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Volkan Sen ist 26 Jahre alt und Fuß­ball­profi bei Trab­zon­spor. Am Montag spielte seine Mann­schaft gegen Rize­spor. Beim Stand von 1:1 in der 42. Minute flog der Ball ins Sei­tenaus, Rize­spor bekam den Ein­wurf zuge­spro­chen. Die Fern­seh­bilder zeigten Volkan Sen, wie er sich plötz­lich mit Fans von der Tri­büne stritt, wütend Luft­lö­cher trat und schlug, sich abwen­dete und in Tränen aus­brach. Wei­nend stapfte Volkan vom Platz, sämt­liche Beschwich­ti­gungs­ver­suche seiner Mit- und Gegen­spieler igno­rie­rend. Trainer Mus­tafa Akcay wech­selte ihn aus, sein Spieler hatte ihm keine andere Wahl gelassen. Für den Türken kam der Fran­zose Flo­rent Malouda. Malouda erzielte später mit einem wun­der­baren Treffer das ent­schei­dende 2:1. Aber das inter­es­sierte nach dem Spiel nur noch die Sta­tis­tiker. Das Thema das Tages war der trä­nen­reiche Aus­bruch von Volkan Sen.

Im tür­ki­schen Fuß­ball kur­siert seitdem die Frage: Darf sich ein Fuß­baller, so sehr er auch von den Fans belei­digt wird, ein­fach selbst aus­wech­seln? Und noch viel ent­schei­dender: Darf er ein­fach so anfangen zu heulen? Besagte Zuschauer wurden noch nach dem Spiel von der Polizei fest­ge­halten, kurze Zeit später aber wieder frei­ge­lassen. Den Vor­wurf, Volkan Sen mit schlimmsten Belei­di­gungen gereizt zu haben, wiesen die Herren von sich. Ledig­lich der Satz Warum spielst du nicht Fuß­ball wie ein Mann?“ soll gefallen sein.

Wäh­rend Vol­kans Trainer gegen die Fans wütete, nagelte Trab­zon­spors Prä­si­dent Ibrahim Haci­os­ma­noglu seinen Spieler öffent­lich an die Wand: So etwas sehe ich zum ersten Mal. Das Spiel­feld zu ver­lassen, weil man von außen beschimpft wird, hat mit Pro­fes­sio­na­lität nichts zu tun. So etwas erwartet man von Kin­dern, die auf den Straßen spielen. Mit so einem Spieler möchte ich nicht zusam­men­ar­beiten.“

Lass dir Eier wachsen du Wasch­lappen!“

Wie viel Schwäche darf ein Fuß­baller denn nun eigent­lich zeigen? Wie sehr (vor allem männ­liche) Fuß­ball­fans das angeb­lich Mas­ku­line an ihrem Lieb­lings­sport schätzen und wie sehr sie ver­meint­liche Weich­eier“ ver­ab­scheuen, musste jüngst der Nürn­berger Berkay Dabanli erfahren. Der pos­tete nach dem Spiel gegen den FC Bayern ein Foto seines zer­schun­denen Knies auf seiner Face­book-Seite mit den Worten Schmerzen !!! Ob man nicht hätte rot geben können?“ Gemeint war der Tritt des Mün­che­ners Mario Man­dzukic. Dabanlis Knie sah in der Tat furcht­erre­gend aus, aber als­bald hagelte es wüste Beschimp­fungen. Lass dir Eier wachsen, du Wasch­lappen!“ Heul doch, du Mäd­chen…“, Das ist nunmal ein Män­ner­sport. Spiel doch Schach“ Sätze aus dem Harte-Kerle-Bau­kasten.

Andy Möller kennt die Eier‑, Schach‑, und Mäd­chen­vor­würfe bes­tens. Keinem anderen Spieler der Bun­des­li­ga­ge­schichte hat man so häufig und pene­trant vor­ge­worfen, nicht hart genug für seinen Sport zu sein. Heul­suse“ nannten ihn geg­ne­ri­sche Fans und Spieler. Unver­gessen ist die unmiss­ver­ständ­liche Geste von Lothar Mat­thäus, der sich vor Möller stellte und so tat, als müsse er sich Tränen aus dem Gesicht wischen. In einem Inter­view mit dem Süd­deut­sche Zei­tung Magazin“ stellte sich Möller im Früh­jahr 2001 den Heul­suse-Vor­würfen. Frage: Wann haben Sie das letzte Mal geweint?“ Ant­wort: Neu­lich, als Rocky 5 im Fern­sehen lief. Rocky hat alles ver­loren. Er zieht seine alten Kla­motten an und geht in die Turn­halle zu seinem Trainer, einem alten Mann. Der sagt: ›Rocky, ich wäre nor­ma­ler­weise schon 15 Jahre tot. Nur wegen dir habe ich noch so lange gelebt.‹ Da hatte ich gla­sige Augen, das war so was von mensch­lich.“ Frage: Beim Fuß­ball weinen Sie nie?“ Ant­wort: Nur wenn ich einen großen Titel gewonnen habe.“

