Vor 20 Jahren, am 19. Mai 2001, war der FC Schalke 04 für 4 Minuten und 38 Sekunden Deutscher Meister. Doch dann traf Andersson. Und die Hölle tat sich auf.
Eine verrückte erste Halbzeit liegt hinter allen Beteiligten. Unterhaching, das sich gegen den Abstieg stemmt, ist nach 27 Minuten mit 2:0 in Führung gegangen. Doch zwei Minuten vor der Pause hat Nico van Kerckhoven den Ball ins Netz gegrätscht und auf 1:2 verkürzt. Nur eine Minute später hat Gerald Asamoah das 2:2 gemacht – mit der Hacke. „Was war denn da los?“, fragen sich die Fans am Bierstand. Einige fangen an zu singen: „Sergej Barbarez! Schalalala!“ Der Hamburger Stürmer hat in dieser Saison bisher 21 Tore geschossen, auf einem Tor von ihm gegen die Bayern ruhen nun die Schalker Hoffnungen.
Doch in Hamburg steht es zur Pause 0:0. Alles spricht für eine Meisterschaft der Bayern. Die Regie des übertragenden Senders „Premiere“ schaltet Rudi Assauer und Karl-Heinz Rummenigge zu. Assauer wird gefragt: „Wollen Sie Rummenigge schon einmal zum Titel gratulieren?“ Assauer antwortet: „Nein, der Kalle weiß, was im Fußball noch alles passieren kann.“
19. Mai 2001 | 16:58 Uhr
Wenn Gedanken Blei in die Beine gießen, braucht man Spieler, die nicht großartig nachdenken. Es klingt wie die Stellenbeschreibung für Jörg Böhme, wie sein Auftrag für diese zweite Halbzeit. Es ist die 73. Minute: Das Parkstadion ist mucksmäuschenstill, Unterhaching führt 3:2, die Meisterschaft scheint begraben. 18 Meter vor dem Tor hat sich Böhme den Ball zum Freistoß zurechtgelegt. Es kommt eigentlich nur ein Schlenzer über die siebenköpfige Mauer der Hachinger in Frage. Böhme aber zieht voll ab – flach. Der Ball rutscht unter den hochspringenden Gegnern hindurch zum 3:3. Torschütze: Jörg Böhme, der Mann, den sie „den Verrückten“ nennen.
80 Sekunden später. Ebbe Sand spielt Böhme frei, der nun allein vor Hachings Torwart Gerhard Tremmel steht, sieben Meter von der Führung entfernt. Böhme tritt kurz auf, täuscht einen Schuss an, Tremmel geht in die Knie, und Böhme lupft locker ins lange Eck. Die Fans jubeln und singen, steigen auf die Zäune, ihre Gesänge überlappen sich. 4:3 nach 0:2 und 2:3 – die Mannschaft hat sie durch alle Gefühlswelten gepeitscht. Das ist zwar nur ein Vorgeschmack, doch jeder ahnt: Das Parkstadion ist heute keine bloße Spielstätte. Sie ist eine Fabrik der Emotionen.
Das 5:3 fällt in der 90. Minute, Schalke gewinnt, hat den zweiten Platz sicher, Haching ist abgestiegen. Ebbe Sand haut auf die Trommel eines Fans, Emile Mpenza küsst das Wappen. Die letzten Sekunden interessieren niemanden mehr, „HSV, HSV, HSV!“, hallt es durchs Stadion. Andreas Müller, Ex-Profi und Leiter der Lizenzspielerabteilung, läuft auf der Haupttribüne in einem Hamburg-Trikot mit „Kovac“ auf dem Rücken hin und her. Er hat es einst mit dem HSV-Spieler getauscht. „Ich hatte so ein Gefühl“, sagt Müller, „dass etwas passieren kann.“ Sein Aberglaube scheint sich auszuzahlen. Plötzlich liegt eine Meldung in der Luft: In Hamburg ist etwas passiert.
19. Mai 2001 | 17:16 Uhr
Menschen winden sich wie Fische an Land, recken die Köpfe in alle Richtungen, vereinzelte Jubelschreie sind zu hören, man rüttelt an Gliedmaßen, diejenigen mit Radios an den Ohren werden in den Klammergriff genommen und nicht mehr losgelassen. Eine Masse von 80 000 Zuschauern wogt hin und her, zwischen denen, die etwas wissen, und denen, die nicht glauben, was sich da im weiten Rund ausbreitet. In der Nordkurve steht jemand mit einem Handy am Ohr, Fans fragen ihn flehentlich: „Was ist da los? Was ist da los, verdammt?“ Dann presst er die Lippen zusammen, sein Blick wird gläsern, er flüstert fast: „1:0 für Hamburg. Es stimmt.“ Die stille Post wird von Sekunde zu Sekunde lauter, ein Lauffeuer in jedem Block, und nach einer Weile verdichten sich die Jubelschreie Einzelner zu einem großen Aufschrei aller. Das Parkstadion weiß es: Schalke 04 wäre nun Deutscher Meister.
Als die Hoffnung zur Gewissheit wird, implodiert die Szenerie. Der Zaun wird eingedrückt, eine Jubeltraube von zwanzig Leuten kullert die Stufen in der Südkurve hinab, immer wieder greifen die Menschen sich mit zittrigen Händen an den Kopf, es ist eine Mischung aus Trance und Hysterie. Sie fühlen sich der Sonne so nah, es ist der Moment, den die Alten Griechen Kairos nannten.
Thomas Spiegel, damals Mitarbeiter auf der Geschäftsstelle, sagt: „Man hatte das Gefühl, dass das Stadion wackelt. Es war ein Tor wie aus dem Nirwana.“ Sein Kollege Michael Knicker springt ihm mit beiden Beinen voran in die Arme, und Spiegel denkt an das Gespräch vor dem Spiel. „Ich habe heute Morgen dem lieben Gott gesagt: Wenn wir Meister werden, dann kann er mich holen“, hat Knicker ihm berichtet. Was flapsig klingt, ist allzu ernst: Knicker hat im Jahr zuvor eine Herzattacke erlitten. „Hoffentlich hält sich der liebe Gott nicht an die Verabredung“, denken beide nun. Sie starren wie gebannt auf den Fernseher im Presseraum, der das Spiel in Hamburg zeigt. „Ich war wie paralysiert“, so Thomas Spiegel. „Ich habe wie ein Geistesgestörter ununterbrochen nur zwei Wörter wie ein Mantra vor mich hin gestammelt: Pfeif ab! Pfeif ab! Pfeif ab!“
Auf der Kurt-Schumacher-Straße am Schalker Markt macht ein Taxifahrer eine Vollbremsung und schreit: „Hamburg führt! Hamburg führt! Hamburg führt!“ Auch hier fallen Menschen übereinander her, der Verkehr bricht zusammen.
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