Heute wird Geoff Hurst 80 Jahre alt. Doch nicht nur sein berühmtes Tor zum 3:2 im WM-Finale von Wembley 1966 war irregulär, sondern alle drei. Sagt ein Lokaljournalist aus Mittelhessen, der mit seiner Super-8-Kamera das Endspiel filmte.
Dieser Text erschien erstmals im 11FREUNDE SPEZIAL „Tore“, erhältlich im 11FREUNDE-Shop.
Keine Sorge, dieser Text wird nicht vom legendären „Wembleytor“ handeln. Darüber ist alles und noch mehr gesagt und geschrieben worden. Und auch das 4:2, Geoff Hursts dritter Treffer, bei dem bereits zahlreiche begeisterte Zuschauer über den Platz rennen, soll nur kurz erwähnt werden. Denn hier geht es um Hursts erstes Tor zum 1:1 – und um einen Lokaljournalisten aus Mittelhessen, der bis heute auch diesen Treffer für irregulär hält.
Es ist in den sechziger Jahren alles andere als selbstverständlich, dass ein Provinzblatt wie der „Gießener Anzeiger“ bei einem großen Fußballturnier einen eigenen Berichterstatter vor Ort hat, der einen Exklusivbericht über das Finale schreibt. Aber diesmal, bei der WM im Mutterland, scheut die Zeitung keine Mühen. Das große Los zieht der 23-jährige Helmut Weber, der damals nicht mal als professioneller Journalist arbeitet, sondern Englisch und Sport auf Lehramt studiert. Antipathien gegen England hegt er nicht, im Gegenteil: Er liebt nicht nur die englische Sprache, sondern trägt sein Haar wie die Beat-Helden jener Jahre und verbringt regelmäßig seine Semesterferien im pulsierenden London. Dort verkehrt er im Dunstkreis von Musikern wie Harmony Grass, Sandie Shaw oder Chris Andrews und nimmt im berühmten Abbey Road Studio sogar selbst eine Single auf.
Rabenschwarzer Tag des Schiedsrichters
Zur WM reist er mit einer geliehenen 8‑mm-Kamera und macht Aufnahmen, die heute ein faszinierendes Zeitdokument sind. Zeitweise kann er sogar aus dem Innenraum filmen. Sowohl beim Viertelfinale gegen Uruguay als auch in der Vorschlussrunde gegen die Sowjetunion steht Weber wie die akkreditierten Fotografen genau hinter einem der Tore. Wenn Uwe Seeler im Spiel gegen die Südamerikaner nach einem deftigen Foul im Strafraum beinahe ins Kameraobjektiv segelt, erinnert das an alte 3D-Filme. Höhepunkt sind aber die Aufnahmen vom Halbfinale gegen die UdSSR, als sich Lew Jaschin zu dem hinter seinem Kasten postierten Amateurfilmer umdreht und freundlich grüßt.
Mit Kamera, Stift und Block besucht Weber am 30. Juli 1966 auch das Finale im Wembleystadion. Sechs Tage später, am 5. August 1966, veröffentlicht der „Gießener Anzeiger“ unter der Überschrift „England – The Greatest?“ Webers persönliche Eindrücke. Zum dritten englischen Treffer, dem Wembleytor, „sei nichts weiter gesagt“. Das erste und vierte englische Tor seziert er allerdings im Detail:
„Die Bildführung des englischen Fernsehens, die nur jeweils den Torraum einfing, zeigte leider nicht, was sich Schiedsrichter Dienst eigentlich geleistet hatte. Im Stadion selbst sah man natürlich alle Begleitumstände dieser beiden Tore. Das erste englische Tor fiel, als Schiedsrichter Dienst mit dem Rücken zum Torraum stehend auf Overath, der einen Freistoß verursacht hatte, einsprach, dadurch nicht nur Overath vom Spielen abhielt, sondern auch die Aufmerksamkeit der deutschen Abwehr, welche eine Verwarnung befürchtete, auf sich zog. Diese Ungeschicktheit des Schiedsrichters nutzte Moore verständlicherweise sofort aus, hob den Ball zu Hurst, der aus abseitsverdächtiger Position einköpfte. Das vierte englische Tor rundete den rabenschwarzen Tag von Schiedsrichter Dienst ab: Etwa zehn Sekunden, bevor das Tor fiel, hatte er in einer derart zweideutigen Weise auf die Uhr gesehen und dann durch Armwinken anzudeuten versucht, es sei noch weiterzuspielen, dass ein Teil der Zuschauer glaubte, das Spiel sei zu Ende. Etwa 15 bis 20 Schlachtenbummler durchbrachen die Polizeikette und rannten aufs Spielfeld. Sie hatten von der Seite her kommend bereits fast die Strafraumgrenze erreicht, als Hurst einschoss. Dienst hätte das Spiel natürlich sofort unterbrechen und die Zuschauer vom Platz beordern müssen, zumal diese in die Nähe des Balls rannten.“
Klar, gerade beim ersten Tor geht alles rasend schnell: Genau neun Sekunden liegen in der 18. Spielminute zwischen einem Foul von Wolfgang Overath an Bobby Moore und dem Kopfballtor, das Geoff Hurst nach dem fälligen Freistoß zum 1:1 erzielt. Natürlich durfte man auch damals einen Freistoß schnell ausführen, also ohne zu warten, dass der Schiedsrichter zum zweiten Mal pfeift. Aber die deutschen Spieler waren es gewohnt, dass sich der Referee die Ausführung eines Freistoßes in Tornähe zumindest anschaut und dass er nicht, dem Schützen den Rücken zukehrend, davonläuft und mit einem Akteur der verteidigenden Mannschaft diskutiert. Auch deshalb zeigt Torhüter Hans Tilkowski keine Reaktion und die deutschen Abwehrspieler erstarren beinahe im ungläubigen Staunen. Bei vielen Fernsehzuschauern bleibt zumindest eine vage Irritation.
