Redakteur Ron Ulrich begleitete den FCN ein halbes Jahr lang. Ende März stand der Club am Abgrund und er ohne Unterkunft da. Dann kam ein magischer Abend.
Ende März 2014. Seit bereits knapp drei Monaten begleitete ich den 1. FC Nürnberg bei dem Versuch, nach einer verkorksten Hinserie doch noch irgendwie die Klasse zu halten. Der Start in die Rückrunde war zwar gelungen, doch nach vielen Verletzungen und Niederlagen gegen direkte Konkurrenten war die Mannschaft wieder einmal: am Abgrund.
Ich kämpfte mich wie an vielen Wochenenden zuvor früh morgens in Berlin durch die vom Nachtleben ausgespuckten mehr oder weniger Lebewesen und setzte mich in den Zug. Nach fünf Stunden Zugfahrt sah ich eine verheerende Heimniederlage des Clubs gegen Eintracht Frankfurt. 2:5.
Absagen aus Fischbach und Altdorf
Tags darauf saß ich im Tennisheim am Vereinsgelände und war auf der Suche nach einem Hotelzimmer. Ich bekam Absagen aus Fischbach, Altdorf und Eltersdorf. Bis dato wusste ich gar nicht, dass solche Orte überhaupt existieren. Ich hatte also keine Unterkunft für die kommenden Tage und wollte sie daher vor Ort suchen. In Nürnberg aber fand gerade eine Messe für Fensterbau statt. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass dadurch im gesamten Stadtgebiet und Speckgürtel sämtliche Hotels ausgebucht sein würden. Wegen einer Fensterbau-Messe! Für die wenigen verfügbaren Zimmer wurden Preise über tausend Euro für drei Nächte aufgerufen, was mich zu der Aussage verleitete, dass ich das Hotel nicht kaufen, sondern lediglich darin übernachten wolle.
Nach gut und gerne siebzehn vergeblichen Telefonaten trudelten weitere Absagen der Spieler für etwaige Gespräche ein. Es passte zu diesem Tag, dass auch unser Fotograf wegen einer Grippe absagte. Die weiteren Nachrichten beschränkten sich auf Anrufe aus Berlin von Freundin und Kollegen, die in einem teils genervten und teils verärgerten Unterton die Frage andeuteten, die ich mir auch langsam stellte: Was zur Hölle willst du da in Nürnberg?
Fanbotschaft am Spielerparkplatz
Dann kam der Mittwoch und alles änderte sich. Ich bekam eine Übernachtungsmöglichkeit – danke an dieser Stelle an FCN-Fan Johannes, der mich etwas außerhalb von Nürnberg auf seiner Couch schlafen ließ. Das Spiel gegen den VfB Stuttgart war ein „Sechs-Punkte-Spiel“. „Heute geht es für den Club um alles“, stand auf den Zeitungsständern der Stadt. Es wurde ein Flutlichtspiel mit einer betörenden Atmosphäre. Das waren einige meiner Notizen des Abends:
Kurz vor dem Anpfiff versinkt die Nürnberger Fankurve in einem Fahnenmeer. „Bringt unsere Augen zum Leuchten“, steht auf einem Transparent. Mehrere Doppelhalter zeigen Augenumrisse hinter einer transparenten Folie. Dahinter zünden die Fans Bengalos, ein in der Tat einziges, rotes Leuchten. Der Stadionsprecher ermahnt per Mikrofon, dass das Abbrennen von Pyrotechnik verboten sei.
Rauch in der Luft, Leuchten des Flutlichts, kehlige Rufe. Ein Amalgam aus Anspannung und Trotz. Der Wind weht kalt. Verbeek trägt erstmals Trainingsanzug.
Dann kommt Chicco, der Zeugwart, die gute Seele des Vereins. Im Flutlicht glänzen seine Bartstoppeln silbern, er ist braungebrannt. Er raunt ein Ergebnis, hält die Handfläche vor den Mund, als verrate er das Ende eines spannenden Films. 2:1, so lautet sein Tipp. Er, der Helmut Schmidt des FCN, der stundenlang reden kann, wenn ihn keiner stoppt, er verstummt mit dem Anpfiff. Er reibt die Hände vors Gesicht, beißt in einem Tempo auf sein Kaugummi, dass selbst Alex Ferguson neidisch werden würde. Er pfeift, aber die Spieler auf dem Platz hören ihn nicht, er schweigt, er springt auf, so schnell, dass die Trainingshose erst nicht mit hoch kommt. Bei einem holprigen Rückpass von Martin Angha stöhnt die Tribüne auf, Kapitän Raphael Schäfer hebt beschwichtigend die Arme. Stuttgart trifft mit einem Distanzschuss die Latte, aber der FCN kommt von Minute zu Minute besser ins Spiel.
Chicco watschelt in der 37. Minute gen Kabine, um neue Trikots vorzubereiten, bei jedem Schritt schaut er sich um aufs Spielfeld. Kurz vor der Pause setzt Josip Drmic zum Sprint an, überläuft seinen Gegenspieler. Die verletzten Spieler erheben sich, den Blick starr auf Drmic, sie tasten sich zwei Schritte nach vorne. Die Zuschauer auf der Tribüne stehen ebenfalls auf. Das Bein vom verletzten Stürmer Ginczek auf der Bank zuckt automatisch mit, so wie 30 Meter entfernt jenes von Drmic. Er schiebt den Ball ins lange Eck, Stuttgarts Torwart Sven Ulreich kommt nicht heran. 1:0. Aufschrei. Jubel. Halbzeit.