Volkan Sen hat tat­säch­lich geheult. Obwohl er weder Welt­meister geworden ist, noch Rocky 5“ geschaut hat. Er brach in Tränen aus, weil er sich von Fans belei­digt fühlte. Wie sehr der Fuß­baller in diesem Spiel unter Druck stand, ob er mög­li­cher­weise pri­vate Pro­bleme mit sich rum­trägt, dar­über lässt sich nur spe­ku­lieren. Jeder reagiert eben anders, wenn sich große Emo­tionen nicht mehr still aus­halten lassen. Oliver Kahn ver­zerrte das Gesicht zu einer angst­ein­flö­ßenden Fratze und machte Sachen, die wesent­lich unan­ge­nehmer waren, als ein trä­nen­rei­cher Aus­bruch. Eric Can­tona ver­prü­gelte einen Zuschauer, weil der ihn bepö­belt hatte – auch nicht unbe­dingt die feine eng­li­sche Art. Bei den Lass dir Eier wachsen!“-Typen unter Fuß­ball­fans sind Kahn und Can­tona des­halb leuch­tende Vor­bilder.

Die Sehn­sucht des Fuß­bal­lers nach großen Gefühlen

Ist der Fuß­ball wirk­lich noch immer so archa­isch, dass wir Tränen ver­achten und Kung-Fu-Tritte abfeiern, wäh­rend sich im Rest der Gesell­schaft das Rol­len­bild des Mannes längst ver­än­dert hat? Wer kluge Ant­worten auf diese Frage haben möchte, braucht nur Fuß­ball“ und weinen“ zu goo­geln und wird prompt auf einen Bei­trag von Daniela Otto auf www​.medi​en​ob​ser​va​tionen​.lmu​.de ver­wiesen, eine nach eigener Defi­ni­tion wis­sen­schaft­liche, aber auch essay­is­ti­sche Zeit­schrift, die dar­stel­lende, ana­ly­sie­rende und kri­ti­sche Kunst- und Medi­en­be­ob­ach­tung betreibt“. Darin heißt es: Schon länger lässt sich eine sub­tile Femi­ni­sie­rung dieses ver­meint­lich so mas­ku­linen Sports beob­achten. Archaik hat sich mit Ästhetik gemischt. Fuß­ball ist zum Unis­exsport geworden, bei dem auch die Geschlech­ter­grenzen ver­wi­schen. Der Mythos vom Fuß­ball als männ­lichstem Sport über­haupt brö­ckelt gewaltig. Denn wenn dieses Spiel etwas zeigt, dann ist es die mas­ku­line Sehn­sucht, große Gefühle aus­zu­leben und dazu zählen ins­be­son­dere Emo­tionen, die kon­ven­tio­nell weib­lich kon­no­tiert sind. Wo sonst dürfen Männer so hem­mungslos weinen? Wo sonst werden sie getröstet, von ihrem Trainer in den Arm genommen, lie­be­voll wieder auf­ge­baut? Wo sonst wird ihnen über den Kopf gestrei­chelt, wo sonst umarmen sich Männer im Kol­lektiv? Wo sonst dürfen Männer am Boden liegen bleiben, wenn sie fallen?“

Sind nun Kahn und Can­tona, all die harten Männer des Spiels, in Wirk­lich­keit nur die großen Gefühls­ver­wei­gerer in der viel­leicht emo­tio­nalsten aller Mann­schafts­sport­arten? Hat sich Volkan Sen in Wirk­lich­keit damit für seinen Sport ver­dient gemacht, dass er wei­nend den Platz ver­ließ? Das stimmt alles so natür­lich auch nicht. Die Kahns und Can­tonas werden von der Harte-Kerle-Frak­tion auch in Zukunft abge­feiert, wäh­rend die Vol­kans Hohn und Spott ernten werden.

Die harten Kerle heulten wie die Schloss­hunde

Kurz bevor Oliver Kahn, eines der mas­ku­linen Vor­zei­ge­mo­delle des Welt­fuß­balls, 2008 seine Kar­riere been­dete, wurde er in einem Inter­view mit dem Spiegel“ gefragt, ob er Angst vor der eigenen Rüh­rung habe, vor Tränen am 17. Mai“, dem Tag seines Abschieds­spiels. Nein“, ant­wor­tete Kahn, dann weine ich halt. Wo ist das Pro­blem?“ Kahn weinte dann übri­gens doch nicht. Selbst als ihn die Kameras bis in die Kabine beglei­teten und von draußen die Olli! Olli!“-Gesänge bis in die Kata­komben hallten. So“, schnaufte Kahn, das wars jetzt.“ Dann lächelte er, immerhin. Die Kameras schwenkten wieder auf die Tri­bünen. Dort standen tau­sende Ver­treter der Harte-Kerle-Frak­tion. Und heulten wie die Schloss­hunde. Wo war das Pro­blem?