Unser Autor ist HSV-Fan, Hertha findet er aber auch okay. Beide Vereine sind nämlich gar nicht so verschieden.
Ich bin ein Zugezogener. Vor 15 Jahren hatte ich genug von Hamburg und ging nach Berlin. Die Stadt hatte damals die besten Jahre schon hinter sich, sagten die Einheimischen, die Bescheidwisser, die Zuvorgekommenen. Aber gut, für mich war es abenteuerlich genug. Vieles war immer noch total neu, ganz anders zumindest, als ich es aus Hamburg kannte. Berlin war lauter, dreckiger, miesepetriger. Und viel günstiger. Mein erstes WG-Zimmer, 25 Quadratmeter, Prenzlauer Berg, kostete ungefähr so viel wie ein Snickers-Riegel. Keine Heizung, Dusche im Treppenhaus. Aber das war egal, man war eh immer in Bewegung, denn so schlecht gelaunt die meisten Menschen waren, so ausdauernd tanzten sie. Immer und überall elektronische Musik. Wurzelbehandlung, während der Zahnarzt die neue Maxi von Aphex Twin auflegte. Fahrkartenkontrolleure, die durch die U8 zappelten wie Marusha oder Sven Väth. Zur Kontoeröffnung bei der Sparkasse ein Getränkechip fürs Watergate.
Berlin war ein einziger Sleepless-Floor, was vielleicht auch damit zusammenhing, dass alles rund um die Uhr geöffnet hatte. Supermärkte, Kneipen, Clubs, Bäcker, Blumenläden, Lakritzläden, Sockenläden, Apotheken, Dönerbuden und diese witzigen Kioske, die hier Spätis heißen. Das Schönste aber: Niemand trug in Berlin türkise Polohemden mit hochgestellten Kragen und knotete sich seinen teuren Strickpullover vorne zusammen. Niemand ging an einem Innengewässer flanieren und ließ sich dann auf der Terrasse eines Ruderclubs nieder, um eine Weißweinschorle zu trinken. Niemand schien überhaupt etwas zu machen. Außer zu tanzen, wie gesagt.
Eine Sache war aber genauso wie in Hamburg: Der große Fußballverein der Stadt war irgendwie ganz schön uncool. Er wirkte arrogant, hängengeblieben, prollig, großmäulig, weit draußen. Zugezogene Fußballfans, die was auf sich hielten, gingen zu Tebe oder fuhren nach Potsdam zum SV Babelsberg. Einige Romantiker pendelten zwischen Lichtenbergs Hans-Zoschke-Stadion, Tasmanias Werner-Seelenbinder-Sportpark und dem Poststadion in Moabit. Und, na klar, irgendwann fanden sich auch viele von ihnen bei Union ein. Tolles Stadion, echter Fußball. Eiserner Underdog. Arbeiterfußball von unten. Kult halt.
Ich kannte das alles aus Hamburg.
Mitte der Achtziger wurde ich Fußballfan. Damals existierte der FC St. Pauli noch gar nicht. Jedenfalls nicht so wie heute. „Der FC St. Pauli war ein alter Schnarchsackverein mit rechten Tendenzen“, sagte Slime-Sänger Dicken Jora, dessen Fußballsozialisation beim HSV begonnen hatte. Mein Vater nahm mich manchmal mit ans Millerntor. In meiner Erinnerung waren selten mehr als 2000 Zuschauer da, Zäune gab es nicht, und wir konnten wie auf einer Bezirksportanlage einfach um das Spielfeld herumwandern. St. Pauli wirkte auf mich wie ein besserer Amateurverein, für richtigen Fußball fuhren wir nach Stellingen ins Volksparkstadion.
