Werder ist abgestiegen. Dass das wehtun würde, war ja klar. Doch wie weh es tut, ist dann doch erstaunlich. Innenansichten eines verwundeten Fans.
Wer den Menschen in und um Bremen die Frage „Wie geht‘s?“ stellt, der bekommt oft zu hören: „Muss.“ Eine kurze Silbe nur, die den Antwortenden wie etwas Ungenießbares aus dem Mund fällt.
Und doch sollte man sie nicht als Wortkargheit missverstehen – steckt in ihr doch eine ganze Lebenshaltung: dass es, auch wenn einem das Schicksal mitunter übel mitspielen mag, doch irgendwie weitergehen „muss“.
Diese eigentümliche Mischung aus Fatalismus und Beharrlichkeit – „Es ist, wie es ist. Kein Grund zu jammern!“ – hat die Menschen in diesem Landstrich durch zahlreiche Krisen getragen. Ja, sie ist vielleicht sogar der Grund, warum die Urahnen sich hier, in diesem von unwirtlichen Mooren durchzogenen Niemandsland, auf dem nicht viel mehr zu ernten war als Buchweizen, überhaupt erst niedergelassen haben. Man kann sich ganz gut ausmalen, wie ein Siedler einst den anderen fragte: „Und hier willst du Ackerbau betreiben?“ Seine mutmaßliche Antwort: „Muss.“
Doch wie fällt die Antwort heute aus, am Tag, nach dem der SV Werder Bremen aus der Bundesliga abgestiegen ist? Natürlich „muss“ es auch jetzt irgendwie weitergehen. Das wird es ohnehin: Das Leben hat nun mal die lästige Angewohnheit, dass es, auch wenn einem gerade überhaupt nicht danach ist, von selbst immer weitergeht. Zur Stunde feiern jenseits des Wiehengebirges die Bielefelder ihren Klassenerhalt und scheren sich einen feuchten Dreck darum, wie es den Bremern geht.
So ist das Leben im Allgemeinen, so ist der Fußball im Besonderen: Des einen Leid ist des anderen Freud. Doch noch nie zuvor hat man als Anhänger dieses glorreichen Vereins in derart bedrückender Weise das Gefühl verspürt, dass das Leid von Dauer sein wird. Dass es „für uns“ eben nicht weitergeht. Dass gestern eine Geschichte ihr Ende gefunden hat: die Geschichte des SV Werder, wie man ihn kannte.
Wie fällt sie also heute aus, die Antwort auf die Frage: Wie geht‘s?
Erlauben Sie mir, darauf etwas ausführlicher zu antworten: Ich bin 43 Jahre alt, vom letzten Abstieg des SV Werder weiß ich also nur aus Schauergeschichten, die mein Vater mir erzählt hat – als etwas, das nie wieder vorkommen darf, kann und wird. Ich bin in den Achtzigerjahren im Vorgefühl eines großen Triumphs aufgewachsen, der deutschen Meisterschaft, die sich aber ein ums andere Mal der FC Bayern holte, obwohl sie ihm nicht zustand – und die dann doch endlich der SV Werder errang, einmal, zweimal, dreimal. Der Abstieg vor 41 Jahren verblasste im Laufe der Zeit und kam mir bald nur noch vor, als wäre einer meiner Großväter nach einem längst vergangenen Schützenfest besoffen vom Fahrrad gefallen.
Doch jetzt ist es wieder geschehen. Wieder, ja – und doch zum ersten Mal in meinem bewussten Leben. Leere macht sich breit, eine Leere, die so unermesslich und öde ist wie die Leere in der Pokalvitrine von 1899 Hoffenheim. Das einzige, worauf ich Lust hätte, wäre, am Bahnhof von Diepholz, von wo aus ich so oft zu Heimspielen aufgebrochen bin, in der Kneipe zu sitzen, lange, sehr lange zu schweigen und dann, nachdem ein oder zwei oder drei Schnäpse meine Zunge gelöst haben, irgendwann „Tja“ zu sagen. Im Hintergrund würde jemand leere Bierdosen auf die Dartscheibe werfen. Und in die Stille hinein, die nur unterbrochen würde vom Scheppern der Dosen und dem ratlos-melancholischen Dudeln des Spielautomaten, würde mein treuer Gefährte neben mir entgegnen: „Wollt ich auch gerade sagen.“
Doch die alte Bahnhofskneipe gibt es nicht mehr. Dort befindet sich jetzt eine Fahrschule. Ein Flipchart steht da, wo einst der Tresen war. So kommen mir nur noch die Zeilen des Liedermachers Sven Regener, eines gebürtigen Bremers, in den Sinn: „Wir stehen staunend vor den Trümmern einer guten alten Zeit.“
„Wir stehen staunend vor den Trümmern einer guten alten Zeit“
Die gute alte Zeit des SV Werder ist hier und an anderer Stelle in epischer Breite erzählt worden und wird auch weiterhin erzählt werden. Sie füllt Chroniken, Gedächtnisse, Herzen, der eine oder andere hat sie sich sogar unter die Haut stechen lassen. Sie ist ein Trost, der selbst schon traurig ist. Schließen wir also an dieser Stelle nur kurz die Augen und denken an Johan Micouds göttlichen Heber über Oliver Kahn hinweg am 32. Spieltag der Saison 2003/2004. Ach!
Noch vor gut zehn Jahren – das ist nicht sehr lang her, und doch schlägt man, wenn man darauf zu sprechen kommt, wie von selbst einen Ton an, als würde man eines fernen Tages seinen Enkeln davon erzählen – da trugen Spieler das grün-weiße Trikot, die es vermochten, allein durch die Nennung ihres Namens auf dem Aufstellungsbogen die Gegner in die Knie zu zwingen: Diego, Mesut Özil, Per Mertesacker, Naldo, Claudio Pizarro. Noch mal: Ach!
Und selbst danach noch, 2013, 2015, 2018: Kevin de Bruyne, Zlatko Junuzović, Max Kruse. Eine leises, letztes Ach.