Thees Uhlmann, am 16. Juli war in Ihrem Blog zu lesen: „Und Fußball läuft jetzt auch wieder.“ Haben Sie dem Saisonstart entgegengefiebert?
Thees Uhlmann: Es ist so, dass der Fußball den Leuten eine Struktur der Woche gibt. Das Gehirn weiß, dass es sich ab Freitagabend endlich wieder mit Sachen beschäftigen kann, die Spaß bringen. Ergo habe ich mich schon sehr gefreut auf den Saisonstart. Wobei, das erste Spiel war nervlich dann schon wieder so anstrengend, da denkt man sich: Oh Gott, neulich noch frei und jetzt das hier!
Sie sind bekannt dafür, zum FC St. Pauli zu halten. Der Kiezclub, die erste Jugendliebe. Dabei stammen Sie aus Hemmoor, einer kleinen Stadt im Landkreis Cuxhaven, Niedersachsen.
Thees Uhlmann: Eigentlich ist es ja dann so, dass man Fan wird vom Lokalverein. Da, wo man herkommt. Bei mir war das nicht so, weil ich in Hemmoor aufwuchs und sich meine Eltern null für Fußball interessiert haben. Ein legendärer Satz meines Vaters lautete: „Mein Lieblingsergebnis ist 1:1, da braucht sich keiner zu ärgern.“ Das ist mein familiärer Background. Deshalb habe ich mir meinen Verein nicht aus geographischen Stücken gesucht, sondern mit kulturellem Antrieb.
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Der FC St. Pauli als kulturelles Faszinosum mit politischer Botschaft?
Thees Uhlmann: Genau. Weil es, auch wenn das vielleicht heute lächerlich klingt, ein riesiges Vakuum gab damals, und der FC St. Pauli und seine Fanszene haben dieses Vakuum gefüllt. Ich fand es ganz instinktiv sehr faszinierend, dass so eine kleine Sache so eine große Strahlkraft haben kann. Man braucht ja nicht mehr darüber diskutieren, dass der FC St. Pauli einiges im deutschen Fußball bewegt hat.
Wie haben die fußballfremden Eltern die plötzliche Sympathie für einen Fußballklub, noch dazu den FC St. Pauli, begleitet?
Thees Uhlmann: Die fanden das einfach okay, vielleicht ein bisschen skurril. Als mein Bruder sein Abitur geschafft hatte, sind wir sehr schick im Restaurant der Astra-Brauerei essen gegangen. Ich wollte am nächsten Tag ans Millerntor zum Spiel. Also hat meine Mutter den Ober gefragt: „Mein Sohn möchte morgen zum Fußball. Ist es da denn gefährlich?“ Und der Ober dann: „Nee, das geht schon in Ordnung. Da passen die Leute aufeinander auf.“
Von Ihnen stammt der Satz: „Nur Musik und St. Pauli sind die einzigen Konstanten, die einen begleitet haben und begleiten.“ Erinnern Sie sich an den frustrierendsten Moment in Begleitung des FC St. Pauli?
Thees Uhlmann: Der frustrierendste Moment, hmm … (überlegt).
Es gab wahrscheinlich nicht eben wenige.
Thees Uhlmann: Das ist richtig (lacht). Die Zeit in der dritten Liga war wahnsinnig frustrierend. Das war Rumpelfußball, da hat das ganze Stadion kollektiv gestöhnt. Aber das ist natürlich egal, sowas gehört dazu. Genau wie es keine Rolle spielen sollte, ob die Person, die man liebt, hübsch oder hässlich ist, sollte man seinem Verein auch in diesen Zeiten die Treue halten. Deshalb habe ich meinen Song für den FC St. Pauli ja auch zu Drittligazeiten geschrieben.
Ihr Song „Das hier ist Fußball“ wurde eine Ode an und auf den Verein. Sehr getragen, fast pathetisch. Eigentlich nur als Beitrag für einem Übersteiger-Sampler gedacht, läuft das Lied heute vor jedem Spiel am Millerntor und die Kurve singt mit.
Thees Uhlmann: Ich habe nicht damit gerechnet, dass dieser kleine, leise Song im Stadion gespielt wird. Ich wollte damals einfach mal was machen zum FC St. Pauli, aber eben keine Partyhymne und keinen Jubelsong. Ich war dann schon lange über Deadline für den Sampler, habe mich hingesetzt und losgeschrieben. Der Song sollte ausdrücken, wie anstrengend es ist, FC St. Pauli-Fan zu sein.
