vom Wilhelm-Rupprecht-Platz verlor an diesem Sommertag zwar gegen Seeler, Dörfel, Schulz und die anderen Superstars, doch das Spiel war äußerst umkämpft, am Ende stand es 3:4.
Vielleicht war es an diesem Tag, als Hermann Sanne glaubte, es könnte was werden mit seinen Plänen. Er hatte sich nach dem Krieg gegen Widerstände nach oben gekämpft. Er war nach 1945 bettelarm durch die Straßen von Barmbek gezogen und hatte sich als Altpapier- und Lumpensammler durchgeschlagen. Doch bald besaß er eine der modernsten Sortieranlagen Europas und war so reich geworden, dass sie ihn den Altpapier-Baron von Hamburg nannten.
Der erste Coup: Willi Giesemann
In seiner Freizeit spielte er für BU, und als er genug Geld zusammenhatte, wurde er Präsident. Sein Ziel war es, mit seinem Heimatverein den FC St. Pauli als Nummer zwei der Stadt abzulösen. Wenn er davon sprach, klang das nicht utopisch, sondern eher visionär. Er sprach nie von astronomischen Ablösesummen, sondern von vielen kleinen Rädchen, die ineinandergreifen sollten. Von Netzwerken und einem mittelfristigen Plan, der den kleinen Stadtteilklub in den professionellen Fußball bringen sollte.
Sein erster Coup gelang ihm 1968. Während Andreas Brehme, mittlerweile sieben Jahre alt, von seinem Vater Bernd auf einem Nebenplatz mit Bleiweste über den Platz gescheucht wurde, saß Hermann Sanne in der Geschäftsstelle und rief Willi Giesemann an. Er hatte gehört, dass der HSV-Spieler seine Karriere beenden wollte.
Giesemann, mittlerweile 77 Jahre alt, wohnt heute in einer kleinen Siedlung in Hamburg-Tonndorf. Die Beine machen nicht mehr mit, also sitzt er in einem Ohrensessel, er trägt Badelatschen und T‑Shirt, an der Wand hängen ein paar Fotos aus alten Zeiten. Er erzählt von früher. Von der WM 1962 und Uwe Seeler. Von Hermann Sanne oder dem jungen Andreas Brehme. Vom großen Fußball, der für ein paar Jahre über die roten Barmbeker Backsteinhäuser wehte. Und natürlich vom Foul, mit dem Pelé ihm im Maracanã das Bein brach. Weil Giesemann wenig später noch einen Meniskusriss erlitt, war die Profikarriere jäh vorbei. „Beim HSV hat’s für einen Einbeinigen nicht mehr gelangt, für BU reichte es noch“, sagt er.
Giesemann spielte für die Barmbeker ab 1968 ein paar Jahre in der Regionalliga, aber wichtiger war sein Engagement abseits des Platzes. Er war die gute Seele, sagen die Fans heute, denn er achtete stets auf den Zusammenhalt. Er führte etwa das gemeinsame Kaffeetrinken ein. Jeder BU-Spieler musste nach den Partien mindestens eine Stunde im Klubheim bleiben, um mit den Anhängern zu klönen. Andere sagen heute, Giesemann sei Obmann gewesen. Er selbst sagt: „Wie nennt man die Leute, die Spieler holen? So einer war ich!“ Ein Scout.
„Neue Leute gehen bei mir über die Waage“
Zwar betrieb er weiterhin seinen Lotto-Toto-Laden, doch nebenher lotste er etliche Profis nach Barmbek, die in der Bundesliga nicht mehr zum Einsatz kamen: Erhard Schwerin, Jörg Martin, Helmut Sandmann und Klaus Fock vom HSV, Uwe Dreyer von Werder Bremen sowie Ernst Kreuz, der einst für Eintracht Frankfurt gespielt hatte. Er schickte die Spieler mit Empfehlung zu Hermann Sanne, der sie auf ihre Leistungsfähigkeit testete. Dabei verfolgte er ein striktes Auswahlverfahren: „Neue Leute gehen bei mir über die Waage, ich will keine kleinen und leichtgewichtigen Spieler.“
Der Königstransfer gelang BU 1973. Anfang jenes Jahres bekam Willi Giesemann in seinem Laden Besuch von Friedo Dörfel. Dieser berichtete, dass sein Sohn, HSV-Legende Charly Dörfel, bald aus Südafrika heimkehren würde und Lust hätte, noch ein paar Jahre in Hamburg zu spielen. Giesemann wurde hellhörig. Wenige Wochen später saß Dörfel im Büro des Präsidenten. „Ich komme“, sagte der Spieler. „Aber ich werde mich nicht wie damals beim HSV abspeisen lassen.“ Als Dörfel 1958 vom SV Polizei zu den Rothosen wechselte, bekam er ein Paar Schuhe, ein T‑Shirt und eine Fassbrause. Sanne versprach, dass er den Geldbeutel dieses Mal ein bisschen weiter aufmachen würde als bei den anderen Spielern, die weiterhin ihren Berufen als Bäcker oder Lehrer nachgingen und bei BU nicht mehr als 400 oder 500 Mark verdienten. Dörfel war einverstanden.
