Als Libero und Mannschaftskapitän prägte Hans-Jürgen „Dixie“ Dörner die goldenen siebziger Jahre von Dynamo Dresden. Heute wird er 70 Jahre alt. Der „Beckenbauer des Ostens“ im großen Karriere-Interview.
Hans-Jürgen Dörner, ist Franz Beckenbauer eigentlich je „Dörner des Westens“ gerufen worden?
Hübsche Vorstellung, aber ich bin mir sicher, dass er das nie zu hören bekommen hat.
Sie wurden mit Beckenbauer verglichen, weil Sie die Rolle des freien Mannes ähnlich kreativ und offensiv interpretierten. Dabei sah Sie Ihr Trainer Walter Fritzsch bei Dynamo Dresden zunächst gar nicht als Libero.
Ich rückte in die erste Herrenmannschaft auf, als Dynamo gerade wieder in die Oberliga aufgestiegen war. 1969 hatte ich noch bei einem UEFA-Turnier in Leipzig als Libero gespielt und war als bester Spieler des Turniers ausgezeichnet worden. Das Erste, was Fritzsch zu mir sagte, war: „Also Libero spielst du hier nicht!“ Da brach erst mal eine komplette Welt für mich zusammen.
Eine pädagogische Maßnahme?
Ich hab mich zumindest bemüht, es nicht zu verbissen zu sehen. Ich hab dann als Mittelstürmer gespielt und das eine oder andere Tor gemacht. All das war durchaus zu meinem Vorteil, ich war flexibel einsetzbar und bin mit der Zeit immer weiter nach hinten durchgerutscht.
Sie sind in Görlitz geboren und haben dort auch die ersten Jahre Fußball gespielt. Ihr Talent blieb nicht lange verborgen. War es zwangsläufig, dass Sie in Dresden landeten?
Es gab damals den Bezirk Dresden, für den ein Jugendauswahltrainer zuständig war. Der hat lanciert, dass ich zu Dynamo komme. Ich habe mir mit 16 Jahren überhaupt keine Gedanken über andere Vereine wie Magdeburg oder Leipzig gemacht.
Wie groß war die Umstellung von Görlitz zu Dresden?
Eine totale Umstellung. In Görlitz hatte ich nur zweimal in der Woche trainiert, nun plötzlich fünfmal plus die Spiele am Wochenende. Ich habe im Internat gewohnt und war ganz allein auf mich gestellt. Es gab niemanden, der sich speziell um mich gekümmert hätte.
Coach Walter Fritzsch, der von Stahl Riesa nach Dresden gekommen war, wurde gerne mit zwei Attributen beschrieben: klein und streng.
Was hundertprozentig auf ihn zutraf. Er war ziemlich autoritär und hat sehr auf Disziplin geachtet. Vielleicht liegt das daran, dass kleine Leute glauben, sich durchsetzen zu müssen. Wir hatten ein paar größere Spieler drin, viele erfahrene Leute. Aber im Grunde zählte nur seine Meinung.
War es schwierig, sich als junger Spieler unterzuordnen?
Manchmal schon, allerdings wurde schnell klar, dass wir mit Fritzsch Erfolg haben würden. Vorher war Dynamo eine Fahrstuhlmannschaft. Seit Fritzsch da war, spielten wir praktisch jedes Jahr um die Meisterschaft mit und qualifizierten uns für den Europapokal. Am Ende hatten wir mit ihm fünf Meistertitel geholt und zwei Pokalsiege. Das gab ihm recht.
wurde am 25. Januar 1951 in Görlitz geboren, spielte dort als Jugendlicher bei der BSG Energie und Motor WAMA. Als 18-Jähriger debütierte er in der ersten Mannschaft von Dynamo Dresden und war maßgeblich an den großen Erfolgen in den siebziger Jahren beteiligt: 5 Meisterschaften, 4 Pokalsiege, dazu 68 Begegnungen im Europapokal. 1977, 1984 und 1985 wurde Dörner Fußballer des Jahres in der DDR. Auch in der Nationalelf war Libero Dörner eine feste Größe, er bestritt von 1969 bis 1985 100 Spiele. 1976 holte er mit der Olympia-Auswahl in Montreal Gold.
Die Idee des Walter Fritzsch in wenigen Worten?
Er hat unheimlich viel Wert auf Spielintelligenz gelegt. Die ganze Mannschaft sollte in Bewegung sein, mitdenken und vorausschauend spielen. Sie sollte den Gegner frühzeitig unter Druck setzen und zu Ballverlusten zwingen. Sie sehen, das gibt es nicht nur heute, sondern auch schon in den siebziger Jahren.
