In der vergangenen Saison schaffte es ein Team ins Champions-League-Viertelfinale, mit dem wirklich keiner gerechnet hatte: Atalanta Bergamo. Mittendrin: Ex-Dorfkicker Robin Gosens. Wie fühlt es sich an, in Zweikämpfe gegen Neymar zu müssen? Und was geht im Kopf vor, wenn der Traum vom Halbfinale in wenigen Sekunden platzt? Der Nationalspieler über die bitterste Niederlage seiner Karriere.
Warum ich das so schreibe? Ganz ehrlich, nach 13 Spielen in sechs Wochen in der Seria A stand die Tanknadel kurz vorm roten Bereich. Wir hatten nach dem Re-Start der Saison ein geradezu abnormales Programm abzuspulen. Das heißt natürlich nicht, dass wir uns nicht wahnsinnig gefreut hätten. Wir, die Pfei- fen aus dem kleinen Bergamo, durften bei der Elite-Endrunde der Königsklasse mit Bayern und Barcelona und Manchester City dabei sein. Das allein reichte schon, uns zu motivieren. Trotzdem mischte sich da aus besagten Gründen eine gewisse Gelassenheit rein: Weiterkommen? Geil! Rausfliegen? Urlaub, auch geil!
Ich bin nicht nur Fußballspieler, ich bin auch Fußballfan. Mein Verein ist leider der FC Schalke 04, und seit Jahren weiß ich nicht mehr so wirklich, für was der Klub eigentlich steht. Finde ich das gut? Nein, natürlich nicht, das finde ich bescheiden. Ich will wissen, was ich von „meiner“ Mannschaft bekomme und was nicht. Bei uns in Bergamo wird den Zuschauern gnadenloser Offensivfußball und Spektakel geboten, weil es genau das ist, was für uns den Fußball ausmacht. Ich finde es überhaupt nicht reizvoll, wenn sich ein Team andauernd nur zu 1:0‑Siegen oder torlosen Unentschieden verteidigt, weil es Schiss hat, auf die Fresse zu fliegen.
Ich habe leider noch nie unter Marcelo Bielsa gespielt. Der kam 2018 als Trainer zu Leeds United und hat einem der legendärsten Vereine Englands wieder Leben eingehaucht, weil er seinen „Bielsa-Ball“ trotz einiger Widerstände durchgezogen hat. Das bedeutet: Vollgas-Fußball, extrem hohes Gegenpressing, Mann-gegen-Mann-Verteidigung über den ganzen Platz. Das hatte zur Folge, dass Leeds 2020 nach 16 Jahren wieder in die Premier League aufstieg. Und jetzt kommt das Beste: Leeds 2020, das war eine Mannschaft ohne herausragende Einzelspieler. Aber ist diese Mannschaft auch nur einen Zentimeter von ihrem Plan abgerückt? Nein! Mit dem Ergebnis, dass Leeds zum Auftakt in einem irren Spiel mit 3:4 gegen Meister Liverpool verlor, anschließend 4:3 gegen Fulham gewann und gegen die Übermannschaft von Manchester City ein spektakuläres 1:1‑Unentschieden erspielte, das selbst Pep Guardiola begeisterte.
Ist das nicht geil? So macht Fußball doch wirklich Spaß! Ich schaue mir regelmäßig Leeds-Spiele an, weil deren unermüdliche Art auch sehr unserem Stil ähnelt. Leeds war in so vielen Spielen – wie auch wir für eine lange Zeit – der krasse Außenseiter und hat trotzdem nichts an seiner offensiven Philosophie geändert. Dafür lieben die Leute Bielsa, und dafür lieben unsere Fans Atalanta. Wenn du einen klaren Plan hast, stärkt das natürlich auch dein Selbstvertrauen. Wenn du weißt, was du auf dem Platz zu tun hast und wohin deine Mitspieler laufen. Wann du Attacke starten und wann du dich mal fallen lassen kannst.
