Redakteur Ron Ulrich begleitete den FCN ein halbes Jahr lang. Ende März stand der Club am Abgrund und er ohne Unterkunft da. Dann kam ein magischer Abend.
Die Spieler laufen in die Kabine, ihre Stollen klackern auf der Tartanbahn, die Rufe von der Tribüne sind nah. Weiter so, kommt, kommt, weiter so, nachlegen, Rausch-du-Schauspieler.
Es geht weiter. Chicco kommt etwas verspätet aus den Katakomben. Er hat sich gerade gesetzt, da spielt Markus Feulner, der Mann, dem sie Nadeln in den Bauch gesetzt haben, der mit einer Bauchmuskelzerrung aufläuft, Feulner spielt einen öffnenden Pass von außen passgenau zu Josip Drmic. Der tippt den Ball gegen die Laufrichtung des VfB-Keepers – 2:0. Drmic springt über die Bande, schreit, streckt die Arme und verschränkt sie, als er zum Stehen kommt. Ein Jubel der Lässigkeits-Güteklasse Eric Cantona. Aus dem Knäuel der Umarmungen recken Fans den Zeigefinger Richtung Drmic. Chicco grinst und gibt dann den Dirigenten. Kurve und Spieler singen: „FCN. Liebe. Glaube. Leidenschaft.“
Die Stimmung ist gelöst, der erste Sieg nach vier Niederlagen. Konfetti. Die Stimmen sind heller als sonst.
Wenn fünfzigtausend aufgeregte, emotionalisierte Menschen um einen herum sind, dann wirken Fliehkräfte. Man kann sie nicht greifen. Es geht direkt ins Blut. Sie können einen pushen oder erdrücken, den Hals zuschnüren und dann, wenn sich ihr Druck verringert, ein Gefühl der Befreiung durch den Körper strömen lassen. Vom Bauch in den Brustkorb, durch die Blutbahn in die Pulsadern. A rush of blood to the head.
Der letzte Sieg vor dem Abstieg
Der Sieg gegen den VfB Stuttgart war einer dieser Abende, bei denen die Energie der Zuschauermenge bis auf den Rasen wirkte. Dieses Meer an freudigen Gesichtern, erhellt durch das Flutlicht, diese Gesänge aus allen Ecken, allein die Stimmlage von den Umstehenden, Ordnern, Fans, Betreuern. Josip Drmics 2:0 gegen Stuttgart war plötzlich, unkalkuliert – mitten hinein in die große Nürnberger Depression. Es war ein kollektiver Urschrei.
Videocurvanord
Hätte mir an diesem Abend Ende März jemand gesagt, dass der Club alle verbliebenen sieben Ligaspiele verliert, ich hätte es nicht geglaubt. Ich hätte es noch weniger geglaubt, dass womöglich nur ein Sieg aus diesen sieben Spielen zum Klassenerhalt gereicht hätte. Doch es war wie das letzte große gemeinsame Konzert einer Band vor dem Absturz.
Im Fußball, so denkt man, ist alles schon einmal dagewesen. Irre Aufholjagden, unglaubliche Tore, kuriose Paraden. Doch das Big Business rund ums Spiel will die Unberechenbarkeit zähmen. Unzählige Kameras fangen jede Aktion auf dem Platz ein, Zeitlupen sezieren das Geschehen. Wissenschaftler dekodieren die Matrix des Spiels, es gibt so genannte Heatmaps von den Bewegungsabläufen der Spieler, sie sehen aus wie Ultraschallbilder von Schwangeren. Es gibt Statistiken über Flanken, Kopfballduelle, Einwürfe. Und doch erscheinen immer wieder Momente, Spiele und Situationen, die selbst langjährige Beobachter aus dem Nichts treffen. So wie beim 1:7 von Brasilien gegen Deutschland. Die Hinrunde des BVB. Der FCN an sich.
Die Eigendynamik
Während des halben Jahres mit dem FCN habe ich aus Gesprächen und Beobachtungen gelernt, wie sich aus vielen Puzzleteilen, den Befindlichkeiten einer Mannschaft, eines Trainers, der Fans eine unkontrollierbare Eigendynamik entwickeln kann. Zum Positiven wie beim 2:0 gegen Stuttgart, zum Negativen in den restlichen Spielen. Fußball ist immer wieder einfach nur unberechenbar. Unglaublich schön, unglaublich brutal.
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Die komplette Reportage über sechs Monate mit dem FCN findest du hier: www.11freunde.de/fcn