Wie viel Normalität ist erlaubt in unnormalen Tagen? Thomas Tuchel muss eine Balance finden. Er meistert die Aufgabe bravourös.
Selbst als am Freitag der mutmaßliche Attentäter festgenommen wurde, verzichtete Tuchel auf Pathos und Vergeltungsrhetorik. Ein Journalist fragte nach seinen Gefühlen, jetzt, wo der Attentäter gefasst sei. Tuchel sagte vorsichtig: „Ich weiß nicht, ob das Fakt ist. Im Moment ist es noch angebracht, im Konjunktiv zu sprechen.“ Man darf bei alledem nicht vergessen: Auch Tuchel saß in dem Bus. Auch er überlebte einen Mordanschlag.
Viele Dortmunder Fans merken gerade verdutzt an, dass Tuchel ihnen nie so sympathisch erschien wie derzeit. Das mag auch an dem verzerrten öffentlichen Bild der jüngeren Vergangenheit liegen. Da wurde lieber über Tuchels fehlende Eignung für die Skatrunde mit Watzke und Zorc als über den grandiosen Punkterekord der vergangenen Saison geschrieben. Tuchel musste sich gar dafür verantworten, sich nach dem Spiel nicht vor der Südtribüne feiern zu lassen.
Kein Platz für Pathos oder Kumpelhaftigkeit
Er kann mitunter herrisch auftreten und kompromisslos, berichten langjährige Mitarbeiter. Niederlagen und Fehler nimmt er noch zu oft persönlich. Tuchel ist kein Mann für Pathos, für Kumpelhaftigkeit, für Kalauer im Bierzelt mit Atze Schröder. Tuchel ist kein Klopp, aber er war auch nie der entrückte, empathielose Professor, als der er gerne öffentlich dargestellt wird. Das Einfühlungsvermögen dieser Tage hat Tuchel auch schon zur Genüge an anderer Stelle demonstriert.
Das zeigt das Beispiel Henrikh Mkhitaryan, diesem hochveranlagten, aber ebenso hochsensiblen Mittelfeldspieler. Tuchel wirkte in Einzelgesprächen auf ihn ein, lud Mkhitaryan zu sich nach Hause, schenkte ihm sein Vertrauen. Nicht ganz ohne Ironie folgte daraus: Er trieb seinen Spieler zu solchen Höchstleistungen, dass dieser den Verein in Richtung England verließ.
Wenn Tuchel diesen und zwei andere Weggänge (Hummels, Gündogan) in Verbindung mit den hohen Erwartungen ansprach, bekam er wahlweise das „Heulsuse“- oder „Motzki“-Etikett verpasst. Manche Medien echauffierten sich, er würde das Umfeld und den Verein Borussia Dortmund nicht ausreichend wertschätzen. Vielleicht sollte dabei auch mal die Gegenfrage erlaubt sein, ob das nicht in gewissem Maße andersrum der Fall ist.
Tuchel gilt als einer der besten, wenn nicht sogar als der beste Trainer in Deutschland. Darüber mögen Experten und auch die Dortmunder Fans streiten. Unstrittig ist: In den vergangenen Wochen präsentierte er sich außerhalb des Rasens schlichtweg überragend.