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Herr Melle, die rus­si­sche Natio­nal­mann­schaft bestreitet an diesem Sonntag ihr Ach­tel­fi­nale gegen Spa­nien – und hat dies durchaus über­zeu­gend erreicht. Läuft also auch für den Prä­si­denten Wla­dimir Putin alles per­fekt?
Ich denke schon. Zwei Siege gegen Saudi-Ara­bien und Ägypten waren im Vor­feld natür­lich nicht unmög­lich, aber so gut ist es um den rus­si­schen Fuß­ball der­zeit ja auch nicht bestellt, dass alle Fans mit solch klaren Erfolgen gerechnet hätten. Für Putin läuft es so, wie er es erwartet hat. Die WM ist ein großes, prunk­volles Ereignis, das dem­entspre­chend wahr­ge­nommen wird. Und es fällt auch auf ihn zurück.

Was läuft denn hinter der glit­zernden WM-Fas­sade der­zeit in Russ­land ab?
Es ist jetzt natür­lich ein beson­derer Monat für das Land. Es wird auf Hel­lig­keit geschaltet, aber es gibt auch Dinge, die par­allel laufen und nicht so erfreu­lich sind. So wurde von der Welt­meis­ter­schaft über­la­gert, dass die Regie­rung am Tag des Eröff­nungs­spiels beschlossen hat, das Ren­ten­ein­tritts­alter zu erhöhen – was wirk­lich viele Men­schen in der relativ alten rus­si­schen Gesell­schaft betrifft. Außerdem hat die Regie­rung an diesem Tag die Mehr­wert­steuer erhöht. Und sie ver­folgt weiter viele Men­schen aus poli­ti­schen Gründen. So wurde diese Woche Jurij Dmit­riew, ein bekannter His­to­riker zu den Sta­lin­schen Repres­sionen, wieder ver­haftet, der erst im Januar nach langem Ringen der inter­na­tio­nalen Zivil­ge­sell­schaft frei­ge­lassen worden war. Auch der ukrai­ni­sche Film­re­gis­seur Oleg Sentsow sitzt weiter im Lager – und befindet sich schon fast 50 Tage im Hun­ger­streik.

Die WM ist die bisher teu­erste aller Zeiten. Die Kosten dafür sollen min­des­tens zehn Mil­li­arden Euro betragen. Wie geht es den Men­schen in Russ­land?
Es gibt große Unter­schiede zwi­schen den Städten und der Pro­vinz. Russ­land ist kein Armuts­land, obwohl die Armut seit 2014 wieder gestiegen ist. Aber letzt­lich ist das Pro­blem eher: Es gibt kaum eine Ent­wick­lung der Wirt­schaft hin zur Moder­nität. Selbst in Kern­be­rei­chen wie Erdgas oder Stahl hängen die Russen hin­terher. Noch weiter hinten dran sind sie bei Zukunfts­tech­no­lo­gien. Da kriegt es Putin nicht hin, das zu ver­bes­sern. Obwohl er es ständig ver­spricht. Die Grund­stim­mung ist daher nah dran an einer Resi­gna­tion und einem nega­tiven Selbst­bild.

Gibt es denn einen kri­ti­schen Teil der Bevöl­ke­rung, der all das auch wahr­nimmt?
Unge­fähr 15 bis 20 Pro­zent der Gesell­schaft kann man einem libe­ralen Milieu zurechnen. Die tau­schen sich auch sehr offen aus, beson­ders über Face­book. Die übrigen Medien sind aller­dings sehr stark staat­lich kon­trol­liert. Vor allem das Fern­sehen.

Warum ist Putin so scharf auf Groß­ereig­nisse wie Olym­pi­sche Spiele oder die Fuß­ball-WM?
Das hat viele Gründe. Tat­säch­lich ist Sport ihm sehr nah, er hat viel Sport betrieben – Judo und Eis­ho­ckey. Außerdem denkt er, dass sich Russ­land über Sport als Welt­macht zeigen kann. Das ist auch noch ein sowje­ti­sches Modell. Sie hatten bei Olympia immer mit die meisten Medaillen und das soll nun so wei­ter­gehen. Immer mal wieder ein Groß­ereignis aus­zu­richten, zeigt dem Volk auch: Wir sind immer da. Mit diesem Patrio­tismus über­deckt man eben auch viele Sachen, die im Alltag nicht so funk­tio­nieren.

Hätte es etwas gebracht, wenn Länder wie Deutsch­land oder Eng­land die WM boy­kot­tiert hätten – wegen des Bür­ger­kriegs im Don­bass oder der Attacke auf den Dop­pel­agenten Skripal in Groß­bri­tan­nien?
Natür­lich hätte das ein Zei­chen gesetzt. Die Frage ist, wie es in Russ­land ange­kommen wäre. Es ist Putin und seiner Riege ja auch gelungen, die eigent­lich sehr begrenzten Sank­tionen gegen Russ­land nach der Krim-Anne­xion so dar­zu­stellen, als sollten sie das Volk treffen. Aber was das Volk eigent­lich betrifft, sind die Ein­fuhr­be­schränken etwa für fran­zö­si­schen und hol­län­di­schen Käse – und die hat Putin selbst ange­ordnet. Die Russen in die Rolle der Belei­digten zu holen, beherrscht er ziem­lich gut. Und so hätte ein Kom­plett-Boy­kott wohl nega­tive Folgen gehabt. Umso mehr müssen Poli­tiker, die zur Welt­meis­ter­schaft fahren, deut­lich die auto­ri­tären Bedin­gungen im Land anspre­chen.

Was können in diesem Punkt die Fans tun, die nach Russ­land gereist sind?
Wenn man sich nur auf die Fan­meilen begibt, wird man natür­lich schwer hinter die Fas­sade schauen können. Dabei gab es ja selbst gegen die Fan­meilen Pro­test, etwa die in Moskau. Sie befindet sich auf dem Gelände der Lomo­nossow-Uni­ver­sität – und ein Teil der Stu­denten hat dagegen pro­tes­tiert, dass die Fan­meile ein­fach dort errichtet wurde. Und es gibt auch Orte, an denen man sich über das andere Russ­land infor­mieren kann: etwa im Haus der Viel­falt im Stadt­zen­trum von St. Peters­burg. Solche Mög­lich­keiten sollten Fans nutzen.

Wird Putin nach der WM wieder sein anderes Gesicht zeigen?
Seine Gesichts­züge sind eigent­lich immer ziem­lich gleich: Einer­seits lächelt er und tut par­allel sehr harte Dinge. Was im Herbst geschehen wird, ist schwer vor­aus­zu­sehen – und das beschäf­tigt die rus­si­sche Gesell­schaft sehr. Wird es dann deut­lich schlimmer? Oder hat das Regime es gar nicht nötig, weil es ja wei­terhin alles unter Kon­trolle hat? Es ist wirk­lich beides mög­lich. Putin und seine Leute sind Tak­tiker, sie wollen ihr Regime weiter absi­chern. Denn sie haben auch so viel Dreck am Ste­cken – viele Freunde Putins sind Mil­li­ar­däre geworden -, dass sie hin­weg­ge­fegt werden könnten. Und das so etwas schnell pas­sieren könnte, hat man auch kürz­lich wieder gesehen: Etwa als Ende April der arme­ni­sche Pre­mier­mi­nister nach Demons­tra­tionen zurück­treten musste. Putin will sich unbe­dingt an der Macht halten, und für noch stär­kere innen­po­li­ti­sche Repres­sionen gibt es auch schon Geset­zes­ent­würfe. Ob die durch­ge­setzt werden, muss man nun abwarten.