Dazu braucht man die richtigen Spieler.
Die hat er in Dresden gehabt. Eine gute Mischung aus erfahrenen, technisch gut ausgebildeten Spielern und jungen Talenten, die aus den Nachwuchsmannschaften nachrückten. Eine tolle Mannschaft! Vorne Hans-Jürgen Kreische, ein sensationeller Torjäger. Und natürlich Reinhard Häfner, der aus Erfurt kam und den Spielaufbau organisiert hat.
Und Sie nicht zu vergessen! Sie haben den Libero ja sehr offensiv interpretiert und waren oft torgefährlicher als manch ein Mittelfeldspieler.
Das ist richtig, aber man hat mich auch gelassen. Der Trainer hat es erlaubt und die Mannschaft hat es mitgetragen. Wenn ich marschiert bin, ließ sich ein anderer fallen.
Die Dresdner Dominanz in den Siebzigern liest sich auch heute noch beeindruckend. Von 1969 bis 1980 landete Dynamo stets unter den ersten drei Mannschaften. Gab es in diesen Jahren einen Erzrivalen?
Gerieben haben wir uns vor allem an Jena. Die Spieler haben sich untereinander gut verstanden, aber es prallten zwei Trainerphilosophien aufeinander. Hier die Buschner-Schule, die von Hans Meyer weitergeführt wurde und die einen starken Akzent auf Athletik und Beweglichkeit legte. Die Spieler von Carl Zeiss waren uns da weit voraus. Und auf der anderen Seite Walter Fritzsch mit seiner Philosophie des schönen, attraktiven, intelligenten Fußballs.
Damit konnte Dynamo auch international mithalten.
Hier hat alles gespielt, was Rang und Namen hatte. Der FC Liverpool, Ajax Amsterdam, Juventus Turin und natürlich Bayern München. Die beste Mannschaft, die je in Dresden gespielt hat, war Ajax. Die liefen mit der halben Nationalmannschaft auf, mit Johan Neeskens, Johan Cruyff, Arie Haan, dazu Horst Blankenburg. In Amsterdam verloren wir 0:2 und haben uns in Dresden immerhin ein 0:0 erkämpft. Die holten anschließend auch den Europapokal. Diese europäischen Spiele sorgten dafür, dass die Dresdner Zuschauer ganz schön verwöhnt waren.
Bis heute wird viel vom deutsch-deutschen Duell im Achtelfinale 1973 erzählt. Der BRD-Meister gegen den DDR-Meister, Bayern München gegen Dynamo Dresden.
Dieses Spiel wurde hüben wie drüben hochstilisiert, zum Klassenkampf auf dem grünen Rasen. Sportlich haben sie uns in München ein wenig unterschätzt, vorsichtig ausgedrückt. Die Bayern waren offensichtlich ein bisschen erschrocken, dass da eine Mannschaft aus dem Osten kommt und tatsächlich guten Fußball spielt. Beide Spiele waren unglaublich spannend, wir haben im Olympiastadion geführt, und die haben hier geführt.
Wir sitzen hier im damaligen Mannschaftshotel der Münchner unweit des Hauptbahnhofes. Fotos von damals zeigen eine Menschentraube, die die Münchner empfängt.
Wir haben den Trubel gar nicht mitbekommen, weil wir schon einen Tag vorher ins Trainingslager gefahren waren: Hinterher waren wir sehr enttäuscht, weil wir uns so naiv verhalten hatten.
Der ganz große Wurf, ein internationaler Pokal, blieb Dresden im Gegensatz zum 1. FC Magdeburg aber verwehrt.
Das lag letztlich am System. Wir haben all die Jahre zu sehr in unserem eigenen Saft geschmort. Zu Vorbereitungsspielen fuhren wir nach Polen oder in die CSSR. Uns fehlten die internationalen Vergleiche. Es wäre auch sinnvoll gewesen, den Spielern Vereinswechsel zu ermöglichen, ob nun innerhalb der Oberliga oder ins Ausland. Neue Trainer, neue Konzepte, neue Mentalitäten kennenzulernen, bringt einen Spieler immer weiter, menschlich und sportlich.
Heute gilt möglichst langjährige Vereinstreue als höchstes moralisches Gut im Profifußball.
