Franck Ribéry, Europas Fußballer des Jahres 2013. Für unser Bundesliga-Sonderheft machte sich unser Autor Tim Jürgens auf die Spuren des kleinen Franzosens und traf Menschen, die Ribéry nicht für den Weltfußballer halten.
Die Arme abgespreizt, als trage er zwei Colts um die Hüften. Der Gang kerzengerade. Den charakteristischen Schmiss flankiert ein erwartungsfrohes Lächeln. So stolziert Franck Ribéry in einer Gruppe von FC-Bayern-Profis durch das Spalier der Journalisten auf den Trainingsplatz im trentinischen Arco. Der baumlange Daniel van Buyten wirkt neben ihm wie die Leibgarde des kleinen Generals. Doch der staatstragende Gestus verpufft, als der Franzose Rasen unter den Füßen spürt. Der Filou bricht heraus. Ein Konditionstrainer ruft noch: „Lasst die Bälle liegen.“ Das Verbot aber animiert ihn erst, beiläufig eine der Kunststoffkugeln ins Tor zu chippen, um dann in typischer Manier an die Grundlinie zu sprinten, wo sich die Kollegen aufstellen. Hier bin ich: Leader of the Pack, der Chef auf diesem Spielplatz, Franck Ribéry, der rasende Gockel, nie war ich so selbstbewusst wie heute.
Der Sommer 2013 ist der glücklichste in seiner Laufbahn. Das Triple hat ihn bestätigt, dass die Entscheidung, langfristig beim FC Bayern zu bleiben, die richtige war. Ribéry steht in der engeren Auswahl bei der Wahl zu „Europas Fußballer des Jahres“, und aufgrund der mäßigen Saison, die Lionel Messi gespielt hat, wird er sogar als Weltfußballer gehandelt. Mit 30 bekommt der Junge aus Boulogne-sur-Mer endlich die Wertschätzung, die er sich immer gewünscht hat.
Das Trainingslager am Gardasee ist ein eindrucksvoller Beleg, dass der FC Bayern wieder oben auf der Popularitätsskala angekommen ist. Und mit ihm die Führungskraft Ribéry. 4000 Fans verfolgen das öffentliche Training in Arco. Jeder Doppelpass wird von Jubel begleitet. Zum Aufwärmen donnert „Stern des Südens“ aus den Boxen. Wenn der Mannschaftsbus den Motor anlässt, stehen Fans scharenweise am Zaun. Ein Zirkus. Der Franzose aber genießt die durchgeknallte Sommerfrische sichtlich.
Der Superstar ist die Mannschaft – und Ribéry bekennt sich zu ihr. Lange hat er sich um das Bekenntnis zu den Bayern gedrückt. Als er 2007 nach München kam, war er das fehlende Mosaiksteinchen für ein großes Versprechen. Uli Hoeneß wollte mit ihm den FC Bayern der Zukunft begründen. Doch er war nicht der erste Franzose, der trotz zuverlässiger Leistungen seine Legionärsmentalität lange Zeit nicht ablegte. Ribéry machte keinen Hehl daraus, dass er München als Zwischenstation verstand. Seine Sehnsucht nach ganz großen Erfolgen, so glaubte er, würde sich nur in der spanischen oder englischen Liga befriedigen lassen.
Bei Real Madrid machte sich Zinedine Zidane für seinen Wechsel stark. An der Seite von Zizou war Ribérys Stern bei der WM 2006 aufgegangen. Als 2009 auch Ribérys Kumpel Karim Benzema in die spanische Metropole wechselte, wurde der Wunsch, ihm zu folgen, sehnlicher. Bis dahin hatte er nur eine Meisterschaft und einen Pokal mit dem FC Bayern gewonnen. Als das Jahr 2010 begann, schienen die Zeichen auf Abschied zu stehen.
Deutsche Medien zeichnen seit jeher ein eher versöhnliches Bild von Ribéry. Sie rühmen ihn für sein Alleinstellungsmerkmal, Gegner aus dem Stand heraus ausspielen zu können und wie ein hungriger Greifvogel Löcher in die gegnerischen Abwehrreihen zu reißen. Ansonsten zimmert die Presse beharrlich am Image des Spaßvogels. Die Wasserbomben vom Dach des Trainingszentrums auf den frischgeföhnten Oliver Kahn. Die Zahnpasta auf der Türklinke. Ribéry am Steuer des Mannschaftsbusses, der plötzlich auf den Hotelpool zurollt. Wahlweise zerschnittene oder zusammengeknotete Schnürsenkel. Die zugeklebten Hoteltüren. Zuletzt das millionenfach geklickte Youtube-Video, wie er affenartig über den Trainingsplatz tigert und dem Co-Trainer das Bein stellt. Kein Boulevardblatt erscheint ohne den täglichen Ribéry-Slapstick. Und so manifestierte sich das Zerrbild des schlichten Lausbubengemüts. Das Image des Kindskopfs. Dass Ribéry durch sein Vorleben auch mit einer sensiblen Cleverness ausgestattet ist, die man nur auf Straße lernen kann, wird oft unterschlagen.
