Wie viel Normalität ist erlaubt in unnormalen Tagen? Thomas Tuchel muss eine Balance finden. Er meistert die Aufgabe bravourös.
Why ever. Warum auch immer. Thomas Tuchel musste in den vergangenen Tagen nach dem Attentat auf die Dortmunder Spieler und Verantwortlichen sehr oft Antworten geben. Dortmunds Trainer löste diese Mammutaufgabe sehr eloquent und fand Worte, wo anderen die Sprache versagen würde. Er redete wahlweise auf deutsch oder in perfektem Englisch, weil Medienvertreter aus der ganzen Welt angereist waren. Tuchel stockte dabei nur ein einziges Mal, bei der Frage nach seinem persönlichen Befinden. Ihm falle der Umgang mit dieser Situation einfacher, sagte er – warum auch immer, why ever.
Vielleicht befindet sich Tuchel noch zu sehr im Adrenalin-Modus, um das Geschehene für sich selbst aufzuarbeiten. Er stand seit dem Attentat fast jeden Tag im Blickpunkt, vor der Mannschaft, im Stadion, vor den Kameras. Borussia Dortmund hat in den anderthalb Wochen nach dem Mordanschlag satte vier Spiele bestreiten müssen. Wie ein Trainer damit umgehen muss, wenn die Mannschaft ein Attentat überlebt hat, das steht in keinem Lehrbuch. Weil es so etwas hierzulande noch nicht gegeben hat. Doch es wird nicht viele Wege geben, die Situation besser zu meistern als Tuchel.
Mut zu Gefühlen
Er bewahrte nicht nur einen klaren Kopf, sondern wählte die richtigen Töne, er strahlte inmitten der Unruhe Besonnenheit aus, er zeigte Feingefühl. Das kann nicht genug gewürdigt werden, denn die Herausforderung war enorm. Er musste als Trainer einen Spagat meistern: Wie viel Normalität ist erlaubt in diesen unnormalen Tagen? Wie viel Fußball in Stunden, in denen nichts unwichtiger erscheint als Fußball? Tuchel selbst sagte, dass er momentan nachsichtiger sei. Er bat aber auch die Mannschaft um das Recht, Trainer zu sein und als solcher auch sportliche Kritik zu üben. In den Einzelgesprächen hingegen sei es leiser zugegangen, bei Themen fern des Fußballs. „Die Spieler haben sich getraut, Gefühle zu artikulieren“, sagte er am Samstag.
In einem Kader mit über 20 Spielern gibt es über 20 verschiedene Umgangsformen mit so einer Situation. Nuri Sahin sagte im stern-Interview: „Ich will den Anschlag nicht verdrängen. Ich packe das in eine Schublade. Und diese Schublade kann ich öffnen, aber auch schließen.“ Nicht jeder wird eine Schublade gefunden haben. Torwart Roman Bürki konnte tagelang nicht schlafen, nach eigenem Bekunden ließ er erst am Samstag in Mönchengladbach wieder Glücksgefühle zu. Der Trainer musste auf all die individuellen Empfindungen eingehen. Es scheint, als habe er die richtige Balance gefunden.
„Ich mag das Wort ‚Zeichen‘ nicht“
Nicht zuletzt musste Tuchel mit der Überhöhung von außen umgehen. Seine Mannschaft bestand in den Augen von Politikern und Funktionären kurzzeitig nicht mehr nur aus Fußballern, sondern aus Kämpfern für die freie Welt. Ihnen wurde keine Zeit gelassen, das Trauma zu verarbeiten, weil sie ja unbedingt und schnellstmöglich ein Zeichen für die Freiheit und die Gesellschaft setzen mussten. Keine Zeit für Ruhe. Sie sollten wie Maschinen funktionieren, um das Menschliche zu verteidigen. Das klang mitunter so zynisch, dass so mancher wohl auch gerne den verletzten Marc Bartra auf den Rasen geschickt hätte – nur um zu beweisen, dass Deutschland sich nicht einschüchtern lasse. Von wem auch immer. Die Hintergründe der Tat waren da noch unklar.