Mittlerweile freuen sich nicht nur unsere Fans auf Atalanta-Spiele. Viele Fußballliebhaber schalten den Fernseher an, wenn wir spielen, weil sie wissen, dass ihnen in der Regel ein Spektakel geboten wird. Wir haben nicht ohne Grund 98 Tore in der Seria-A-Saison geschossen. Es war ein durchaus steiniger Weg, bis wir zu dieser gut geölten Maschine wurden. Natürlich ging und geht das auch mal in die Hose, wie zum Beispiel beim ersten Champions-League-Spiel in Zagreb, wo wir mit 0:4 unter die Räder kamen. Klar, dass wir mit unserer offensiven Ausrichtung ab und zu mal einen auf den Sack bekommen. Ich weiß aber auch, dass wir dann halt im nächsten Spiel wieder fünf Tore schießen. Und ich bin verdammt stolz, dass ich da mitzocken darf und auch mal meine Hütten mache. Für mich ist es keine Arbeit, sondern purer Spaß. Und darum sollte es im Fußball immer gehen.
Zwei Tage vor dem Spiel gegen PSG wollten wir von Bergamo in Richtung Lissabon aufbrechen. Je näher der Abflugtag kam, desto größer wurden Aufregung und Vorfreude. Es war toll, nach Monaten der Isolation mal wieder eine richtige Reise antreten zu dürfen. Und dann gleich so eine. Wir hatten lange Wochen auf diesen Moment gewartet und zwischenzeitlich sogar befürchten müssen, dass die Champions-League-Saison komplett abgebrochen wird. Lange Zeit wusste niemand, wann überhaupt wieder Fußball gespielt werden würde. Für uns wäre das der Flop des Jahrhunderts gewesen. Schon das Achtelfinal-Rückspiel in Valencia ohne Zuschauer war ziemlich traurig gewesen. Mit einem plumpen Abbruch hätte unsere magische Saison einfach nicht enden dürfen.
Gosens und seine Kollegen feiern den Führungstreffer gegen Paris.
Diese Endrunde in Lissabon war eine spannende Sache. Irgendwie fühlten wir uns besonders. Das waren ja fast schon Weltmeisterschaftsverhältnisse. K.o.-Spiele, jeder in seinem eigenen Quartier, die besten Mannschaften und Spieler Europas. Und mittendrin das kleine Atalanta Bergamo! Wir waren total heiß darauf, den Leuten zu zeigen, dass wir völlig zu Recht bei diesem Konzert der Großen mitspielen durften. Normalerweise lese ich vor Liga- und Champions-League-Spielen keine Zeitungen und surfe auch nicht auf den einschlägigen Seiten im Netz. Wobei die Worte „normalerweise“ und „Champions League“ eigentlich nicht in einen Satz gehören, aber gut. Jedenfalls verzichte ich vor Spielen auf Artikel über mich oder Atalanta, um nicht den Fokus zu verlieren. Bei mir sind es ohnehin die sozialen Medien, über die ich mich informiere. Sobald man mich in einem Beitrag verlinkt, bekomme ich das ja meistens mit (und bitte verlinkt mich jetzt nicht in jedem Beitrag!).
Warum ich das mache, fragt ihr euch jetzt? Weil die meisten dieser Kommentare vor den Spielen eigentlich immer positiv sind. Wenn du allerdings gerade eine Pechsträhne hast, nicht so gut drauf bist und dich der Trainer trotzdem aufstellt, kommen auch schon mal sehr bissige Kommentare. Nach dem Motto: „Wie kann es sein, dass die Flasche schon wieder spielt? Der ist doch grottenschlecht!“ Vor dem Spiel gegen PSG war die Zahl der Glückwünsche sehr hoch. Tausende von Nachrichten fluteten mein Postfach. „Macht Bergamo stolz, macht das Land stolz.“ „Schenkt dieser Stadt mal wieder einen Grund zu lächeln.“ Aus Deutschland schrieb mir jemand: „Wir sind hier alle für Atalanta!“ Freunde und Familienmitglieder schrieben mir, dass sie es gar nicht mehr abwarten konnten, und genauso nervös waren wie ich. Und selbst unser Trainer wirkte ausnahmsweise mal euphorisiert. Gian Piero Gasperini ist normalerweise der typische italienische Mister. Sachlich, cool und knallhart. Aber vor der Abreise nach Lissabon hat er uns richtig eingeheizt und motiviert – so emotional hatte ich ihn vorher noch nie erlebt.
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