Vor 20 Jahren, am 19. Mai 2001, war der FC Schalke 04 für 4 Minuten und 38 Sekunden Deutscher Meister. Doch dann traf Andersson. Und die Hölle tat sich auf.
Hinweis: Dieser Text erschien erstmals in unserem 11FREUNDE SPEZIAL über die 00er Jahre.
Es musste dieser Ort sein. Das Parkstadion zu Gelsenkirchen erlebte seinen letzten Akt, und dieser wurde zu einem derart lauten Knall, wie man ihn in der Geschichte der Bundesliga noch nicht vernommen hatte.
Das runde Oval im Berger Feld hat viele entscheidende Spiele gesehen, sogar gegen den Abstieg aus der zweiten Liga, Dramen, Skandale und Zeiten, „in denen wir nicht mal Geld für Waschpulver hatten“, wie Charly Neumann, langjähriger Mannschaftsbetreuer und Seele des Vereins, einmal sagte. Damals. Als die Pils-Pappbecher sich mit Regenwasser füllten. Die abbröckelnden, nicht enden wollenden Stufen, die krächzenden Lautsprecher, die hochragenden Flutlichtmasten, Toiletten mit Pissrinnen. Ein Fanblock, in dem man Kutten mit der Aufschrift „Nordkurve“ als Statement trug, der ein anarchischer, wilder Haufen war. Nur hier konnte jemand auf die Idee kommen, eine Trompete mitzubringen. Und nur hier konnte der Mob auf drei herausgepresste Töne mit dem Schlachtruf „Attacke!“ reagieren. Der Zaunkönig war ein Mann mit Trommel, grauem Bart und langen Haaren, den sie seinem Aussehen entsprechend „Catweazle“ tauften. „Ich stand immer da, neben mir sind Kinder großgeworden und standen dann irgendwann mit ihren Kindern neben mir“, erzählt Catweazle. 1997 im Halbfinale des UEFA-Pokals dichteten sie hier auf der Tribüne des Stadions den programmatischen Gesang „Steht auf, wenn ihr Schalker seid.“
19. Mai 2001 | 15:25 Uhr
Das letzte Spiel also. Schalke 04 kämpft mit Bayern München um den Titel, hat drei Punkte Rückstand, doch das bessere Torverhältnis. Seit 43 Jahren warten die Knappen auf die Meisterschaft, die unerreichbare Schönheit, mit der sie nun tatsächlich auf den Abschlussball gehen könnten. Durch den „7‑Sekunden-Tod“, wie der Boulevard dichtete, haben die Schalker in der vergangenen Woche die Tabellenführung abgegeben, als sie in Stuttgart in letzter Minute das 0:1 kassierten und sieben Sekunden später die Bayern gegen Kaiserslautern zum Sieg trafen. Die Schönheit hatte sie abblitzen lassen, heute bitten die Schalker nun doch zum letzten Tanz, in der Hoffnung, dass sie sich noch mal umentscheidet.
Die Sonne knallt, und man weiß nicht so recht, ob die Gesichter vor Anspannung oder wegen der Hitze so rot gefärbt sind. Auf der langen Tartanbahn mit der Patina der siebziger Jahre finden Polonaisen statt, auf der Gegengerade wird eine riesige Choreografie vorbereitet, der Schalker Fanklub-Verband lässt ein Flugzeug mit dem Banner „Danke, Parkstadion“ über dem Rund kreisen. 65 000 Zuschauer fasst die Spielstätte offiziell, doch wer an diese Zahl glaubt, war nie dort. Alle zehn Sekunden klettern Menschen über Zäune, um dabei zu sein. Andere sitzen schon seit Stunden in den Baumkronen hinter der Gegengerade. Um 12 Uhr fahren Lastwagen durchs Marathontor zur Belieferung, Wildentschlossene hängen sich dran oder springen auf das Dach. Das staubige Kolosseum ist zum Bersten voll, es liegt etwas in der Luft. Manager Rudi Assauer, nicht zu Unrecht als „letzter Macho der Bundesliga“ tituliert, wird melancholisch. Er steht an der Trainerbank, hat die Zigarre in der einen Hand und wischt sich mit der anderen Tränen von den Wangen.
Radioreporter Manni Breuckmann setzt sich zum letzten Mal auf den Platz, von dem er seit Jahren für den Rundfunk kommentiert, und schaut sich das königsblaue Treiben an. „Ich empfand eine gelöste, entspannte Atmosphäre“, erinnert er sich. „Es deutete nichts darauf hin, dass sich hier noch so ein Drama abspielen könnte.“
-