In seiner Heimat Frankreich ist die Sicht auf ihn kritischer und oft von einer gewissen Abschätzigkeit geprägt. Als Nordfranzose spricht er einen breiten Dialekt, der den Puristen im zentralistischen Land suspekt ist. Seine marginalen Grammatik-Fehler finden viele Franzosen peinlich. In der Comedy-Show „Les Guignols de l’info“ auf Canal + ist die Ribéry-Puppe wegen ihrer Syntaxmängel ein großer Lacher. Die Kinokomödie „Willkommen bei den Sch’tis“, die sich über die Eigenheiten von Nordfranzosen lustig macht, soll nicht zuletzt wegen ihm zum Leinwandthema geworden sein.
Die Erwartungshaltung als Fluch
Außerdem nehmen ihm manche Landsleute übel, dass er das Vakuum, das sich nach Zidanes Rücktritt in der Nationalelf auftat, nicht mit entsprechender Würde zu füllen vermag. Für Ribéry, der von der Lichtgestalt als „Juwel“ des französischen Fußballs geadelt worden war, wurde die Erwartungshaltung zum Fluch. Im Licht, ohne den langen Schatten der Ikone, wirkten seine Leistungen nach 2006 im Dress der Equipe Tricolore plötzlich weniger schillernd. Dass er dabei einer Spielergeneration voransteht, die größtenteils nicht über die Begabung der Weltmeister von 1998 verfügt, wird bei der Bewertung gern vergessen. Zumal ihm auch seine Sozialisation keine Rolle als heldenhafter Anführer zugedacht hat.
Denn Ribérys Story ist ein klassischer Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Stoff. Ein tragisches Epos mit einem schwülstigen Happy End in der Gegenwart. Er stammt aus Chemin Vert, dem Armutsviertel in Boulogne, einer Hafenstadt am Ärmelkanal. Er wächst mit drei Geschwistern Tür an Tür mit der Essensausgabe für Bedürftige auf. Mit zwei Jahren zerschneidet ihm das Fensterglas des elterlichen Autos nach einem Verkehrsunfall das Gesicht. Der Junge aus dem Scherbenviertel mit der Narbe, die ihn bald wie den Killer aus einem Lino-Ventura-Krimi aussehen lässt, ist ein Außenseiter. Als Teenager fällt er ständig durch Disziplinlosigkeiten auf. Mit 16 fliegt er von der Fußballakademie in Lille, weil er einem Mädchen, das ihn hänselt, den Arm bricht. Von seinem Jugendtrainer José Pereira ist der Satz überliefert: „Franck war wie ein Milchtopf. Ständig musste man ein Auge auf ihn haben, weil er kurz vorm Überkochen war.“ Als er mit zwanzig noch immer nicht vom Fußball leben kann, hilft er seinem Vater Francois, dem Straßenbauer, einige Zeit mit der Spitzhacke auf dem Bau. Die Schattenseiten des Instinktfußballers mit dem vermeintlichen Dauerschalk im Nacken.
Väterlich Autorität
Erst Jean Fernandez, der Trainer, der ihn 2004 beim FC Metz unter seine Fittiche nimmt, befreit ihn aus dem Jammertal. Der Übungsleiter besitzt genau die Art von väterlicher Autorität, die ihm noch öfter in seiner Karriere zu Höchstleistungen verhelfen soll. Fernandez – der schon der Karriere von Zidane einen wichtigen Kick gab – erkennt, dass auch Ribéry von der Natur mit dem spielentscheidenden Talent ausgestattet wurde, das sich nicht trainieren lässt. Er kanalisiert Ribérys Wut auf die Welt in Explosivität und Spielfreude auf dem Platz. Metz wird für ihn zur Abschussrampe Richtung Fußballhimmel. Plötzlich geht alles ganz schnell: Galatasaray, Olympique Marseille, Nationalmannschaft. Vizeweltmeister!
