Im Sommer 2011 lag ihm ganz Dortmund zu Füßen. Danach wechselte Nuri Sahin zu Real Madrid und machte nur vier Ligaspiele. Seit drei Monaten steht der 24-Jährige beim FC Liverpool unter Vertrag. Dort, wo er schon immer spielen wollte.
Nuri Sahin ist wieder begehrt. Kürzlich bekam der 24-Jährige seine erste große Story in der „Sun“. Er erzählte da die Geschichte von seinem Debüt im August 2005, 80.000 Zuschauer im Westfalenstadion, er auf der zentralen defensiven Mittelfeldposition – und dann, wenige Stunden später, hockte er wieder im kleinen Internatszimmer. Danach erklärte er, was es heißt, ein Straßenfußballer zu sein und warum es wichtig ist, gegen Scheunentore zu schießen. In einem anderen Interview berichtete er vom Champions-League-Finale 2005, bei dem er auf der Tribüne des Atatürk-Olympiastadions saß. Die „Reds“ holten einen 0:3‑Rückstand gegen den AC Mailand auf und siegten im Elfmeterschießen. Der 16-jährige Sahin saß dort zwischen zahlreichen Liverpool-Fans, offener Mund, aufgerissene Augen. Er sagte: „Crazy game!“ Und dann: „Ich habe gemerkt, was der FC Liverpool den Leuten bedeutet.“ In Liverpool mögen sie so etwas. Junge Männer, die sich bekennen und die dem Traditionsklub anscheinend schon ewig verbunden sind.
„Ich hoffe, eines Tages in England zu spielen.“
Wobei das mit Träumen und Wünschen bei Fußballern immer so eine Sache ist. Manche Profis träumen nur allzu gerne von Spanien oder England, wenn sie ein paar gute Spiele gemacht haben und ihr Vertrag einen Ausstieg zulässt. Sie träumen und schwärmen dann in Interviews von ihrem Traumland und Traumverein. Nuri Sahin träumte allerdings von England, als er gerade eine knapp vierjährige Berg- und Talfahrt hinter sich hatte. Im Sommer 2008 sagte er: „Ich hoffe, eines Tages drei, vier Jahre in England zu spielen.“
Nuri Sahin war mit 16 Jahren und 335 Tagen der jüngste Bundesligadebütant, später wurde er der jüngste Bundesligatorschütze, er spielte eine Saison auf Leihbasis bei Feyenoord Rotterdam und schlug Angebote von Chelsea, Galatasaray, Manchester United und Arsenal aus. Er wurde von der Presse „Wunderknabe“ genannt und sein Vater prophezeite, dass er nur fünf Trainingseinheiten mit den Profis benötige, bis ihn der Trainer zum Stammspieler mache. Von Bert van Marwijk wurde er wie ein Sohn behandelt, von Arsene Wenger als bestes Talent in Europa bezeichnet und von Thomas Doll ausgemustert.
Comeback – mit Anfang 20
Nuri Sahin war da gerade 20 geworden. Und trotzdem wirkte der Junge aus Lüdenscheid in dem ganzen Wirbel seltsam abgeklärt. Einmal sagte er, dass er nicht mal bei seinem Debüt nervös gewesen sei. Später hieß es manchmal, er sei zu introvertiert. Man kannte die Story von den Wunderknaben und Supertalenten, die irgendwann im Nichts verschwanden, die Geschichten von Freddy Adu, Ibrahim Tanko, Marco Reich oder Berkant Göktan. Sahin kannte sie auch. Er atmete durch – und kam phänomenal zurück.
2011 wurde Sahin zum besten Spieler der Saison gewählt, 30 Spiele, sechs Tore, acht Vorlagen, Deutscher Meister. Jürgen Klopp sagte: „Ohne Nuri wären wir nicht Meister geworden.“ Für den BVB-Trainer war Sahin das, was der Fußballjargon „Verlängerter Arm“ nennt. Für die Fans war er die Konstante. Nicht so auffällig wie ein Mesut Özil oder ein Lionel Messi, doch er spielte effektiv, exakt und nahezu fehlerfrei. Eines Tages hielten die Anhänger ein Banner hoch, auf dem stand: „Lieber einer von Vielen bei den Königlichen als der König von Borussia?“ Doch was sollte nun noch kommen? Ein Champions-League-Triumph wie 1997? Wie damals, als Sahin als Neunjähriger den Finalsieg des BVB im Trikot von Stefan Reuter verfolgte? Unwahrscheinlich. Wer wollte es dem Jungen aus Lüdenscheid verdenken, dass er zu einem der weltbesten Fußballklubs wechselte. Vielleicht, nein, ganz sicher, würde er dort einer von Vielen sein. Doch er hätte gute Chancen, ein König zu werden. Ein König Europas.