Im letzten Regionalligajahr vor dem Aufstieg, in der Saison 1973/74, wurde das Stadion voller, denn BU spielte gut, und Dörfel lockte nun auch Zuschauer aus den umliegenden Vierteln ins Stadion. Manchmal kamen über 4000 Zuschauer, und wenn er nicht seinen linken Fuß trainieren musste oder am Kopfballpendel auf und ab sprang, war auch Andi Brehme unter ihnen. Mittlerweile war er 13 Jahre alt und galt als das größte Nachwuchstalent Hamburgs. Trainer und Präsident waren sich einig: Brehme versprach eine goldene Zukunft für Barmbek-Uhlenhorst, an deren Anfang der Zweitligaaufstieg stehen sollte.
Das erste Fanutensil: ein blau-gelber Drache
Einer, der schon damals im Fanblock stand, ist Detlef Grandt. Der heute 57-Jährige ist ein redseliger Mann, mit Bäuchlein und einer beeindruckenden Fan-Vita. Gemeinsam mit Andi Brehme sah er, wie Charly Dörfel mal brillierte, mal fluchte und gegen Ende der Saison, nach einem Kabinenstreit, entlassen wurde. Sie sangen „Hi, ha, hu, HSV BU“ und brachten bei einem Auswärtsspiel das erste Fanutensil ins Stadion: einen blau-gelben Drachen am Stock.
„Es war eine unbeschwerte Zeit“, sagt Grandt. „Die Zuschauer standen wenige Zentimeter hinter der Seitenlinie, vieles war unprofessionell und provisorisch, aber viel näher und familiärer als beim HSV.“ Sinnbildlich für jene Jahre ächzte direkt am Eingang das Klubheim, eine Holzhaus, weswegen die Spieler anderer Vereine häufig über den „Barackenklub“ spotteten. Zugleich versuchte der Trainer, Reinhold Ertel, das Amateurhafte aus seinem Team zu schreien. Spieler, die verletzt vom Feld getragen wurden, beschimpfte er, nach Niederlagen zerschlug er Glasaschenbecher an der Kabinenwand. Doch offenbar brauchten seine Spieler diesen harten Umgangston. Die Mannschaft qualifizierte sich für die neu gegründete Zweite Bundesliga Nord, und plötzlich ging es für Grandt, Brehme und die anderen Fans mit gemieteten Bussen in die Ferne. Nach Dortmund, Köln oder Essen.
„Viermal Training in der 2. Liga – da mache ich nicht mit“
Dabei glich der Aufstieg einer kleinen Sensation. Denn während Mäzen Hermann Sanne und die meisten Fans die 2. Bundesliga herbeigesehnt hatten, wollten einige Spieler partout nicht aufsteigen. Trainer Reinhold Ertel war kurz vor Saisonende sogar überzeugt, dass Mittelfeldspieler Ulrich Fastert konsequent gegen die Mannschaft gespielt habe. Sein Verdacht bestätigte sich, als Fastert in einem Interview sagte: „Viermal Training in der Zweiten Liga – da mache ich nicht mit. Dann spiele ich lieber in Hamburg.“
Fastert stand mit seiner Meinung allerdings nicht alleine da. Auch Spieler von anderen Vereinen blickten skeptisch auf die neue Zweite Bundesliga, denn sie sollten mit einem Mal unter Profibedingungen spielen und trainieren, mussten aber weiterhin ihre regulären Jobs ausüben. BU hatte mit Hermann Sanne einen Mäzen, doch dieser war eben ein pragmatischer Geschäftsmann und kein Goldesel. Die Gehälter der Spieler blieben im dreistelligen Bereich.
Als der DFB kurz vor Saisonstart den Wilhelm-Rupprecht-Platz für nicht zweitligatauglich erklärte, ging das Schlamassel richtig los. BU musste an den Hamburger Rothenbaum ziehen, Miete zahlen und einige Umbauten vornehmen, etwa einen Zaun um den Platz errichten. „Wenn überhaupt, dann haben wir nur in dieser Umgebung eine Chance in der Zweiten Liga“, ließ man zwar verlauten, doch ehe man sichs in Barmbek versah, stand der Verein knietief im Dispo. Zumal er mit 4000 Zuschauern kalkuliert hatte, doch an den fremden Rothenbaum selten mehr als 2000 kamen.
Bittbrief an Helmut Schmidt
Im Winter 1974/75 vermeldete der Klub Verbindlichkeiten in Höhe von über 200 000 Mark. Zugleich wurde bekannt, dass Spieler und Trainer seit Monaten kein Gehalt mehr bekommen hatten und zu Auswärtsspielen in privaten Autos reisen mussten. Geschäftsführer Klaus Fulda entließ sich sogar selbst und erledigte seine Arbeit nach Feierabend, um Geld zu sparen. Auch sportlich lief es nicht, bereits Ende November rutschte BU auf den letzten Tabellenplatz ab.