Als er 2007 zum FC Bayern kommt, findet er in Ottmar Hitzfeld einen Trainer, der Fernandez nicht unähnlich ist, und der seinen 25-Millionen-Euro-Einkauf mit großer Fürsorge empfängt. Ribéry tut sich schwer mit Befehlen. Seine Pflichtbereitschaft entwickelt sich eher durch das Gefühl, wahrgenommen, anerkannt und gemocht zu werden. Hitzfeld redet so oft es geht mit ihm. Das Ergebnis spiegelt sich auf dem Rasen wider, wo das traditionell eher von Ergebnisorientierung geprägte Spiel der Bayern plötzlich ungeahnte Rasanz erfährt.
Das WM-Jahr 2010 soll seine Karriere krönen. Der Transfer zu Real Madrid scheint nur noch Formsache zu sein. In der Nationalelf ist er eine feste Größe, auch wenn er die exklusiven Vorstellungen, die er im Verein abliefert, im Trikot der Blauen oft schuldig bleibt. Mit rund elf Millionen Euro Jahresgehalt ist er der bestverdienende französische Sportler. Doch dann geht wieder alles schief: Als im April die Affäre mit einer 17-jährigen Prostituierten bekannt wird, lässt Real ihn wie eine heiße Kartoffel fallen. Aus dem Champagner-Fußballer wird auch in Deutschland über Nacht „der verlogene Sohn“ („Spiegel“). Eine Haftstrafe droht. Dazu die Umstände: Er, der verheiratete Familienvater, der für seine algerischstämmige Frau zum Islam konvertiert ist und den Namen Bilal Yusuf Mohammed angenommen hat, der als einziger Bayern-Spieler auf dem Promobild des Weißbier-Sponsors dem Fotografen nicht mit einem Bierglas zuprostet, hat Sex mit einer Minderjährigen gehabt. Seine Existenz steht plötzlich auf der Kippe. Und mit ihr der Respekt, auf den er so lange hat verzichten müssen. Als er bei der WM in Südafrika auch noch als einer der Rädelsführer bei der Meuterei gegen Nationalcoach Raymond Domenech identifiziert wird, wird er in der Heimat vorübergehend zur Persona non grata. In Boulogne sorgt der Bürgermeister dafür, dass ein überdimensionales Sponsorenplakat mit Ribérys Konterfei verschwindet.
„ Isch ’abe gemacht fünf Jahre mehr.“
Der FC Bayern erkennt den schicksalhaften Augenblick, besinnt sich auf seine Urtugenden und baut einen Schutzwall um seinen Star. Mannschaftskapitän Mark van Bommel steht am Abend nach Bekanntwerden der Prostituiertenaffäre vor der Haustür der Ribérys und tritt im Ehekonflikt als Vermittler auf. Uli Hoeneß lädt den geschundenen Sch’ti zu sich an den Tegernsee ein und schmeißt ihn zu mit all seiner Fürsorge. Die Ereignisse öffnen Ribéry die Augen. Als die Mannschaft am Marienplatz das Double 2010 feiert, spricht er die Worte, die für Bayern-Fans bald den Stellenwert einnehmen, den Kennedys Rede einst für West-Berlin besaß: „Isch ’abe gemacht fünf Jahre mehr.“
Er wird seine Karriere beim FC Bayern beenden. Wenn der kürzlich erneut verlängerte Kontrakt ausläuft, ist er 34. Sein Deutsch wird stetig besser, was auch positive Effekte auf seine Muttersprache haben soll, wie man aus der Heimat hört. Ribéry ist kein Legionär mehr, er ist nun integraler Bestandteil der Bayern-Familie. Neben dem bajuwarischen Kumpeltyp Thomas Müller und dem rechtschaffenen Klassensprecher Philipp Lahm ist er die Symbolfigur des modernen, weltläufigen FC Bayern. Galt lange nur der Geschäftssinn von Uli Hoeneß als Inbegriff für bayrische Schlitzohrigkeit, verleiht neuerdings der anarchische Nordfranzose diesem Leitbild auch eine spielerische Komponente. Früher prägten Leitwölfe wie Stefan Effenberg oder Oliver Kahn mit Ellbogen und Gebrüll das Auftreten des Klubs, nun sind es das unerschöpfliche Fintenrepertoire und der renitente Individualismus des Franck Ribéry. Keinem Bundesligisten ist es in sechs Spielzeiten gelungen, den Ribéry-Code, diese Kombi aus hohem Tempo, belastbarer Physis und unorthodoxen Bewegungen, vollends zu entschlüsseln.