Richtiger Hinweis trotz Spielverwechslung
Helmut Weber ist damals vermutlich der einzige Journalist, der diese Szene in Gänze kritisch bewertet. Seine Kollegen konzentrieren sich ganz auf das 3:2 und finden gelegentlich noch ein paar kritische Worte zum letzten Tor der Engländer. Wenn sie überhaupt über das 1:1 berichten, tun sie das fehlerhaft und vernachlässigen wichtige Fakten. Womit wir beim zumindest an diesem Tag reichlich indisponierten Rudi Michel wären, der das Finale für die ARD kommentiert und das Tor fälschlicherweise Roger Hunt zuspricht.
Noch bizarrer geht es in verschiedenen deutschsprachigen Büchern über das Turnier zu. Im von Friedebert Becker herausgegebenen WM-Buch des damals die Fußballpublizistik dominierenden Verlags Copress heißt es lapidar: „Hoch flog der Ball dem Elfmeterpunkt entgegen. Tilkowski und seine Vorderleute standen wie versteinert, Hurst schaltete dafür um so schneller.“ Dass es einen Grund für dieses Herumstehen gab, wird nicht weiter vertieft. In einem Konkurrenzprodukt, dem im Lingen Verlag erschienenen Buch vom Ernst Huberty, beging Höttges und nicht Overath „ein unnötiges Foul“. Dann segelte „Moores Freistoß in den deutschen Strafraum, wo Hurst – allerdings in abseitsverdächtiger Position – lauert.“ Trotz Spielerverwechslung wird hier immerhin die Abseitsfrage zaghaft angeschnitten.
Eine ganz andere Variante hat ein gemeinsam von Bertelsmann und dem Sport-Informations-Dienst verlegtes Buch zu bieten. Dort liest man, dass Wolfgang Overath ein Foul an Bobby Charlton (und nicht an Bobby Moore) beging. Der Freistoßschütze ist hier ebenfalls Bobby Charlton (und nicht Bobby Moore), der „den Ball hoch vors Tor gab, wo Hurst völlig ungedeckt auf etwa fünf Metern Entfernung zum 1:1 einköpfen konnte“. Dass es angeblich Bobby Charlton war, der Hurst per Freistoß den Ball servierte, taucht im Lauf der Zeit immer wieder in der Literatur auf, zuletzt in Hans Tilkowskis 2006 veröffentlichter Autobiografie. Ein Grund: Es wird im Sportjournalismus gerne abgeschrieben. Eine andere Erklärung könnte sein, dass für die Autoren ein Innenverteidiger wie Bobby Moore einfach nicht für solche Offensivaktionen prädestiniert schien.
Näher dran an der Wahrheit, wenn auch nicht komplett fehlerfrei, ist die Schilderung des deutsch-englischen Journalisten Harvey T. Rowe in der Fotodokumentation „Das Tor des Jahrhunderts“: „Dienst pfeift Freistoß. Während er noch Overath ermahnt, während die meisten deutschen Spieler glauben, das Spiel sei unterbrochen, legt Moore sich den Ball zurecht, schießt blitzschnell ohne Anlauf zu nehmen, hoch in den deutschen Strafraum. Hurst steht da – abseits? –, springt und jagt den Ball mit dem Kopf ins Tor, Tilkowski reagiert nicht. 1:1. Debatte auf der Pressetribüne: Durfte Dienst weiterspielen lassen, während er noch Overath ermahnte? Stand Hurst abseits?“
Der Kameramann der BBC? Zu langsam!
Geoff Hurst selbst beschreibt das Tor in seiner Autobiografie „1966 And All That“ als „a typical piece of West Ham opportunism, thesort of thing that Bobby (Moore), Martin (Peters, d. Red.) and I had worked on over the years under Ron Greenwood at Upton Park“. „Opportunism“ bedeutet in diesem Fall, die Fähigkeit, sich durch Cleverness in eine Position zu bringen, einen relativ einfachen Treffer zu erzielen. Äußerst raffiniert verhält sich Moore allemal, weil er sich zum einen nicht darum schert, dass der ihm den Rücken zukehrende Dienst noch auf Overath einredet, und weil er nur einen Schritt Anlauf nimmt (was, wie manche schreiben, den geübten Golfer erkennen lässt), um den Freistoß vors Tor zu schlagen, wo Hurst schon wartet. Zur Abseitsfrage kann man die Fernsehbilder der BBC leider nicht zur Beweisführung heranziehen, da der Kameramann viel zu langsam nach rechts schwenkt.
Auch Helmut Weber, der Lokaljournalist aus Gießen, wirft vor dem Tor seine 8‑mm-Kamera an. Er steht zu dem Zeitpunkt auf der Tribüne hinter dem englischen Tor, der Treffer fällt also auf der gegenüberliegenden Seite. Das Bild ist verschwommen. Außerdem wackelt die Kamera beim Freistoß und schwenkt beim Tor nach oben. Vielleicht hat Weber einen Stoß von der Seite bekommen. Er hält trotzdem an der These fest: Hurst schoss drei irreguläre Tore.
Nüchtern betrachtet trug aber die deutsche Elf die Hauptschuld an ihrer Endspielniederlage. Was ging sie auch schon nach zwölf Minuten in Führung? Man hätte jedenfalls wissen sollen, dass in allen WM-Endspielen seit 1950 stets die Mannschaft verlor, die das 1:0 erzielt hatte.