In der Winterpause versuchte der Klub, Geld aufzutreiben. Der Vorstand verschickte einen Bittbrief an Helmut Schmidt, schließlich sei der Bundeskanzler Barmbeker und ein „guter Schulkamerad“ eines Vorstandsmitglieds gewesen. Doch Schmidt antwortete nie. Als er später einmal auf den Brief angesprochen wurde, sagte er: „Ich wusste ja nicht, wie schlecht es um den Verein steht.“ Zugleich hatte BU auch beim Hamburger Senat um eine Bürgschaft gebeten, doch diese wurde wegen der finanziellen Probleme der Stadt abgelehnt.
Schließlich kam Hermann Sanne auf die Idee, das eh schon geringe Grundgehalt der Spieler auf 300 Mark zu reduzieren und sie an den Ticketeinnahmen zu beteiligen. Es machte alles nur noch schlimmer. Die Spieler verweigerten sich dem Vorschlag, einige suchten sich sogar einen neuen Verein, so dass BU am Ende der Saison nur noch 13 Spieler im Kader zählte. Ihr Groll war durchaus verständlich, denn mittlerweile schwanden die Zuschauer von Spiel zu Spiel. In der Rückserie kamen oft weniger als 500. Zum vorletzten Heimspiel gegen Schwarz-Weiß Essen waren es gerade mal 307. Der Kassierer zählte eine Einnahme von 1800 Mark, der Vorstand zählte Verbindlichkeiten von 500.000 Mark.
Abschied im Zorn?
Anfang Juni 1975 flatterten 13 fristlose Kündigungen auf der BU-Geschäftsstelle ein. Doch vor dem letzten Saisonspiel übernahm der DFB die Gehälter von insgesamt 70 000 Mark, und die Mannschaft lief zu einem finalen Zweitligaspiel gegen Hannover auf. Hermann Sanne war da als Präsident schon zurückgetreten. Im Januar 1975 hatte er erklärt, dass er sich um seinen erkrankten Sohn kümmern müsse. Einige Fans glaubten hingegen, er habe sich an der Situation zu stark aufgerieben. Die Presse schrieb von einem Abschied im Zorn.
Sanne verpasste eine ungeahnte Solidarisierungswelle. Das Ernst-Deutsch-Theater spielte für den Klub dreimal vor ausverkauftem Haus und spendete 16.000 Mark. Barmbeker Bürger sammelten derweil über 30.000 Mark. Den größten Betrag erlöste aber Gerd Ribatis vom NDR, der seine Kontakte in die Schlagerszene spielen ließ. Der Rundfunkjournalist konnte Heino, Tony, Cindy und Bert, Costa Cordalis und Roberto Blanco für eine Schallplatte mit dem Titel „Stars singen für BU“ gewinnen. 10.000 verkaufte Exemplare bewahrten den Verein vor der Insolvenz.
„Training mit der Bleiweste hatte sich gelohnt“
Den sportlichen Niedergang konnten Roberto Blanco und Co. allerdings nicht verhindern, zwischenzeitlich stieg BU sogar in die Bezirksliga ab. Nur Brehmes Geschichte ging stetig bergauf. Drei Jahre nach der Zweitligasaison debütierte er als 17-Jähriger in der Oberliga Hamburg. Grandt war begeistert. „Das Training mit der Bleiweste hatte sich gelohnt“, sagt er.
Und dann erzählt er eine schöne Geschichte, die jeder in Barmbek kennt. Ende der siebziger Jahre lernte Grandt eine Frau in Bielefeld kennen, die Kontakt zu dem damaligen Arminia-Geschäftsführer Willi Nolting hatte. Grandt sah die große Chance für Andi Brehme, die große Chance für BU, mal wieder in die Schlagzeilen zu kommen. Er stellte tatsächlich einen Kontakt zur Arminia her. Der damalige Bundesligist versprach, Andreas Brehme zu beobachten. Als Grandt, der Hobby-Spielervermittler, wenige Wochen später noch einmal auf der Arminia-Geschäftsstelle fragte, was nun mit seinem Lieblingsspieler sei, hieß es dort: „Brehme ist nicht bundesligatauglich.“
Der Rest ist bekannt. Brehme machte Karriere beim 1. FC Kaiserslautern, beim FC Bayern und Inter Mailand. Am 8. Juli 1990 schoss er Deutschland zum Weltmeistertitel. In jenen Jahren wurde öfter über BU berichtet, schließlich wollten die Leute wissen, woher der Junge mit den zwei Wunderfüßen stammte. Grandt nahm damals noch einmal Kontakt nach Bielefeld auf. Er schickte ein Plastikgebiss an die Arminia-Geschäftsstelle. Dazu legte er einen Brief. Er begann mit den Worten: „Damit Sie sich selber in den Arsch beißen können.“