Von zehn Fußbällen auf dieser Welt stammen sechs aus einer Stadt im Nordosten von Pakistan. Dass sich in Sialkot heute alles um das runde (Kunst-)Leder dreht, hat viel mit Cricket zu tun und auch ein wenig mit einem dänischen Nationalspieler.
Diese Reportage erschien erstmals in 11FREUNDE #223. Das Heft ist hier bei uns im Shop erhältlich.
Für Zaimar Anjum ist Fußball ein Spiel der immergleichen Handgriffe. Sie sitzt auf einem Stühlchen, zwischen die hochgezogenen Knie hat sie eine Zange aus Holz geklemmt, in die sie einen sechseckigen Lederflicken steckt. Sie hält ein weiteres Stück daneben und sticht von rechts nach links und zurück nach rechts durch die ins synthetische Leder gestanzten Löcher, erneut nach links, rechts und links, dann wickelt sie den Faden um zwei kleine Holzrollen, die sie mit den Fingern umschließt, zieht die Stiche fest, greift wieder zur Nadel, rechts, links und wieder rechts.
Fußball ist für Zaimar Anjum eine einfache Rechnung. Sie geht so: Da sind 20 Sechsecke und 12 Fünfecke, die Zaimar mit 630 Stichen und an den Ecken mit 60 Doppelstichen zusammennäht. Dafür bekommt sie zwischen 150 und 170 pakistanische Rupien, ungefähr ein Euro. Sie schafft drei Bälle am Tag und verdient im Monat zwischen 50 und 60 Euro. Ein guter Lohn in diesem Land, vor allem für eine Frau.
Zaimar Anjum ist 24 Jahre alt und kommt aus Bopalwala in der Nähe der pakistanischen Stadt Sialkot. Am Rand ihres Dorfes hat das Unternehmen Anwar Khawaja Industries einen Produktionsstandort, der aus einem Haus mit Hof und einer Halle besteht, umgeben von einer Mauer. Vor dem Tor steht ein Wachmann. Überall in Pakistan stehen Wächter vor Türen und Toren. In der kargen Halle sitzen 35 Frauen auf niedrigen Hockern oder Matten, die sie über den Betonboden gelegt haben. In einer Ecke gibt es einen von den Frauen eingerichteten Hort, in dem kleine Kinder lärmend spielen. Zaimar Anjum kommt seit vier Jahren hierher und näht Bälle, meistens Fußbälle, manchmal auch Handbälle.
Viele der Frauen fangen frühmorgens an, nähen zwei Bälle, gehen zurück ins Dorf, kochen für ihre Kinder und nähen nachmittags in der Halle noch einen Ball. Man kann auch sagen, dass die Arbeit zu ihnen kommt. Die Frauen aus Bopalwala würden nie in Sialkot Bälle nähen. Weil die Stadt zehn Kilometer entfernt ist. Weil sie sich um die Kinder kümmern müssen. Weil ihre Ehemänner es nicht erlauben würden. In der Fabrik, die Anwar Khawaja Industries in Sialkot betreibt, arbeiten 700 Männer und keine einzige Frau.
„Ich weiß, das unsere Bälle den Menschen in Deutschland viel bedeuten“
Wenn man Zaimar Anjum fragt, worauf sie beim Nähen achtet, antwortet sie, dass ihr Kopf den Händen vertraut. „Dann fällt mir die Arbeit leichter und ich kann mit den anderen Frauen reden.“ Die Halle sei ihr Bazar für alle Neuigkeiten aus Bopalwala. Hat sie schon einmal ein Fußballspiel gesehen? Hat es ihr gefallen? Zaimar Anjum lacht verlegen; sie versteht die Frage nicht. Eine Frau sagt etwas, eine andere mischt sich ein, eine Diskussion in der Nationalsprache Urdu, dazwischen ein paar Worte auf Englisch. Ergebnis: Fußball ist ein Spiel. Mit den großen Bällen, nicht mit den kleinen.
Zaimar Anjum schüttelt den Kopf, lächelt, sie will dem Besucher jetzt unbedingt etwas Freundliches sagen: „Ich weiß, das unsere Bälle den Menschen in Deutschland viel bedeuten.“ Dabei zeigt sie auf die zusammengenähten Lederflicken vor ihren Füßen, auf denen der Name einer deutschen Biermarke steht.
Für Muhammad Hussain ist Fußball Kontrolle. Er überwacht die Produktion der Bälle bei Anwar Khawaja Industries in Sialkot. Die Industriestadt im Nordosten des Landes wird gerne als „Hauptstadt des Fußballs“ bezeichnet, weil rund 60 Prozent aller Bälle auf der ganzen Welt hier hergestellt werden. „Die Komponenten für das synthetische Leder kommen aus drei Ländern“, erklärt Hussain beim Gang durch die Fabrik, in der es nach Klebstoff, Gummi und Farben riecht. „Aus China für die gewöhnlichen, aus Südkorea für die besseren Bälle, aus Japan für die Bälle, die in der Bundesliga, der niederländischen Eredivisie oder in der portugiesischen Liga gespielt werden.“
Ein Ball besteht aus mehreren Schichten Leinen und Polyurethan, die in langen Bahnen übereinandergelegt, zugeschnitten und miteinander verklebt werden. Danach trocknen die badetuchgroßen Lappen in einer Wärmekammer, bevor Männer an Maschinen aus ihnen Sechs- und Fünfecke stanzen. Diese werden in Handarbeit mit Farben und Schriften im Siebdruckverfahren bedruckt und anschließend in Säcken zusammen mit Nähanleitungen zu Werkstätten wie der bei Zaimar Anjums Dorf gebracht. „Der Aufwand für einen handgenähten Ball ist natürlich größer als für einen Ball, der an der Maschine genäht wird oder dessen Nähte im Thermoverfahren heiß verklebt werden“, sagt Muhammad Hussain. Auch bei Anwar Khawaja Industries werden Bälle maschinell genäht, aber das Unternehmen bleibt bis heute seinen Wurzeln treu und hat sich zum Spezialisten für hochwertige handgenähte Bälle entwickelt.