Aber das kann man ja auch nicht vergleichen. Heute bleiben die Spieler zwei Jahre bei einem Verein und ziehen dann weiter. Ich habe bei Dynamo fast 20 Jahre Fußball gespielt, weil ich im Prinzip gar keine andere Chance hatte, woanders hinzugehen.
„Ich war zeitig verheiratet, Flucht kam nicht in Frage“
Die großen Fußballer der DDR bekamen bei internationalen Begegnungen gerne mal Angebote aus dem Westen. Haben Sie mit dem Gedanken gespielt, im Westen zu bleiben?
Es gab schon Verbindungen, Bekanntschaften und bisweilen auch Telefonate mit anderen Vereinen. Aber letztlich hat sich für mich die Frage nicht gestellt. Ich war zeitig verheiratet und mir war klar, dass eine Flucht schwere Konsequenzen für die Familie daheim gehabt hätte. Man darf zudem nicht vergessen, dass jeder, der in den Westen floh, zunächst einmal lange gesperrt wurde. Und mir ist es ja in Dresden als Fußballer gut gegangen. Es wäre gelogen, wenn ich jetzt sagen würde, dass alles hier Mist war. Mir hat es an nichts gemangelt, ich konnte reisen. Die Frau musste natürlich zu Hause bleiben, aber ich hab durch den Fußball die ganze Welt gesehen.
Sie reisten als Angehörige der Volkspolizei.
Auf dem Papier waren wir Spieler allesamt Angestellte der Volkspolizei, der Bezirksbehörde. Jeder Spieler hatte seinen Dienstgrad und wurde bei Erfolgen ausgezeichnet. Aber das war nur fürs Protokoll. Der Alltag bestand aus Training vormittags, Training nachmittags und den Spielen am Wochenende. Im Prinzip haben wir nur Fußball gespielt.
Nach der Saison 1977/78 wurde Fritzsch in Ehren verabschiedet, sein Assistenztrainer Gerhard Prautzsch übernahm.
Prautzsch hat einen anderen Fußball spielen lassen, vorsichtiger und abwartender. Das lag uns einfach nicht so. Durch die acht, neun Jahre unter Fritzsch waren wir darauf geeicht, anzugreifen, nach vorne zu spielen. Anfangs hatten wir große Probleme damit. Als dann 1981 Peter Kotte, Matthias Müller und Gerd Weber aus der Mannschaft entfernt wurden, war das der Genickbruch für uns.
Müller, Kotte und Weber wurden auf dem Flughafen Schönefeld verhaftet, als die Nationalmannschaft nach Südamerika fliegen sollte. Weber soll seine Flucht geplant haben, die anderen beiden wurden als Mitwisser beschuldigt.
Eine merkwürdige Situation war das. Wir fuhren nach Südamerika und blieben dort drei Wochen, währenddessen wurden wir informiert, dass die drei nach unserer Rückkehr wieder spielen würden. Erst als wir wieder da waren, erfuhren wir, dass sie aus dem Klub ausgeschlossen worden waren und im Prinzip nie mehr spielen würden. Wir waren stark verunsichert, und das hat man uns auch auf dem Platz angemerkt. Es hat sicher zwei bis drei Jahre gedauert, bis wir das verkraftet hatten.
Fünf Jahre später setzte sich Frank Lippmann nach der denkwürdigen 3:7‑Niederlage bei Bayer 05 Uerdingen ab. Sowohl Weber als auch später Lippmann waren Ihre Zimmergenossen. Gerieten Sie da nicht in Erklärungsnot?
Ja, im Prinzip war ich immer dabei. Bei Weber wurde nicht bei mir nachgefragt. Bei Lippmann musste ich mich erklären. Aber ich hatte tatsächlich vorher nichts mitbekommen. Ich habe die ganze Nacht mit anderen Spielern auf dem Zimmer verbracht.
Die große Ära von Dynamo Dresden ging zu Ende. Als neuer Serienmeister stand der BFC Dynamo in den Startlöchern.
Wir sind 1978 das letzte Mal Meister geworden, danach wurde es schwierig. Die Berliner hatten eine gute Mannschaft, aber durch die Jahre haben wir immer wieder Punkte eingebüßt durch kuriose Entscheidungen. Nur so kann eine Mannschaft zehnmal hintereinander Meister werden. Wie es wirklich um die Kräfteverhältnisse bestellt war, sah man immer in den Pokalendspielen. Die wurden live im Fernsehen übertragen, vor 55 000 Zuschauern, da mussten sie es mit rechten Dingen zugehen lassen und haben auch immer verloren. Wenn der Schiedsrichter da einigermaßen korrekt pfeifen musste, dann waren sie unterlegen. Aber in die Liga sind merkwürdige Dinge passiert.