Sie besingen, es könne kein Happy End geben. Weil es der FC St. Pauli niemals unter die ganz Großen in Fußballdeutschland schaffen wird?
Thees Uhlmann: Eher, weil mit ziemlicher Sicherheit auf jeden Aufstieg ein Abstieg und auf jede Phase finanzieller Solidität wieder ein dramatischer Engpässe folgt. Zu der Zeit verhielt es sich schlichtweg so, dass der Verein kaputt war, sportlich und auch finanziell. Meine Überlegung war: Was wäre, wenn etwas, das vielen Leuten so viel bedeutet, einfach aufhört zu existieren?
Sie begleiten den Klub, das wird deutlich, eher als Konstrukt, als Idee des Anderen – und damit losgelöst vom sportlichen Erfolg im wöchentlichen Rhythmus.
Thees Uhlmann: Der FC St. Pauli bietet naturgemäß eine emotionale Fläche an, die extremer ist als zum Beispiel bei Bayer Leverkusen. Dritte Liga, Chaos, Holger Stanislawski. Da gab und gibt es ganz, ganz viel. Ich sage immer noch: Der FC St. Pauli ist anders als andere Vereine.
Auch am Hamburger Millerntor hat die Kommerzialisierung in großem Stil Einzug gehalten. Es gibt Logen, die Haupttribüne bleibt nach der Pause verwaist, verdiente Spieler wie Marcel Eger und Florian Lechner müssen gehen.
Thees Uhlmann: Das Alleinstellungsmerkmal hat sich trotzdem nicht erschöpft. Weil Fußballvereine immer auch eine gesellschaftliche Funktion haben. Natürlich würde ich lügen, wenn ich behaupte, dass mir diese Dynamik beim FC St. Pauli nicht manchmal auf den Trichter geht. Aber der FC St. Pauli funktioniert nun mal wie die Grünen.
Soll heißen: Er ist in der breiten Mitte der Gesellschaft angekommen?
Thees Uhlmann: Die Grünen haben sich 1980 gegründet und alle dachten, das seien nur Verrückte. Damals hatten sie mit viel Not vielleicht fünf Prozent. Inzwischen ist es so, dass die Leute sagen: „Ey, ich habe keinen Bock darauf, total verstrahlte Äpfel zu essen, ich habe kein Bock darauf, Geld für ganz viel CO2 zu verpulvern.“ Es ist Konsens geworden. Aber deswegen muss es nicht gleich schlecht sein.
Man müsste das Image des FC St. Pauli also neu bewerten?
Thees Uhlmann: Natürlich gibt es bei dieser Entwicklung Reibungsverluste. Das ist mir auch klar. Aber solange der Totenkopf ein Symbol bleibt, bleibt auch der Verein bedeutsam. Warum zieht sich jemand in Leipzig so einen Pullover an? Weil er etwas nach außen tragen möchte, weil er sich positionieren will. Mein kleiner Bruder kommt aus Sachsen und sagt: Wenn du bei uns mit einem Pauli-Pullover in die Disko gehst, vergehen maximal zehn Sekunden, ehe dir jemand auf die Schnauze haut. Solange das so ist, gibt es einen Daseinsgrund für den besonderen Ruf des Vereins.
Sie haben im SPIEGEL geschrieben, der FC St. Pauli müsse endlich „raus aus der Charmefalle. Das Kultige (…) ist so stark überbetont, dass es an der Zeit scheint, das Normale zu betonen.“
Thees Uhlmann: Der FC St. Pauli hat viele Trends gesetzt, die heute normal sind. Die Stadionordnung zum Beispiel. Wenn jemand „Fotze“ ruft, kann man ihn entfernen. Ich bin großer Fan von political correctness, und da ist der FC St. Pauli Vorreiter gewesen – und noch immer eine gute Adresse. Und jetzt? Jetzt hat der Verein eine echte Kita im Stadion. Dadurch wird die Welt nicht verändert, klar. Aber ich finde das trotzdem gut und bemerkenswert.
Sie haben einige Jahre auf der Reeperbahn gewohnt. Bekommt man so ein anderes Gefühl für den Stadtteil und dafür, was der Verein für das Viertel bedeutet? Kurz: Ist der FC St. Pauli noch ein Stadtteilverein?
