In der vergangenen Saison schaffte es ein Team ins Champions-League-Viertelfinale, mit dem wirklich keiner gerechnet hatte: Atalanta Bergamo. Mittendrin: Ex-Dorfkicker Robin Gosens. Wie fühlt es sich an, in Zweikämpfe gegen Neymar zu müssen? Und was geht im Kopf vor, wenn der Traum vom Halbfinale in wenigen Sekunden platzt? Der Nationalspieler über die bitterste Niederlage seiner Karriere.
In den ersten 45 Minuten lief alles für uns. Neymar ließ zwei Großchancen aus, wir kamen immer besser ins Spiel, und in der 26. Minute schoss uns Mario Pasalic, unsere Nummer 88, in Führung. Wieder so ein Moment, der für immer bleiben wird. Wie wir ausgerastet sind, wie einfach alles passte. Das war einfach nur geil. In der Halbzeit war der Trainer voll des Lobes: „Jungs, ihr habt das großartig gemacht! Unser Plan geht auf. Diese zwei Chancen, die Neymar da liegenlässt … Heute ist so ein Tag. Glaubt an euch!“ Auch ich war mir ganz sicher: Verdammt noch mal, hier geht heute wirklich was! Gasperini sagte allerdings noch etwas: „Wir dürfen auf gar keinen Fall aufhören, Fußball zu spielen. Macht genauso weiter, solange die Kräfte reichen. Dann bringen wir das Ding nach Hause!“
Das hat in seiner und meiner Vorstellung wohl besser funktioniert als in der Realität. Nach der Pause bekamen wir kaum noch Zugriff und liefen zunehmend hinterher. Wir schafften es einfach nicht mehr, unser eigenes Spiel aufzuziehen. Irgendwann ging uns der Sprit aus. Ausgerechnet jetzt, im größten Spiel unseres Lebens. Die ersten 15 Minuten in Hälfte zwei waren noch okay, da hatten wir noch kleinere Ballstafetten. Doch ab der 60. Minute wurde es immer weniger, wir waren nur noch am Verteidigen, kamen gar nicht mehr richtig in die Zweikämpfe. Daran merkt man meistens, dass man an Boden verliert: Wenn man den letzten Schritt im Eins-gegen-eins nicht mehr gehen kann. Ich brauche diese Zweikämpfe, um mich zu pushen. Vielleicht hätten wir mit unseren Fans im Rücken die fehlenden fünf Prozent wettmachen können. Sie hätten uns nach vorne gebrüllt, uns eine zweite oder dritte Lunge verschafft. Aber es ist müßig darüber zu diskutieren, schließlich hatten alle Teams mit diesem Handicap zu kämpfen.
„Es war fast so etwas wie ein Gnadenstoß“
Zu allem Überfluss hatten wir in der 82. Minute schon alle Wechsel verbraucht und somit keine frische Kraft mehr für die Verlängerung. Denn man musste ja, auch aufgrund des Spielverlaufs, damit rechnen, dass wir uns vielleicht noch ein Gegentor fangen und in die Verlängerung müssen. Klar, da hätten wir dann noch einmal tauschen können, mit fünf neuen Spielern machte sich der Verlust des Rhythmus bemerkbar. Im Nachhinein hätten wir vielleicht länger mit der ersten 11 zocken sollen, weil es ja noch 1:0 für uns stand. Aber: hätte hätte Fahrradkette. Zudem bin ich auch nicht der Trainer, und der Trainer war nun mal derjenige, der uns überhaupt erst nach Lissabon gebracht hatte. Ich möchte also bitte nirgendwo lesen: „Gosens wirft Gasperini Ahnungslosigkeit vor.“ Danke.
Jedenfalls wurde auch ich ausgewechselt, acht Minuten vor Schluss. Ich hätte die letzten Sequenzen zwar noch zu Ende gespielt, war aber nicht mehr in der Lage, noch einmal alles zu geben. Mein Limit war überschritten. Und dann lief die letzte, wirklich allerletzte Minute der regulären Spielzeit. Neymar kam an den Ball, spielte einen krummen Pass in die Mitte, fand Kollege Marquinhos und es stand 1:1. Ein Moment der Fassungslosigkeit. Als hätte ich auf dem Operationstisch gelegen, und der Chirurg hätte mir ohne Narkose das Bein aufgeschnitten. Wir waren platt, das konnte wohl jeder sehen. Wir hatten so lange durchgehalten. Wenn du 90 Minuten alles reinschmeißt, das Champions-League-Halbfinale zum Greifen nah ist und du dann so bitter enttäuscht wirst, ist das einfach grausam. Da war eine Leere in meinem Körper. Und es wurde noch viel schlimmer. Auf der Bank hatten wir uns gerade noch schief angeguckt und ahnten, dass es jetzt ganz schwer werden würde. Es war einfach kein Benzin mehr im Tank. Spätestens in der Verlängerung, so ahnten wir, würden wir umfallen. Aber bis dahin kam es gar nicht.
Eric Maxim Choupo-Moting erzielte in der dritten Minute der Nachspielzeit das 2:1. Neymar leitete das Tor überragend ein. Dieser verdammte Neymar. Wir hatten nichts mehr entgegenzusetzen und sogar einen A‑Jugendlichen einwechseln müssen, während bei Paris ein Superstar wie Kylian Mbappé von der Bank kam und anschließend einen nach dem anderen vernaschte. Um da mitzuhalten, hätten wir Scooter oder Autos gebraucht. Irgendwann wäre das zweite Tor für PSG gefallen, also war es fast so etwas wie ein Gnadenstoß, dass wir nicht noch die Verlängerung ertragen mussten. Aber es tat unglaublich weh. Für so ein Spiel hatten wir uns zwei Jahre lang den Arsch aufgerissen. Man hört ja häufig Spieler in Interviews sagen, dass sie während des Spiels nicht eine Sekunde an den Sieg oder ans Weiterkommen gedacht hätten. Blödsinn. Natürlich habe ich nach dem 1:0 vom Halbfinale geträumt. Und natürlich hatte ich mich schon darauf gefreut. Das wurde uns innerhalb von drei Minuten genommen, und plötzlich hieß es Koffer packen. Freud und Leid liegen manchmal wirklich beschissen nah beieinander.
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