Dem sonst so sachlichen Präsident Reinhard Rauball entglitt direkt nach dem Anschlag im Stadion der Satz: „Sie werden morgen spielen können, das sind Profis.“ Tuchel hingegen äußerte am Tag nach dem Anschlag zweierlei: „Ich mag das Wort ‚Zeichen‘ nicht, es ist Sport.“ Und: „Ich finde nicht, dass das mit Professionalität zu tun hat. Profi bist du, wenn du für alle sportlichen Probleme eine Lösung findest. Das, was gestern passierte, ist uns als Menschen widerfahren.“ So simpel es klingt, so oft wurde es zuletzt vergessen: In dem Dortmunder Mannschaftsbus saßen Menschen, die überlebt hatten.
Selbst als am Freitag der mutmaßliche Attentäter festgenommen wurde, verzichtete Tuchel auf Pathos und Vergeltungsrhetorik. Ein Journalist fragte nach seinen Gefühlen, jetzt, wo der Attentäter gefasst sei. Tuchel sagte vorsichtig: „Ich weiß nicht, ob das Fakt ist. Im Moment ist es noch angebracht, im Konjunktiv zu sprechen.“ Man darf bei alledem nicht vergessen: Auch Tuchel saß in dem Bus. Auch er überlebte einen Mordanschlag.
Viele Dortmunder Fans merken gerade verdutzt an, dass Tuchel ihnen nie so sympathisch erschien wie derzeit. Das mag auch an dem verzerrten öffentlichen Bild der jüngeren Vergangenheit liegen. Da wurde lieber über Tuchels fehlende Eignung für die Skatrunde mit Watzke und Zorc als über den grandiosen Punkterekord der vergangenen Saison geschrieben. Tuchel musste sich gar dafür verantworten, sich nach dem Spiel nicht vor der Südtribüne feiern zu lassen.
Kein Platz für Pathos oder Kumpelhaftigkeit
Er kann mitunter herrisch auftreten und kompromisslos, berichten langjährige Mitarbeiter. Niederlagen und Fehler nimmt er noch zu oft persönlich. Tuchel ist kein Mann für Pathos, für Kumpelhaftigkeit, für Kalauer im Bierzelt mit Atze Schröder. Tuchel ist kein Klopp, aber er war auch nie der entrückte, empathielose Professor, als der er gerne öffentlich dargestellt wird. Das Einfühlungsvermögen dieser Tage hat Tuchel auch schon zur Genüge an anderer Stelle demonstriert.
Das zeigt das Beispiel Henrikh Mkhitaryan, diesem hochveranlagten, aber ebenso hochsensiblen Mittelfeldspieler. Tuchel wirkte in Einzelgesprächen auf ihn ein, lud Mkhitaryan zu sich nach Hause, schenkte ihm sein Vertrauen. Nicht ganz ohne Ironie folgte daraus: Er trieb seinen Spieler zu solchen Höchstleistungen, dass dieser den Verein in Richtung England verließ.
Wenn Tuchel diesen und zwei andere Weggänge (Hummels, Gündogan) in Verbindung mit den hohen Erwartungen ansprach, bekam er wahlweise das „Heulsuse“- oder „Motzki“-Etikett verpasst. Manche Medien echauffierten sich, er würde das Umfeld und den Verein Borussia Dortmund nicht ausreichend wertschätzen. Vielleicht sollte dabei auch mal die Gegenfrage erlaubt sein, ob das nicht in gewissem Maße andersrum der Fall ist.
Tuchel gilt als einer der besten, wenn nicht sogar als der beste Trainer in Deutschland. Darüber mögen Experten und auch die Dortmunder Fans streiten. Unstrittig ist: In den vergangenen Wochen präsentierte er sich außerhalb des Rasens schlichtweg überragend.