Wieder geht dem HSV auf der Zielgeraden der Saison die Puste aus. Zum vierten Mal seit Restart kassieren die Rothosen ein Gegentor in der Nachspielzeit – und verlieren das vorentscheidende Spiel um die Relegation in Heidenheim. Es könnte der Beginn einer neue Ära beim ehemaligen Urgestein sein: der des Zweitliga-Dinos?
Dass Hoffmann nicht dem Typus „Primus inter Pares“ entspricht, war seit langem bekannt. Dass schon in der vergangenen Saison etliche Spieler beklagten, sie wüssten gar nicht, wer dieser Mann da an der Spitze des Klubs sei, der da immer wieder in den Medien auftrete, aber noch nie bei den Profis vorbeigeschaut hätte. Geschenkt! Doch auch nach Hoffmanns Abgang hat nach außen hin niemand diese Leerstelle gefüllt. Aufsichtsratschef und Vereinspräsident Marcell Jansen, den sich viele als neuen starken Mann erhofft hatten, weil er mit seinem Know How sinnvolle Impulse im Profibereich setzen kann, bleibt nahezu unsichtbar. Alphatier Jonas Boldt, der als Sportvorstand für die Architektur des aktuellen HSV-Teams verantwortlich zeichnet, wirkt phlegmatisch und ob der nachlassenden Ergebnisse ratlos. Fast als beschäftige er – der hochgelobte Ex-Manager von Bayer Leverkusen – sich längst mit den Herausforderungen, die den HSV nach der Rückkehr in die erste Liga erwarten. Als sei der Zweitliga-Alltag nur eine lästige Pflicht, die es zu erfüllen gilt – und dann ab in die glorreiche Zukunft in Liga eins. Zurück in den Jurassic Park. Die alte Heimat.
Pustekuchen. Die nackten Zahlen seit dem Restart deuten auf eine komplett andere Realität hin. Von acht Spielen hat der HSV nur zwei gewonnen, vier Mal fing der Klub seither in der Nachspielzeit ein Gegentor. Es ist unbestreitbar, dass die Mannschaft aus der Corona-Pause mit konditionellen Schwächen zurückkehrte, die nie kompensiert werden konnten. Denn regelmäßig erlebt das Team ab der 70. Minute einen Leistungsabfall, der einem Aufstiegskandidaten nicht würdig ist. Und auf dem Rasen fehlt es – wie schon in der vergangenen Spielzeit – an Leitfiguren, die den absoluten Willen ausstrahlen, an dieser Situation etwas zu ändern: Heißsporn Rick Van Drongelen ist zwar stets für ein Verbalscharmützel mit dem Gegner gut, als Leader im fragilen Defensivzentrum fehlt ihm aber oft die Power, um in entscheidenden Momenten Gegentreffer zu vereiteln. Oldie Aaron Hunt verfügt nicht über das Naturell, eine schlingernde Mannschaft in der Crunchtime aufzurütteln. Martin Harnik im Sturmzentrum, noch so ein erfahrener Bundesligaspieler, hat seine besten Jahre hinter sich. Die Leistungen von Adrian Fein und Sonny Kittel, die sich noch zu Saisonbeginn anschickten, die Stars der Zukunft zu werden, stagnieren hoffnunglos. Es spricht Bände, dass der konstanteste Spieler im Kader des HSV in diesen schwierigen Wochen Tim Leibold ist – der linke Verteidiger.
Bei so wenig Charisma auf dem Rasen und in der Führungsetage kommt Dieter Hecking die undankbare Aufgabe zu, der Krise ein Gesicht zu geben. Man mag sich kaum vorstellen, was dem Coach, der vor Kurzem mit Borussia Mönchengladbach noch international mitmischte, nach der Last-Minute-Niederlage beim direkten Konkurrenten 1. FC Heidenheim durch den Kopf ging. Auch seine Karriere ist durch das Engagement an der Elbe beschädigt. Entsprechend ratlos klang sein Statement nach Abpfiff: „Es scheint so zu sein, dass der Fußball-Gott im Moment nicht auf unserer Seite ist.“ Doch die Gründe für die Niederlage waren rein irdisch. Wieder war es seinen Spielern nicht gelungen, eine Führung über die Zeit zu bringen. Doch weder ein fanatischer Anhang auf der Ostalb, noch gravierende Fehlentscheidungen des Schiedsrichters konnten als Ausrede dienen, dass Heckings Mannschaft schlichtweg fehlte, was sein Heidenheimer Kollege, Frank Schmidt, seit langem als zentrales Werkzeug für die konstant steigende Erfolgskurve bezeichnet: „Mentalität ist der innere Zusammenhalt der Mannschaft, das ist Resilienz, die Widerstandsfähigkeit.“ Ein Typ wie Kapitän Marc Schnatterer etwa, der seit 2008 im Verein ist, bei dem der Trainer und alle Mitspieler wissen: Der lässt mich niemals hängen! Und der diese Eigenschaft auf alle anderen ausstrahlt.
Beim HSV sucht man vergebens nach Typen wie Schnatterer. Auch in dieser Saison entwickelte sich am Volkspark kein echter Korpsgeist im Kader. Kein Wir-Gefühl, das so stark war, dass der HSV die zweite Liga nicht nur als Übergangsstation verstand, sondern als herausfordernden Misstand, den es um jeden Preis zu beheben gilt. Nun muss der Klub am letzten Spieltag auf die Schützenhilfe von Arminia Bielefeld hoffen, die die Woche über mit den minutiösen Planungen der Aufstiegsfeier nach Corona-Modalitäten verbringen wird. Bielefeld muss Heidenheim Punkte abluchsen, damit die Hamburger überhaupt noch theoretische Chancen auf den Relegationsrang haben. Zumals es eher fraglich ist, dass der HSV in der gegenwärtigen Verfassung überhaupt gegen den SV Sandhausen gewinnen kann – noch so ein Against-All-Odds-Team, das sich durch seine Widerstandsfähigkeit im Profigeschäft etabliert hat.
Es sieht alles nicht gut aus. Den Hamburger Sportverein drücken aktuell 91 Millionen Euro Verbindlichkeiten, im vergangenen Jahr erwirtschaftete der Klub bedingt durch den Abstieg ein Minus von acht Millionen Euro. Sollte am kommenden Wochenende nicht noch ein Wunder geschehen, ist der stolze Dino endgültig in der Tristesse der zweiten Liga angekommen. Die komplizierte Finanzlage wird sich weiter verschärfen und damit die Wahrscheinlichkeit, dass der Verein, der sich über Jahrzehnte als Urgestein der Belle Étage des deutschen Fußballs feierte, eine neues Kapitel in seiner Geschichte aufschlagen muss: Die Ära als veritabler Zweitligist.