Ratschläge
Und Ribéry ist neuerdings auch bereit, Ratschläge anzunehmen. Als ihn Pep Guardiola zum Trainingsauftakt fragte, ob er sich vorstellen könne, statt über Linksaußen auch auf der Zehnerposition zu spielen, antwortete er, man könne ihn offensiv flexibel einsetzen. Als Louis van Gaal 2009 nach München kam, sah das anders aus. „Louis wollte ihn als Nummer 10 und ihn mit allen Freiheiten ausstatten“, erinnert sich Van Gaals Co-Trainer Andries Jonker, „aber das Angebot lehnte Franck ab, er wollte weiter auf Links spielen. Also sagte Louis: ›Dann musst du auch nach hinten arbeiten.“
Womöglich hat Van Gaal nur den Fehler gemacht, ihn nicht wie Hitzfeld freundlich zu fragen, ob er die Aufgabe übernehmen wolle, sondern sie ihm brüsk aufgetragen. Und mit Bevormundungen ist das eben so eine Sache. Die selbstgewisse Art von Van Gaal, der nicht akzeptiert, dass ein Freigeist wie Ribéry sich nicht vollends in eine Schablone pressen lässt, führte zur Entzweiung mit dem Straßenfußballer, der fortan oft schmollend über den Trainingsplatz trottete. „Möglicherweise ist er unter Louis van Gaal das erste Mal mit Disziplin konfrontiert worden“, erklärt Andries Jonker. „Man merkte, dass er nicht gewohnt war, auf mangelnden Einsatz angesprochen zu werden.“
Erst der weise Fußball-Methusalem Jupp Heynckes gab Ribéry seine Freude zurück und rang ihm die Bereitschaft ab, dazuzulernen. Im intimen Zwiegespräch machte er ihm bewusst, dass Auserwählte wie er für atemberaubende Dribblings zwar verehrt, aber nur für Grätschen in der eigenen Abwehr und das Spiel ohne Ball wirklich geliebt werden. Seither ist Ribéry in der Umschaltbewegung viel aktiver geworden. Die Chancen, dass sich diese Entwicklung unter Guardiola fortsetzt, stehen gut. Schließlich wirkt auch der Spanier bescheiden und integrativ auf die Mannschaft – und insbesondere auf den Franzosen, den er sich offenbar auf der Messi-Position vorstellen kann.
Zum Weltfußballer wird es wohl dennoch nicht reichen. Denn selten hing der Erfolg eines Klubs so sehr mit mannschaftlicher Geschlossenheit zusammen. Beim FC Bayern waren es in der Saison 2012/13 immer wieder andere, die in wichtigen Spielen den Unterschied ausmachten. Und: Für einen Profi mit seiner Begabung hat Ribéry im direkten Vergleich zu Lionel Messi und Cristiano Ronaldo noch zu viele Ballverluste. „Um Weltfußballer zu werden,“ urteilt Andries Jonker, „muss er dem Spiel noch mehr seinen eigenen Rhythmus geben. Er hat manchmal noch zu viel Zug zum Tor.“
Ein Erinnerungsfoto mit Lionel Messi
Dass ihm ein Quäntchen fehlt, scheint er irgendwie akzeptiert zu haben. Als die Bayern im April daheim den FC Barcelona mit 4:0 demütigten, wartete Ribéry mit seiner Entourage hinterher brav vor der Umkleide auf Messi, um Erinnerungsfotos mit ihm zu machen. Dabei ist es gerade diese Form der Unbekümmertheit, die ihn zur Attraktion macht. Wie auf dem Platz agiert er auch im Leben ohne Netz und doppelten Boden. Seine entwaffnende Naivität stiftet ihn zu seinen Max & Moritz-Streichen an, macht ihn auf uneitle Art sympathisch, verleitet ihn aber auch oft zu Übersprungshandlungen. Wenn sich irgendwo ein Rudel bildet, ist Ribéry der erste, der sein Revier markiert und die Brust herausdrückt, wie früher bei den Wochenend-Handgemengen.
Das Training ist vorüber, die Zuschauer haben das Stadion in Arco verlassen, da hält Franck Ribéry mit den Youngstern David Alaba, Emre Can, Diego Contento und Mitchell Weiser am Mittelkreis immer noch den Ball hoch. Wer einen Fehler macht, wird von den anderen mit einer sanften Ohrfeige bestraft. Es ist klar, dass der Franzose die Regeln vorgibt, denn er wird so gut wie nie gezüchtigt. Als Alaba zum Ohrfeigen antreten muss, tritt der Franzose auf ihn zu, blinzelt und klatscht ihm mit aller Kraft links und rechts ein paar an den Hals. Es muss weh tun, man hört es bis auf die Tribüne klatschen. Der Österreicher schaut erschrocken, doch als er Ribéry losrennen sieht, muss er lachen und macht Jagd auf ihn. Wie zwei Welpen rasen sie über den Platz. Zwei begnadete Fußballer, die rennen und rennen. Doch Franck Ribéry ist nicht zu fassen.