Ein paar Jahre später hatte sich die Situation geändert. Der HSV spielte katastrophal schlecht, die Mannschaft wurde immerzu Elfter oder Zwölfter, und in den Blöcken E und F der Westkurve stiefelten die Neonazis auf und ab. Meine Freunde und ich standen mittlerweile in Block D. Bisschen Stimmung, aber auch bisschen asozial. Einmal verließen ein Freund und ich zehn Minuten vor dem Pausenpfiff den Block und gingen zum Wurststand, der sich im Umlauf hinter der Westkurve befand. Zwei Neonazis folgten uns und drückten ihre Fäuste in unsere Rücken. „Scheiß Zecken!“, zischten sie. Die zwei, drei Ordner am Aufgang drehten sich demonstrativ weg. Unsere langen Haare und Nirvana-Shirts passten den stolzen Deutschen nicht. Wir rannten los, die Nazis lachten. Mein Freund kam nie wieder. Bald holte er eine Dauerkarte für St. Pauli, und ich konnte es ihm nicht verübeln.
Wieder mal super Stimmung in der Westkurve.
Das Millerntor hatte sich in der Zwischenzeit verwandelt. Punks und Linke besetzten die Tribünen wie ein paar Jahre zuvor die leerstehenden Häuser in der Hafenstraße. In der Gegengerade und der Nordkurve tummelten sich auf einmal Leute, die nie zuvor zum Fußball gegangen waren, denen Fußball zu banal gewesen war, zu kapitalistisch, zu systemerhaltend, zu asozial. Aber auch viele ehemalige HSV-Fans, die genug hatten von der Springerstiefelparade im Volksparkstadion, machten rüber.
Im Fernsehen jubelten die Moderatoren der neuen Privatsender vom „Freudenhaus der Liga“ und dem „etwas anderen Klub“. Kult. Aber es stimmte ja, der FC St. Pauli war das genaue Gegenteil des alten und konservativen Fußballs. Er war bunt, wild, offen, und ja, er war cool. Wer nur ein bisschen was übrig hatte für linke Subkulturen, hielt nun zum FC St. Pauli. Das schien common sense.
Ich kann gar nicht mehr genau sagen, was mich damals, Anfang der Neunziger, beim HSV hielt. Es war vieles so beschissen. Nicht nur die Neonazis im Block. Auch der Weg nach Stellingen, diese endlose Fahrt mit der S‑Bahn. Immer die Sorge, dass einen irgendjemand abpasste oder sonstwie auf Krawall aus war. Dann dieses abweisende Stadion mit seiner brutalistischen Architektur. Die Spielerbank war in eine enge Steinmulde eingelassen, an deren Seite ein großes Loch klaffte. Ein Manager oder Trainer hatte die Umbaumaßnahme einst veranlasst, um die linke Spielfeldhälfte sehen zu können. Einige Fans glaubten, er habe den Beton vor Wut eingetreten. Wut auf Fußball. Wut auf dieses Stadion. Sowieso, die handelnden Personen im Klub, Stecktuchtypen, die ständig davon sprachen, dass der HSV ein großer Klub sei, vielleicht der größte nach dem FC Bayern. Und dann 0:1 gegen Bayer Uerdingen vor 5000 Zuschauer.
Was also hielt mich? Vielleicht verpasste ich einfach den Absprung. Vielleicht war ich zu faul, etwas Neues zu beginnen. Vermutlich aber war es wirklich so, wie Nick Hornby mal schrieb: „Du suchst Dir nicht Deinen Verein aus, sondern Dein Verein sucht sich Dich aus.“ Und natürlich war da auch immer der Traum, dass es besser wird. Eines Tages. Die Schönheit der Hoffnung. Ist es nicht das, was alle Fußballfans immer wieder ins Stadion zieht?
Manchmal wurde es aber echt kompliziert. Wenn ich zum Beispiel auf Punkkonzerte ging, trugen einige Leute braune Totenkopfpullover, andere hatten Shirts, auf denen die Postleitzahl des Stadteils St. Pauli stand. Wenn ich sagte, ich sei HSV-Fan, wurde ich angeguckt, als hätte ich mich als Wahlkampfhelfer von Ronald Schill oder Großwildjäger geoutet. Zur Distinktion taugte der HSV überhaupt nicht, er war Super-Mainstream, fett, rückwärtsgewandt, unbeweglich. Großraumdisko statt Golden Pudel Club, Scooter statt Goldene Zitronen.