Können Sie sich an eine besonders krasse Fehlentscheidung erinnern?
Wir haben 1979 hier 1:2 verloren. Beim Stand von 1:1 geht Hans-Jürgen Riediger durch und steht etwa 15 Meter im Abseits. Das ganze Stadion hat gepfiffen, wir verloren das Spiel.
Hat der Fußball da noch Spaß gemacht?
Die ersten zwei Jahre habe ich das gar nicht so mitgekriegt. Irgendwann begriffen wir, dass wir gar nicht mehr Erster werden konnten. Da haben wir uns dann auf Platz zwei oder drei oder den Pokalsieg konzentriert. Wir wollten ja international spielen.
1986 beendeten Sie Ihre Karriere. Anschließend arbeiteten Sie im Nachwuchsbereich, beim DDR-Verband und schließlich lange Jahre beim DFB. Dann wurden Sie als erster ostdeutscher Trainer von einem Bundesligisten verpflichtet, von Werder Bremen als Nachfolger von Aad de Mos.
Es war ein Wagnis, eine Chance. Ich habe es auch nie bereut. Das war eine ganz wichtige Erfahrung für mich. Aber ich würde heute einiges anders machen. Inzwischen ist es ja auch üblich, dass man seinen Trainerstab mitbringt. Ich war damals alleine und bekam eigentlich ständig mitgeteilt, dass Otto Rehhagel das aber ganz anders gemacht habe.
Als Manager wirkte damals Willi Lemke, nicht gerade ein Fußballfachmann.
Prinzipiell ist es besser, wenn der Sportdirektor aus dem Fußball kommt. Aber Lemke hatte mir von vornherein gesagt, er mische sich nicht in sportliche Dinge ein, davon verstehe er nichts.
Es heißt, Sie hätten Ballack und Andrij Schewtschenko verpflichten wollen.
Es gab Interesse an den beiden. Schewtschenko war 21 und man sah schon, was das für ein Riese wird. Es ging es um 12 oder 13 Millionen Mark. Den Wagemut hatte man damals nicht. Mit Ballack war das im Prinzip das Gleiche. Der kam von Chemnitz, war weithin unbekannt und Werder zu teuer.
Was wurde aufgerufen?
Eine Million. Das hätte man sicherlich verhandeln können. Aber dann hat Otto Rehhagel zugeschlagen. Ich weiß aber nicht, was er bezahlt hat.
Hans-Jürgen Dörner, wenn Sie auf Ihre Karriere zurückblicken: Gibt es für Sie ein Spiel des Lebens, unvergesslich nach all den Jahren?
Es gibt viele Spiele, aber mein erstes Europapokalspiel war schon besonders. Wir haben gegen Leeds United gespielt und 0:1 verloren. Durch einen Handelfmeter, von mir verschuldet. Der Torwart war geschlagen und ich habe den Ball im Hechtsprung über die Latte gelenkt. Damals gab es keine Gelbe Karte, nur Elfmeter. Diese Atmosphäre in Leeds war unvergesslich. Und dann ist da natürlich Uerdingen.
Das Hinspiel gewonnen, im Rückspiel 3:1 geführt und am Ende 3:7 verloren.
Dafür gibt es keine Erklärung. Viele haben spontan gesagt, wir hätten das Spiel verkauft. Aber das haben wir nicht. Es gab viele widrige Umstände. Unser Stammtorhüter war verletzt, dann kriegten wir in der zweiten Hälfte zwei fragwürdige Elfmeter gegen uns, dann ging gar nichts mehr. Das kann sich ein Außenstehender nicht erklären.
Wenn man mit früheren DDR-Sportlern spricht, ist die Erfahrung sehr präsent, dass das Geleistete aus der Zeit vor der Wende im vereinigten Deutschland wenig gilt. Wie haben Sie das erlebt?
Ich habe das große Glück gehabt, dass der Übergang durch meine Tätigkeit beim DFB relativ nahtlos erfolgte. Aber es stimmt schon, wenn beispielsweise heute im Fernsehen über Fußball gesprochen wird, ist unter den Talkgästen so gut wie nie einer aus der ehemaligen DDR dabei. Das finde ich persönlich schade. Denn ich bin mir sicher, die hätten viel zu erzählen.