Die Dinge stehen nicht gut bei Borussia Mönchengladbach, weshalb wir nicht drumherum kommen, über Verhaltensökonomie zu sprechen, insbesondere über WYSIATI und die Illusion der Zwangsläufigkeit. Denn bekanntlich haben die Gladbacher alle sieben Spiele in der Bundesliga, im DFB-Pokal und der Champions League verloren, seit der Klub am 15. Februar bekannt machte, dass Marco Rose in der kommenden Saison Borussia Dortmund trainieren wird.
Viel Mitleid hat Rose dafür nicht bekommen, die meisten Fans der Gladbacher sind stinksauer auf ihn. Ob das angebracht ist, darüber kann man debattieren, aber Rose hatte bei der Amtsübernahme im Sommer 2019 mit seinem „gemeinsamen Weg gehen“-Gerede vielleicht etwas zu dick aufgetragen. Jedenfalls wurde in Briefen, Petitionen an den Klub, auf Spruchbändern am Stadion und wilden Posts in sozialen Medien Roses Ablösung aus quasi moralischen Gründen gefordert. Die Sache hat dadurch Geschwindigkeit bekommen, dass Gladbach so oft in Serie verloren hat wie seit einem Jahrzehnt nicht mehr. Am Samstag steht bei den Super-Losern von Schalke ein gefühltes Schicksalsspiel an.
Der entscheidende Dreh bei der Sache ist: Die meisten Menschen glauben inzwischen, dass Gladbach verliert, weil Rose seinen Abschied angekündigt hat. Womit wir nun bei der Verhaltensökonomie wären und Daniel Kahnemann. Dessen Buch „Schnelles Denken, langsames Denken“ ist nicht nur ein Weltbestseller, sondern er gehört eigentlich in jede gut sortierte Fußball-Bibliothek. Es geht darin nämlich um mentale Muster, gedankliche Kurzschlüsse und Fehlwahrnehmungen, von denen unser Denken nur so strotzt. Nicht zuletzt das Denken und Sprechen über Fußball.
Kahnemann, der für seine Arbeit einen Nobelpreis gewann, hat eine Regel ausgemacht, die er WYSIATI nennt: What you See is all there is. Nur was man gerade weiß, zählt. Und wir wissen gerade, dass Rose den Verein verlässt und seine Mannschaft seither nicht mehr gewinnt. Da können wir gar nicht anders, als 1 und 1 zusammenzuzählen. Ist doch klar, dass die verlieren, weil die Spieler nicht mehr auf ihn hören und das Vertrauen in ihn verloren haben. Vielleicht halten sie ihn genauso für einen miesen Verräter wie die Fans. Wir wissen das natürlich nicht, aber eigentlich können wir das gar nicht anders denken, wir sehen es doch. „Illusion der Zwangsläufigkeit“ nennt Kahnemann so was.
Nach der Niederlage gegen Manchester City in dieser Woche sagte Rose, dass die Leistung seiner Mannschaft in den letzten Wochen oft besser gewesen sei als die Ergebnisse. Er hatte sich da einen unglücklichen Zeitpunkt ausgesucht, denn gegen die momentan vermutlich beste Vereinsmannschaft der Welt war Gladbach himmelweit unterlegen. Anders war das in einigen anderen Spielen der aktuellen Niederlagenserie, etwa die von der Chancenverteilung her fast schon bizarre Niederlage in Augsburg. Auch das Heimspiel gegen Mainz oder die in letzter Minute verlorene Partie in Leipzig hätten nicht zwingend in Niederlagen enden müssen. Und im Pokal gegen Dortmund war’s ein klassisches 50:50-Spiel, das die effektivere oder glücklichere Mannschaft gewann. Und die heißt gerade nicht Borussia Mönchengladbach.
Sky-Experte Didi Hamann war trotzdem unduldsam, als er nach dem Manchester-Spiel sagte: „Ich verstehe ein Stück weit, dass Rose seine Mannschaft verteidigen will. Aber sie haben sieben Mal verloren. Es ist einfach Fakt, dass sie im freien Fall sind, seitdem der Abschied feststeht.“ Nur was man gerade weiß, zählt. Und es ist uns zudem unerträglich anzuerkennen, dass Ergebnisse im Fußball zu einem leider zu großen Grad zufällig sind. Der schlaue Giovanni Trapattoni wusste es besser und hatte Weihwasser in der Tasche, wenn er am Seitenrand stand.
Max Eberl, Gladbachs Geschäftsführer Sport und der Boss von Rose hat neulich erklärt, dass er seine Entscheidungen „auf der Basis von Wissen und Verstand“ trifft, nicht aufgrund von „zwischenmenschlichen Gefühlen, nicht aufgrund von Rücksichtnahme auf andere, nicht auf Druck von außen und auch nicht aus eigener Eitelkeit heraus“. Das sind gute Voraussetzungen, um gute Entscheidungen zu treffen. Denn natürlich ist der Druck auf ihn gerade groß, weil seine Mannschaft im Mittelfeld der Tabelle versinkt und viele Fans den Trainer zum Teufel wünschen. Dass Eberl also sagt, dass er sich momentan keinen Grund vorstellen könne, warum Rose vor Saisonende gehen sollte, verrät eine bemerkenswerte Standfestigkeit.
Allerdings ist diese Standfestigkeit kein Selbstzweck. Eberl erlebt aus nächster Nähe mit, ob es zwischen Mannschaft und Trainer unüberwindliche Probleme gibt. Er würde es bemerken, wenn Rose schon halb mit dem Kopf in Dortmund wäre, nur noch mit halber Kraft oder einfach schlechter arbeitet. Wenn die Regel WYSIATI sagt, dass nur zählt, was man gerade weiß, muss man Eberl zugestehen, dass er mehr weiß. Denn er hat Informationen, über die kein Fan und kein Reporter verfügt.
Innerlich rebelliert ins uns dennoch alles dagegen, weil wir doch genau sehen, dass die nichts mehr gewinnen seit Roses Abschied verkündet ist. Es wäre sogar noch mehr der Teufel los, wenn es in den Gladbacher Seelen nicht ein durch viele Erfolge tief verwurzeltes Gefühl von In-Max-we-trust gäbe. Womit der Fall Rose aber nicht endgültig entschieden ist, denn es kann auch der Punkt kommen, an dem das Denken, dass sie ja nicht mehr gewinnen seit der Abschied ihres Trainers verkündet ist, auch in die Köpfe der Spieler einsickert. Und Rose wäre nicht der erste Trainer, der sich des Vergehens der Glücklosigkeit schuldig gemacht hätte und deshalb gehen musste. Aber darüber wissen wir am Samstag gegen halb Neun mehr.