Thees Uhlmann: Der Verein ist noch immer der Klebstoff dieses Stadtteils. Ich habe alte Menschen mit geringem Einkommen kennengelernt, die noch immer ins Stadion zuckeln. Die Identifikation wurde bewahrt. Auf der einen Seite fließt die Elbe, auf der anderen Seite steht das Millerntor. Das sind die beiden Eckpfeiler des Viertels.
Könnte es irgendwann mal einen Punkt geben, wo Sie sagen: Nein, jetzt kann ich mich nicht mehr mit dem Verein identifizieren, weil er sich in diese Richtung entwickelt oder jene Grenze überschritten hat?
Thees Uhlmann: Es gibt kein Szenario in meinem Kopf, wo das passieren wird. Es wird nicht passieren, dass der Klub noch eine Loge an Susi’s Showbar vermietet. Natürlich ist es deppig, da überhaupt eine Stripbar reinzubauen. Aber interessanter ist doch der Diskurs, der infolgedessen entstanden ist! Dass das nicht einfach geschluckt oder als kultig abgefeiert wird von den Fans. Eben nicht: Haha, geil, lustig, Reeperbahn auch im Stadion und dazu noch viel Geld! Nein. Stattdessen kommt eine Gruppe, die sagt: Das ist falsch, das läuft so nicht.
Der Vorwurf vom Eventpublikum …
Thees Uhlmann: …ist allein schon deshalb Schwachsinn, weil natürlich jeder das Recht hat, zum FC St. Pauli zu gehen. Die Ko-Existenz, die so entsteht, ist interessant. Von der Werbeloge über die Altfans bis zu den hartpolitisierten Ultras. Dafür, dass da eine derartige Breite der Gesellschaft zusammenkommt, ist die Kommunikation noch immer ziemlich gut.
Holger Stanislawski und André Trulsen sind weg, ein neue Ära beginnt, vielleicht. Hat Sie der Verlust der beiden Urgesteine geschmerzt?
Thees Uhlmann: Aus sportlicher Sicht ist mir der Verlust total egal. Wichtig war mir dabei nur die Pressekonferenz, auf der Holger Stanislawski seinen Abschied verkündet hat, und zwar mit den Worten: „Ich habe das 18 Jahre gemacht. Ich kann nicht mehr.“
Ein bewegender Moment?
Thees Uhlmann: Ein seltener Moment! Wo gibt es in der Gesellschaft noch einen Raum, wo sich ein gestandener Mann hinsetzt und bekennt: Ich liebe das hier über alles, aber ich werde immer dünner und bin am Ende meiner Kräfte. I love you all, aber ich muss jetzt gehen. Das war für mich ein Moment von beispielloser Größe, Ehrlichkeit und romantischer Schönheit! Als ich das gesehen habe, war ich ganz, ganz stolz.
Ein seltener Moment, ein emotionaler Moment. Immer wieder schafft es der Fußball, uns zu rühren. Er provoziert Wutausbrüche und Euphorie. Dabei sollte man meinen, schon alles gesehen zu haben.
Thees Uhlmann: Fußball ist die Konzentration des Lebens auf 90 Minuten. Darüber haben Wissenschaftler wahrscheinlich schon ganze Bücher geschrieben. Das Leben ist so wahnsinnig normal, wir haben alle nicht viel Geld, es passieren viele schlechte Sachen und manchmal auch ein paar gute Dinge, man muss einkaufen, Rechnungen bezahlen, beruflich weg – aber in den 90 Fußballminuten ist das alles egal und alles möglich. Beim Fußball liefert man sich mit dem kompletten Geist einer Sache aus, von der man das Ende noch nicht kennt. Und wenn es gut läuft, wird man sich so sehr freuen, dass man es nicht mehr vergisst.
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Thees Uhlmann ist die Stimme der Band „Tomte“ und Mitbegründer vom Hamburger Label Grand Hotel van Cleef. Am 26. August 2011 erschien sein erstes Solo-Album. Als Fahrt durch Herzland erzählt die Platte auch vom Pierre-Littbarski-Poster über dem Bett. Uhlmanns eigene Fußballkarriere führte nicht zu Weltruhm: In der Schule immer als Letzter gewählt, durfte er für den TSV Eiche Warstade nur für Ecken auf das Feld. Mit Masse und Kraft sollte die „menschgewordene Brechstange“ (O‑Ton) den Ball ins Tor treiben. Seit 1987 hängen die Stollenschuhe am Nagel: „Es war besser so für alle Beteiligten.“ Thees Uhlmann schreibt eine Kolumne für das Fanzine „Übersteiger“ und pendelt zwischen Hamburg und Berlin.