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Seite 4: „Ich habe den Glauben an den Fußballgott verloren.“

19. Mai 2001 | 17:25 Uhr

Auf dem Rasen trauern die Fans, in den Kata­komben die Spieler, Ebbe Sand ist in sich zusam­men­ge­fallen, er kauert auf dem Boden, Fla­schen und Stühle fliegen durch den Trai­ner­raum. Bänke, Türen, Fern­seher – nichts ist mehr heil geblieben. Zum Glück hat uns keiner die Rech­nung geschickt“, sagt Marco van Hoog­dalem. Youri Mulder lacht, ohne es zu wollen. Es war so skurril. Ich habe mal mit einem Rad­renn­fahrer gespro­chen. Er sagte, dass bei Stürzen auf der Berg­ab­fahrt die anderen Fahrer lachen. Aber nicht aus Scha­den­freude, son­dern weil sie so nervös sind und keine Kon­trolle über ihre Emo­tionen haben. Genauso fühlte ich mich in diesem Moment.“ Jörg Böhme zündet sich eine Ziga­rette an. Rudi Assauer und Huub Ste­vens ver­su­chen erfolglos, die Spieler zu trösten. Assauer wird Minuten später auf der Pres­se­kon­fe­renz den Jour­na­listen berichten, in welche Augen er gesehen hat. Erzählt mir nichts mehr davon, dass Fuß­baller nur eis­kalte, berech­nende Pro­fi­teure sind.“ Es folgt sein viel­zi­tierter Satz: Ich habe den Glauben an den Fuß­ball­gott ver­loren.“ 

Dieser schnelle Umschlag vom höchsten Gefühl auf diese unend­liche Trauer – das habe ich so noch nicht erlebt“, sagt Manni Breuck­mann. Er bleibt nach dem Spiel noch minu­ten­lang kon­ster­niert auf seinem Repor­ter­platz sitzen. Man­fred Hen­driock, Redak­teur bei der West­fä­li­schen Rund­schau“, wird am kom­menden Tag schreiben: Es war, als wenn man das Liebste ver­liert, das man besitzt.“ 
Huub Ste­vens’ Gesichts­züge sind hart, sein Blick starr und die Worte klar. Er ruft die Mann­schaft zusammen, gra­tu­liert ihr zur Leis­tung der Saison und sagt: Wir haben nächsten Samstag noch einen Titel, den DFB-Pokal, zu holen.“ Dann schickt er sie raus auf die Tri­büne zu den Fans, die unten auf dem Rasen stehen. Minuten nach dem Tief­schlag schreit einer in die Stille. Es ist der sim­pelste, aber prä­gendste Ruf: Schaaaaaalke!“ Er wie­der­holt ihn, immer mehr stimmen mit ein. Die Mann­schaft steht gezeichnet auf der Tri­büne, als You’ll never walk alone“ gespielt wird, ver­liert selbst Huub Ste­vens den Kampf mit den Tränen. Sta­di­on­spre­cher Dirk Ober­schulte-Beck­mann hat das Lied aus­ge­wählt Alle fühlten gleich, alle waren getroffen“, erin­nert er sich. Als wir dann zusammen sangen, war das ein unglaub­li­ches Gefühl der Zusam­men­ge­hö­rig­keit.“ 

Die Spieler treffen sich im Haus des Ersatz­tor­warts Frode Grodas. Anfangs war es ganz ruhig, doch dann artete es in eine rich­tige Frust­party aus“, erzählt Ebbe Sand. Die Woh­nung muss reno­viert werden – und das nicht im sprich­wört­li­chen Sinn. Um die 200 Fans sind da noch auf dem Gelände des Park­sta­dions, sie schaffen es ein­fach nicht, nach Hause zu gehen. Da tritt Rudi Assauer aus seinem Büro auf den Balkon vor der Geschäfts­stelle und hält eine flam­mende Ansprache – in nicht immer ganz ver­ständ­li­chem Ton. 

Allein am Mon­tag­morgen treten 500 Leute dem Verein bei, zum letzten Trai­ning vor dem Pokal­fi­nale erscheinen 15 000 Anhänger. Schalke holt durch ein 2:0 gegen Union Berlin den Pott. Und im Schalker Block des Ber­liner Olym­pia­sta­dions ist ein Plakat zu lesen: Alles wird gut.“ 

Epilog 

Men­schen neigen dazu, bestimmte Ereig­nisse der Geschichte nicht beim Namen zu nennen, son­dern nur beim Datum. Auf Schalke spricht man seither vom 19. Mai“. Dieser Tag machte aus dem Wunsch­traum der Meis­ter­schaft ein zwang­haftes Streben. 

Es sind diese Momente, von denen sich die Schalker Fans auf Aus­wärts­fahrten immer wieder erzählen. Wo immer sie auch wohnen, wo sie her­kommen und wie alt sie sind – ihre Bio­gra­fien kreuzen sich an diesem Punkt. Jeder weiß, wie er diese 4 Minuten und 38 Sekunden erlebt hat. 

Sie werden in den Jahren nach jenem 19. Mai zum Sisy­phos des deut­schen Fuß­balls und fort­wäh­rend erfolglos einen Stein den Meis­ter­hügel hin­auf­schieben: 2005, 2007, 2010. Mann­schafts­be­treuer Charly Neu­mann sagte einmal: Ich hoffe, der liebe Gott lässt mich noch einmal mit der Meis­ter­schale durch unsere Arena laufen.“ 2007, als Schalke die Meis­ter­schaft beim Erz­ri­valen Borussia Dort­mund ver­spielt, ist Charly Neu­mann schon schwer krank, doch er besteht darauf, nach dem Spiel zum Schalker Block geführt zu werden. Erst leise, dann immer lauter bricht sich der Jubel Bahn. Von Ord­nern gestützt steht Neu­mann vor der Kurve, die Fans rufen minu­ten­lang Charly, Charly“, wie sie es schon in den acht­ziger Jahren nach den Abstiegen der Schalker getan haben.

Charly Neu­manns großer Traum erfüllt sich nicht. Er stirbt am 11. November 2008.

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