Und wo wir schon dabei sind, der Titel einer Zitronen-Platte fasste diese Zeit treffend zusammen: „Porsche, Genscher, Hallo HSV“. Der HSV stand für das Arrivierte und Alte. Für Industrie, Macht, Geld. Fürs Flanieren an der Außenalster in türkisfarbenen Polohemden. „Es war ein Durchschnitt aus diesem BRD-Gefühl“, sagte Sänger Schorsch Kamerun mal über das Cover. (Fun Fact: Der damalige Zitronen-Schlagzeuger Ale Dumbsky, links auf dem Cover, ist HSV-Fan).
So ging das viele Jahre. St. Pauli stieg ab und wieder auf, und wurde immer größer und beliebter. Irgendwann wirkte der Klub wie eine Klamottenmarke, die man sich überstreifte für ein bisschen Andersartigkeit. Selbst wenn du unter der Woche einen Job in einer zweifelhaften Agentur gemacht hattest, mit dem St.Pauli-Totenkopf konntest du ein bisschen Freibeuter und Rebell sein.
Es war nicht nur ein Hamburger Phänomen, es war überall. Ich studierte in den Nullerjahren in Lüneburg. Dort erklärten mir zugezogene Studenten aus Baden-Württemberg oder Hessen, warum der HSV echte Scheiße und St. Pauli coole Scheiße ist. Für einige schien es schlichtweg unvorstellbar, dass jemand HSV-Fan ist. Als ich in Berlin mal in einem Meeting mit dem Geschäftsführer einer Medienagentur saß, smalltalkten wir, na klar, auch über Fußball. „Ach, du bist auch aus Hamburg. Ich gehe oft ans Millerntor. Hast du auch ’ne Dauerkarte?“, fragte er. – „Bin HSV-Fan“, sagte ich. Stille. Immerhin, mittlerweile waren die Codes und Klischees komplett durcheinandergeraten. Der Mann trug einen teuren Wollpullover, den er, da war ich mir sicher, an anderen Tagen über die Schultern warf und vorne zusammenknotete.
„Ruft mich nie wieder an!“
Vielleicht spürte ich deshalb immer eine leichte Sympathie für Hertha. Denn der Klub wirkte auf mich – vielleicht ist das eine totale Zugezogenen-Wahrnehmung – oft wie der HSV. Unsexy, asozial, träge, intrigant. Vielen Fans eilte ebenfalls ein guter Ruf in schlechten Kreisen voraus, das Stadion lag auch weit draußen, und die Architektur war gnadenlos und kalt. Während es im alten Volksparkstadion immer geregnet hatte (auch wenn die Sonne schien), fegte im Olympiastadion stets ein eiskalter Wind über die Tribünen (selbst im Hochsommer).
Beide Klubs machten sich gerne größer, als sie waren. Big City Clubs. Sie sahen sich unter den Topteams Europas. Sie trugen stolz ihre Hauptstadtartigkeit vor sich her oder sonnten sich in Erfolgen aus den frühen Achtzigern. Sie ließen sich beide bei Spielertransfers von großen Namen blenden und griffen so zielsicher daneben wie sonst nur Schalke 04. Ihre vermeintlichen Superstars hießen Luizao, Marcus Berg, Andre Lima, Ali Daei, Juan Pablo Sorin, Thiago Neves, Alen Halilovic. Man weiß heute längst nicht mehr, wer wo gespielt hat.
Und dann diese Unfähigkeit beim Umgang mit Talenten oder Trainerkandidaten. Hertha vergraulte Nachwuchsspieler, die genial waren, aber auch frei und wild. Änis Ben-Hatira, Chinedu Ede, die Boatengs, Hany Mukhtar, Ashkan Dejagah und so weiter. Der HSV vergraulte Trainer, die später Weltkarrieren machten. Mit Thomas Tuchel war sich der Klub schon einig, da machte der Trainer einen Rückzieher, weil Interna an die Presse weitergegeben wurden. Er ging zum BVB. Auch mit Jürgen Klopp traf sich der HSV. Den Stecktuchbossen gefiel es aber nicht, dass Klopp rauchte und eine zerschlissene Jeans trug. Auch er ging nach Dortmund – und sagte in Richtung HSV: „Ruft mich nie wieder an!“
Es schien, als würde an beiden Klubs alles Moderne und Gute abprallen, und wenn sie doch mal Schritte nach vorne machen wollten, wirkte es ungelenk und unfreiwillig komisch. Beim HSV kamen sie auf die Idee, die Torhymne von Scooter schreien zu lassen. Bei Hertha brüteten Werbefachleute Slogans aus wie „We try. We fail. We win.“ Mittendrin steckte in Berlin jemand das Tagebuch eines Ex-Trainers der Presse zu, und in Hamburg verlor ein Sportdirektor seinen Rucksack samt Spielerverträgen. Wenn Ordnung das halbe Leben ist, dann ist Chaos das ganze. Zumindest beim HSV und Hertha.
