Bei der Weltmeisterschaft in Russland war ja zum Glück noch Jogi Löw Schuld, wie er nach wochenlanger Selbstbefragung mitteilte. Fast schon arrogant, so geißelte er sich, hatte der Bundestrainer an der Idee festgehalten, dass seine Mannschaft dank ewigem Ballbesitz die Gegner an die Wand spielen sollte. Danach verkündete er einen Neuanfang und vollzog ihn mit Verspätung, als er überraschend an der Säbener Straße auftauchte, um den perplexen Thomas Müller, Mats Hummels und Jerome Boateng das Ende ihrer Karriere im Nationalteam mitzuteilen. Seither ist viel passiert, und wenig davon war wirklich gut.
In Holland gewann die deutsche Nationalmannschaft 2019 mit 3:2, gegen Argentinien gab es im gleichen Jahr ein tolles Spiel, aber nur ein 2:2, und etwas später wurde Nordirland mit 6:1 überrannt. Dann folgten reihenweise seltsame Unentschieden mit späten Gegentoren, eine ewige Pandemiepause und das 0:6 in Spanien. Seither kündigte Löw seinen Rücktritt zum Ende der kommenden Euro an, und für einen Moment fühlte sich alles nach zartem Aufbruch an. Der Bundestrainer wirkte erfrischt, seine Mannschaft gegen Island und in Rumänien halbwegs beseelt.
Doch spätestens mit dem 1:2 gegen die Mannschaft aus „Nordwestmazedonien“, wo zumindest der weitgehend uninteressierte Fernsehexperte Uli Hoeneß den Gegner verortete, rundet sich das Bild auf unschöne Weise. Bislang hatte es den Eindruck gemacht, dass die Serie der Holperer und Pleiten nur Einzelfälle waren: vercoachte WM, verzögerter Neuanfang, Wachstumsschmerzen beim Neuanfang, so-eine-Pleite-wie-in-Spanien-kann-jedem-mal-passieren. Aber was ist, wenn die These von den Einzelfällen nicht stimmt und weder Löw, noch der gern-gehasste Bierhoff oder sonstwer der Sündenbock ist, sondern einfach die Mannschaft nicht so gut, wie alle denken?
Natürlich verfügt sie mit Ilkay Gündogan, Joshua Kimmich und Leon Goretzka, selbst ohne Toni Kroos, über ein Mittelfeld, das genauso zu High-End-Fußball in der Lage ist, wie Serge Gnabry, Leroy Sané und Kai Havertz. Mit Florian Witz und Jamal Musiala gibt es dahinter noch ganz außergewöhnliche Talente, aber letztlich ballt sich die ganze Qualität weitgehend im erweiterten Mittelfeld, während die Abwehr weiter hinter dieses Niveau zurückfällt und im Angriff ein echter Mittelstürmer fehlt. Warum Löw Timo Werner derzeit so zögerlich einsetzt, belegte der überzeugend, als er gegen Nordmazedonien eine Torchance verstolperte, die an den unseligen Mario Gomez bei der Euro 2008 erinnerte.
Die Niederlage gegen den 65. der Weltrangliste mochte vielleicht unglücklich sein, wenn man die Chancenverteilung anschaut, aber sie war beileibe kein Freakresultat. Die deutsche Mannschaft kam kaum auf Touren, und der Außenseiter hatte sogar Pech mit dem Schiedsrichter, der einen eher strittigen Elfmeter für Deutschland pfiff und ein Handspiel von Emre Can im eigenen Strafraum übersah. Außerdem durfte er zweimal so frei im Strafraum ins Tor schießen, wie das nur eine schlecht abgestimmte Abwehr zulässt. Die Probleme mit einer wackeligen Defensive sind inzwischen so notorisch, dass es eines gewissen Wunderglaubens bedarf, dass sie zur Europameisterschaft einfach so abgestellt sein werden. So sind die zarten Frühlingsgefühle um das Nationalteam schneller vorbei als erwartet, und irgendwie riecht es bereits nach Winter.