Es kam also der Tag, als die „Marca“ mit der Sahin-Story aufmachte. Der BVB drohte seinen besten Mann zu verlieren und Hans-Joachim Watzke dementierte: „Wir wissen nichts davon.“ Sahin besaß zwar einen Vertrag bis 2013, doch dummerweise gab es in diesem Vertrag eine Ausstiegsklausel und so verließ er Dortmund nach zehn Jahren und unterschrieb bei Real Madrid. „Unter Mourinho spielen zu dürfen, ist wie ein Sechser im Lotto“, sagte er kurze Zeit später in der „Sport Bild“.
Doch Mourinho setzte Sahin nicht ein. Zunächst warfen den jungen Türken die alten Innenbandprobleme zurück, danach war die Mannschaft so eingespielt, dass es keinen Grund gab, Sahin aufzustellen. Zumal die Konkurrenz im Mittelfeld, offensiv und defensiv, erdrückend war, auf seinen Positionen spielten Sami Khedira, Xabi Alonso, Mesut Özil, Kaka, Lassana Diarra oder Esteban Granero. Sahin wirkte plötzlich, als er wieder fit war, wie ein Spieler aus der vierten oder fünften Reihe. Sein Debüt machte er am 12. Spieltag beim 7:1‑Sieg gegen CA Osasuna, Nach seiner Einwechslung in der 67. Minute durfte er einen Freistoß schießen. Cristiano Ronaldo machte Platz für ihn. Danach ging nicht mehr viel. Sahin hatte in der Liga drei weitere Kurzeinsätze. Am Ende war er Spanischer Meister. Irgendwie.
Bei Liverpool spielt Sahin nun auf Leihbasis, fünf Millionen Pfund haben die Engländer sich das kosten lassen. Dabei plant Jose Mourinho weiterhin mit ihm, denn sein Vertrag bei Real läuft bis 2016.
Das Geld und Liverpool
Nach seinem Wechsel musste Sahin ein paar Anfragen abwehren. Einige Journalisten unterstellten ihm, dass er nur des Geldes wegen an die Anfield Road gewechselt sei. Das kannte er schon aus Dortmund. Auch dieses Mal beteuerte er, dass Klubs um ihn buhlten, bei denen er dreimal so viel verdient hätte. Und er erzählte von Xabi Alonso, der zwischen 2004 und 2009 über 150 Spiele für Liverpool machte: „Als er hörte, dass ich nach Liverpool gehen könnte, riet er mir sofort: Mach es! Die Leute werden dich lieben!“ Und er erzählte von Brendan Rodgers, dem Trainer, der einer sein soll wie Jürgen Klopp. Und schließlich schwärmte er von der Mannschaft. Die sei wie Dortmund vor der Saison 2010/11, jung, wild, in Aufbruchstimmung. Neulich gab Sahin noch ein Interview für einen englischen Fernsehsender. Da sagte er: „Ich will Titel gewinnen.“ Auch das lieben sie in Liverpool – wenngleich sie wissen, dass sie weit davon entfernt sind.
Sie sind geduldig geworden an der Anfield. Beinahe buddhistisch ertrugen die Fans die vergangenen Jahre, in denen erst Rafael Benitez entlassen wurde, dann Xabi Alonso und Fernando Torres den Verein verließen. Liverpool pendelte sich zwischen dem sechsten und achten Platz ein. Die letzte Meisterschaft liegt 22 Jahre zurück. Momentan steht der FC Liverpool auf Platz 12. In der Europa League geht es am Donnerstag gegen Anschi Machatschkala. Seine Ex-Klubs Real Madrid und Borussia Dortmund spielen am Mittwoch in der Champions League gegeneinander. 80.000 Zuschauer, die ganze Welt schaut zu.
Sahin trägt die Nummer 4. Es läuft wieder gut für ihn. Nach Anlaufschwierigkeiten schoss er Ende September im Ligapokal gegen West Bromwich zwei Tore. Ein Fernschuss aus 25 Metern, ein Treffer in Mittelstürmermanier aus dem Fünfer. In der Liga spielt er seit drei Spielen auf der zentralen Mittelfeldposition. Beim 5:2 gegen Norwich City erzielte er sein erstes Tor in der Premier League. Zwei weitere Treffer bereitete er vor. Er spielte so, wie man es aus Dortmunder Zeiten kannte: Vielseitig, mit genauen Pässen und dribbelstark. Er ließ sich mal auf die Sechs zurückfallen, dann wieder auf die Flügel, er war überall. „The Offside“ schrieb danach: „Luis Suarez stahl ihm zwar mit seinem Hattrick die Show, doch eigentlich war Nuri Sahin der Gewinner des Spiels.“ Und nach der Story in der „Sun“ bekam die Zeitung einige Leserbriefe. In einem stand: „Ein brillanter Spieler!“ In einem anderen: „So lange er noch weiß, wie man ein Scheunentor trifft, ist er doch besser als der Rest.“