Es war klar, dass Felix Magath eines Tages bei Hertha landen würde. Der HSV-Heilige, Happels Schüler, Meister, der goldene Torschütze von 1983, der Trainer, dessen Namen seit zehn Jahren durch die Hamburger Presse geistert, wenn wieder mal jemand beim HSV entlassen wurde. Jetzt kann nur noch Magath helfen! Jetzt muss Magath ran! Holt Magath zurück!
Bei beiden Vereinen drängten irgendwann auch sehr reiche Männer durch die Türen der Geschäftsstellen. Von Anfang an versprachen sie große Spieler und große Erfolge, die, breaking news, nie kamen. Beim HSV war der Superreiche Klaus-Michael Kühne, das alte Geld, ein traditionsreicher Dampfer. Sein Pendant bei Hertha ist Lars Windhorst, das neue Geld, ein agiler Jungunternehmer. Als neulich herauskam, dass der Hertha-Patron eine schon abgedrehte Doku über den Verein verhinderte, weil er sich schlecht dargestellt fühlte, grinste ich. Es war eine verrückte Story, die auch viel über Eitelkeiten und Selbstüberschätzung verriet. Eine Story, die sich eins zu eins auch beim HSV hätte zutragen können.
Während all den Jahren machten St. Pauli und Union, die vermeintlich kleinen Stadtrivalen, vieles anders und einiges auch gut. Vor allem Union hatte großen sportlichen Erfolg. Das Team stieg 2019 in die Bundesliga auf, hielt die Klasse, erreichte die Conference League und dann die Europa League. Wo soll das noch hingehen? Champions League? Meisterschaft? Es ist eine fußballromantishe Geschichte eines Vereins, der, so meinen einige, eine Mischung aus dem FC St. Pauli, SC Freiburg und AFC Wimbledon ist. Wenn man genauer hinschaut, merkt man, dass auch Union im Stadion Probleme wie viele andere Klubs hat, aber pssst, das sind Einzelfälle.
Aber hey, kein Neid. Beide Vereine, St. Pauli und Union, ziehen mittlerweile viele Fans im Ausland an. Sie sind internationale Marken geworden. Fußballtouristen aus England oder Südamerika besuchen Spiele in der Alten Försterei oder am Millerntor. Sie werden nicht enttäuscht, tolle Stimmung, tolle Stadien, tolle Spieler.
Aber zurück zu Hertha und dem HSV, die heute aufeinandertreffen. Ich werde mich rechtzeitig in die S‑Bahn setzen, dann los, immer weiter, immer weiter Richtung Westen, bis man fast wieder im Osten ist. Es geht um den Aufstieg und um den Abstieg. Darum, dass irgendwann mal alles besser wird. Die Schönheit der Hoffnung. Das Wetter soll super bleiben, 26 Grad noch um 20 Uhr, fast wolkenfreier Himmel. Aber natürlich wird ein eiskalter Wind durchs Stadion peitschen. Es wird ein hässlicher Abnutzungskampf werden. Absolut unkultig, absolut unsexy – absolut genial. Denn es ist doch so: Union-Fan kann jeder. Bayern-Fan kann jeder. Dortmund, Liverpool, Barcelona. Und St. Pauli? Ja gut, das kann nun wirklich jeder. „But can you do it on a cold Wednesday night in Stoke?“ Kannst du unter der Woche Relegation? Kannst du HSV und Hertha?* Also.
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