Erling Haaland wechselt zu Manchester City. Doch alles begann für ihn in der Kleinstadt Bryne in Norwegen. Mit einer Mannschaft, in der Freundschaft wichtiger als Siegen war und gerade deshalb Sieger hervorbrachte.
Dieser Text erschien erstmals in 11FREUNDE #244. Das Heft gibt’s hier im Shop.
Von der Dachterrasse des Forum Jæren, einem zwanzigstöckigen Büroturm neben dem Bahnhof von Bryne, ist die Aussicht selbst an einem bewölkten Januarnachmittag beeindruckend. Die Landschaft ist so flach wie sonst selten in Norwegen, so dass man über die grünen Wiesen und windgepeitschten Felder rund um die Stadt weit schauen kann. Wären die Wolken nicht, würde man das Meer sehen können. Bryne mit seinen rund 12 000 Einwohnern ist das Verwaltungs‑, Handels- und Bildungszentrum von Jæren, einer der produktivsten landwirtschaftlichen Regionen Norwegens. Doch weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt gemacht hat die Stadt ein 21 Jahre alter Fußballspieler, den gerade die ganze Welt bestaunt: Erling Braut Haaland.
Wenn man vom Forum Jæren entlang der Bahnlinie in Richtung Süden geht, ist es nicht weit bis zum Stadion des Zweitligisten Bryne FK, eines bescheidenen, aber stolzen Vereins. Er ist tief in der landwirtschaftlichen Tradition der Region verwurzelt, wie das Vereinsmotto verrät: „Wir wollen die Freude am Fußball säen, Talente fördern und Wunder ernten.“ Während seiner Blütezeit in den achtziger Jahren, als Bryne FK den norwegischen Pokal gewann und zweimal Vizemeister wurde, nannte man den Klub sogar „Der Musterbauernhof“. Diese großen Zeiten sind zwar längst vorbei, aber in Bryne spielt Fußball immer noch eine besondere Rolle und ist ein wichtiger Teil der lokalen Identität. Selbst für norwegische Verhältnisse ist Bryne nämlich eine ziemlich kleine Stadt, und die meisten haben von ihr nur wegen des Fußballs gehört.
Wenn man über den Parkplatz des Stadions geht, vorbei am Fanshop, einer Bowlingbahn und einem Fitnesscenter, kommt man schließlich zur Jærhallen. Die Trainingshalle ist ziemlich heruntergekommen, teilweise mit Graffiti beschmiert und hat etliche Löcher in den Außenwänden. Jedenfalls sieht sie nicht gerade wie die Geburtsstätte eines Superstars aus, doch als Kind verbrachte Erling Braut Haaland hier wahrscheinlich mehr Zeit als irgendwo sonst. Die Jærhallen wurde 2003 eröffnet, und im selben Jahr beendete Erlings Vater Alfie Haaland nach einem Jahrzehnt in England seine Profikarriere. Er hatte dort bei Nottingham Forest, Leeds United und Manchester City gespielt, und nun kehrte der ehemalige Nationalspieler nach Bryne zurück.
Erling war damals drei Jahre alt, und sein Vater war nicht der einzige Sportler in der Familie. Als Bryne FK Mitte der siebziger Jahre mit einer Mannschaft aus einheimischen Spielern erstmals den Aufstieg in die erste Liga schaffte, war Gabriel Høyland der unbestrittene Star der Mannschaft. Der Stürmer wurde Brynes erster Nationalspieler, obwohl er hauptberuflich als Landwirt arbeitete. Gabriel Høyland ist Erling Haalands Großonkel. Seine Großmutter Inger Aase war in ihrer Jugend eine vielversprechende Sprinterin und seine Mutter Gry Marita Braut eine talentierte Siebenkämpferin. Alfies Vater Astor spielte in der ersten Mannschaft von Bryne in der zweiten Liga. Zweifellos hat Erling Haaland von Seiten seiner Familie die Gabe des Sports erhalten. Doch ein sportlich privilegiertes Umfeld sorgt nicht zwangsläufig dafür, dass ein Kind sich zum Spitzensportler entwickelt. Was also hat Erling Haaland zu Erling Haaland gemacht?
Seit 16 Jahren spielt Christian Günter für den SC Freiburg. Wird es nicht mal Zeit für einen Tapetenwechsel? Ein Gespräch über Vereinstreue, Regenbogen und eine Rettung zur richtigen Zeit.
„Die Leute werden sagen, dass Erling ein Spitzenspieler geworden wäre, egal wo er aufgewachsen wäre. Und das glaube ich auch“, sagt Alf Ingve Berntsen, sein ehemaliger Jugendtrainer bei Bryne FK. Er glaubt aber, dass Erling Haaland nicht nur von zu Hause beeinflusst wurde, sondern auch vom Verein, denn dort gibt es eine lange Tradition von Spitzenfußball. „Es ist hier in Ordnung, Ehrgeiz zu haben“, sagt Berntsen, ein eigentlich leiser und zurückhaltender Mann, der aber sehr passioniert wird, wenn es um die Arbeit mit jungen Fußballspielern geht. Als er Haaland zu trainieren begann, gab es in Bryne den später berühmt gewordenen Jahrgang ’99. Das war eine Gruppe von fast vierzig Jungen (und einem Mädchen), die vom sechsten bis zum sechzehnten Lebensjahr zusammenblieb. Haaland, der im Jahr 2000 geboren wurde, stieß etwas später dazu, nachdem er aufgrund seines unübersehbaren Talents aus seiner eigenen Altersgruppe hochgestuft worden war. Das Team war Gegenstand des Buches „Das Fußballprojekt“ des lokalen Autors Ørjan Zazzera Johansen und wurde von einer wissenschaftlichen Studie begleitet.
Martin Erikstad von der Universität Agder, der seine Doktorarbeit über die Talententwicklung im norwegischen Fußball geschrieben hat, war an dieser Studie beteiligt. „Was wir an dieser Mannschaft wirklich interessant fanden, ist, dass eine große Gruppe über einen so langen Zeitraum zusammenhielt und so viele gute Spieler aus ihr hervorgingen.“ Zehn der 40 Spieler schafften es in die Auswahlmannschaft des Bezirks, sechs wurden sogar Jugendnationalspieler, und mit Haaland ist einer von ihnen inzwischen einer der besten Fußballer der Welt. Das wäre sowieso schon außergewöhnlich, erst recht aber bei so einem kleinen Ort. Erikstad glaubt aber, eine Erklärung dafür gefunden zu haben: „Lernen war in dieser Mannschaft immer wichtiger als Gewinnen. Alle durften spielen, und so entwickelten sich starke Freundschaften und menschliche Werte. Selbst für die talentiertesten Jugendlichen ist aber das Gefühl des sozialen Wohlbefindens wichtig.“ Berntsen ließ die Spieler sich entwickeln und schrieb nicht einfach vor, was zu tun war. Es gibt eine berühmte Anekdote dazu. Als die Mannschaft in der ersten Halbzeit eines Spiels überhaupt nicht mit dem gegnerischen Mittelstürmer klar kam, sagte Berntsen in der Halbzeitpause: „Ich könnte euch jetzt erklären, was ihr tun sollt, aber es ist besser, wenn ihr selber darauf kommt.“