Nach dem Rücktritt von Jürgen Klinsmann ist Alexander Nouri neuer Cheftrainer von Hertha BSC. Im Interview spricht er über die Lücke, die sein Vorgänger hinterlassen hat, seine Vorliebe für den spanischen Fußball – und Buxtehude.
Was nimmt man von generell einem solchen Aufenthalt mit?
Ganz viel. Und auch ganz unterschiedliche Dinge. In Bilbao zum Beispiel war es beeindruckend zu sehen, wie der Klub es schafft, mit sehr limitierten Ressourcen zu arbeiten.
Weil der Klub nur Spieler aus dem Baskenland verpflichtet.
Genau. Das Einzugsgebiet mit dreieinhalb, vier Millionen Menschen ist ähnlich wie hier in Berlin. Allein aus dieser Ressource rekrutiert Athletic die Spieler für die Akademie und aus der Akademie schließlich die Spieler für die Profimannschaft. Die Durchlässigkeit ist einfach überragend. In den vergangenen zehn Jahren hat es der Klub sieben oder acht Mal in den Europapokal geschafft. Wahnsinn.
Was davon können die Deutschen für ihr eigenes System übernehmen?
Vieles wäre übertragbar, aber natürlich nicht alles. Wir haben auch besondere Tugenden, die für uns wichtig sind. In Bilbao wird ein Aspekt besonders großgeschrieben: Das ist, eine gewisse Lernfähigkeit zu konservieren, bis ins hohe Spieleralter. Bei Athletic sagen sie: Wenn ein Spieler lernfähig bleibt, bleibt er auch offen dafür, sich weiter zu entwickeln.
Wie geht das?
Indem die Spieler ganz früh für Kritik sensibilisiert werden – und indem sie lernen, Kritik als etwas Positives zu betrachten. Die Trainer sind dazu da, diesen Prozess zu moderieren. Es gibt auch einen Psychologen, der wiederum die Trainer schult und die Kinder schon ab der U 11 dazu anhält, sich gegenseitig zu spiegeln. Sie sollen lernen, sich zu kritisieren, aber nicht, um sich gegenseitig niederzumachen, sondern um sich zu helfen. In Deutschland habe ich so etwas noch nicht erlebt. Wenn dir hier jemand etwas Kritisches sagt, ziehst du dich eher in dein Schneckenhaus zurück.
„Seattle war das beste, was mir passieren konnte“
Holen Sie sich auch als Trainer Feedback von außen?
Ich finde das total wichtig. 2018 habe ich bei den Seattle Sounders hospitiert. Da hat der Trainer immer einen großen Kreis um sich versammelt, aus dem er sich Informationen geholt hat. Auch in den Besprechungen vor einem Spiel. Da war ein U‑23-Trainer dabei, es waren Leute von der medizinischen Abteilung dabei, manchmal bis zu zehn Leute, und jeder sollte seine potenzielle Startelf skizzieren. Für mich war das etwas Besonderes, weil ich das so nicht kannte. Der Trainer hat mir gesagt, dass dies für seinen Gesamteindruck sehr wichtig sei. Außerdem sollte jeder das Gefühl haben, dass er ein Teil des Ganzen ist und sich einbringen kann.
Sie waren auch 1999 schon als Spieler in Seattle. Wie sind Sie damals dort gelandet?
Als Jungprofi bei Werder Bremen bin ich ein Jahr wegen einer schweren Verletzung ausgefallen und dann von Felix Magath nach der Saisonvorbereitung zusammen mit Razundara Tjikuzu und Christoph Dabrowski zu den Amateuren geschickt worden. Das war damals keine U 23, da spielten gestandene Leute wie Thomas Wolter und Uwe Harttgen. Als Rekonvaleszent hatte ich wenig Selbstvertrauen und entsprechend wenig Aussicht auf Spielpraxis. In dieser Situation kam das Angebot aus Seattle. Okay, habe ich gedacht, was habe ich denn zu verlieren? Außerdem bin ich sehr amerikaaffin, weil viele Verwandte von mir, meine Oma, Onkels und Tanten, in den USA lebten.
Sie sind also nicht wegen der Musik nach Seattle?
Nein, aber die Musikszene ist natürlich megabeeindruckend. Die Heimat von Jimi Hendrix und Kurt Cobain. Seattle ist sowieso eine total faszinierende Stadt. Auch mit der gewaltigen Natur rundherum. Was meine persönliche Entwicklung betrifft, war Seattle das Beste, was mir damals passieren konnte.
Welche Trainer haben Sie am meisten geprägt?
Schwierige Frage. Eigentlich muss ich da meinen Vater nennen, der mich auf der ganzen Reise begleitet und bestärkt hat. Sowohl als Spieler bis zu meinem Wechsel ins Nachwuchszentrum von Werder Bremen als auch später als Trainer, weil er selbst Trainer war.
Was war er für ein Trainer?
Ein sehr empathischer. Aber auch ehrgeizig und diszipliniert. Er wollte immer erfolgreich sein.
Wie schwer war es, zwischen seinen verschiedenen Rollen als Vater und als Trainer zu trennen?
Es war zumindest nicht immer einfach, vor allem im Teenageralter nicht, als ich U‑Nationalspieler und dadurch auf dieser Leistungsschiene unterwegs war. Irgendwann verschwimmt das: Was ist normale väterliche Zuneigung? Was ist Anerkennung für deine Leistung als Fußballer? Aber ich glaube, dass wir das echt gut gemanagt haben. Im Nachhinein kann ich sagen, dass ich sehr viel Liebe und sehr viel Zuneigung erfahren habe. Aber du willst natürlich auch gut spielen, um von deinem Vater ein entsprechendes Feedback zu bekommen.
Wurde der Fußball auch in die Familie hineingetragen?
Der Fußball war bei uns schon omnipräsent, auch im normalen Familienleben. Ich glaube, meine Schwester hatte damit zu kämpfen, weil natürlich ein starker Fokus auf meinen Weg und meinen Werdegang gerichtet war. Vielleicht auch ein bisschen unbewusst. Meine Schwester ist drei Jahre älter, sie konnte andere Dinge machen, die ich nicht machen konnte. Trotzdem glaube ich, dass sie ein Stück weit zurückstecken musste.
Ihr Vater war Chemiker, hat als Wissenschaftler an der Uni gearbeitet. Hat man das in seiner Trainertätigkeit gemerkt?
Weniger. Mein Vater ist jemand, der sehr pragmatisch ist. Was ich von ihm übernommen habe, ist sein Arbeitsethos. Er war nie materialistisch und ist es nach wie vor nicht. Mein Vater fährt mit dem Fahrrad überall hin, mit öffentlichen Verkehrsmitteln, oder er geht gleich zu Fuß. Das hat mir sehr imponiert und mich auch geprägt. Meine Mutter kommt als Obergerichtsvollzieherin aus einer anderen Ecke. Dadurch sind bei uns zu Hause zwei Welten aufeinandergeprallt. Mein Vater hat mit Geld und Finanzen nichts am Hut, kann damit auch nichts anfangen. Meine Mutter war eher diejenige, die den Laden zusammengehalten hat.