Vor elf Jahren trafen Deutschland und England zuletzt bei einem Turnier aufeinander. Für die eine Seite war das 4:1 im Achtelfinale der WM 2010 ein Desaster – für die andere die Übernahme einer Goldenen Generation. Über einen Nachmittag in Bloemfontein.
Als Philipp Lahm im Juli 2014 den WM-Pokal in die Höhe wuchtete, galt dies als Triumph einer Generation. Toni Kroos, Sami Khedira, Mesut Özil, Manuel Neuer, Jérôme Boateng, Thomas Müller. Eine Reihe von deutschen Spielern, die etwa zur gleichen Zeit geboren waren, und sich mittlerweile das Gütesiegel „Weltklasse“ anheften durften. Nun kam der Titel „Weltmeister“ obendrein.
Die ersten Vorboten dieses Erfolgs lagen wenige Jahre zurück, nämlich bei der WM 2010 in Südafrika. Genauer gesagt, begann alles am 27. Juni 2010. Bei einem 4:1 im Achtelfinale zeigte die Generation erstmals, dass sie erfolgreich die Nationalmannschaft übernommen hatte. Und das ausgerechnet gegen England. Es war bis heute das letzte Duell der beiden großen Fußballnationen bei einem Turnier, der letzte „Klassiker“, der kein Freundschaftsspiel war. Gegen den ewigen Rivalen absolvierte diese Mannschaft ihren ersten Schritt auf dem Weg zur Weltmeisterschaft 2014.
Aber von vorne: Wer von der WM 2010 spricht, darf die U21-Europameisterschaft 2009 nicht unerwähnt lassen. Dort traten die späteren Weltmeister um Neuer, Boateng und Özil das erste Mal gemeinsam auf den Plan und begeisterten auf ähnliche Art und Weise wie im Jahr danach bei der Weltmeisterschaft. Mesut Özil spielte gestochen scharfe Pässe, an Sami Khedira kam kaum jemand vorbei und wenn doch, fing Neuer fast jeden Ball – nur einen einzigen Gegentreffer kassierte er während des gesamten Turniers. Schon da, in Schweden, wurde ihnen Großes prophezeit. Der Finalgegner: England. Das Ergebnis: 4:0. Ein Jahr später standen vier dieser U21-Europameister wieder auf dem Feld: Jérôme Boateng, Manuel Neuer, Sami Khedira und Mesut Özil. Mit Dennis Aogo saß ein weiterer auf der Bank. Dieses Mal allerdings bei der A‑Nationalmannschaft.
Die junge Garde der gerade Anfang Zwanzigjährigen, zu der auch Thomas Müller gehörte, stieß zu einre Reihe immer noch junger, aber erfahrener Spieler: Mertesacker, Schweinsteiger und Podolski zum Beispiel hatten schon vier Jahre zuvor am „Sommermärchen“ teilgenommen. Miroslav Klose, Arne Friedrich und Philipp Lahm gaben so etwas wie den Ältestenrat der Mannschaft ab. Die große Frage vor dem Turnier stellte sich mit der Verletzung Michael Ballacks: Wie sehr würde der Kapitano vermisst werden?
Die Antwort: Wenig bis gar nicht. Der Turnierstart glückte. Unter den Klängen der Vuvuzelas gewann Deutschland mit 4:0 gegen Australien und lud direkt zum Träumen ein. Die Corriere della Sera sah „fantastischen Fußball, den bisher besten bei dieser WM.“ Das schwedische Aftonbladet titelte: „Deutschland wird auch andere Mannschaften als Australien demütigen.“ Und das Aftonbladet sollte recht behalten.
Allerdings noch nicht in den nächsten beiden Gruppenspielen. Deutschland wuselte sich mehr oder weniger durch die Gruppenphase. Eine 0:1‑Niederlage inklusive Gelb-roter Karte für Miroslav Klose gegen Serbien holte die Mannschaft, auf den Boden der Tatsachen zurück. Das letzte Gruppenspiel gegen Ghana war zwar weniger enttäuschend, besonders euphorisch spielte die deutsche Elf aber auch nicht. Dennoch: Das 1:0 bedeutete den Gruppensieg und also das Achtelfinale gegen den Zweiten der Gruppe C – England.
Das war natürlich gefundenes Fressen für die Medien. Deutschland gegen England, der Klassiker. „England ist rachedurstig“ titelte die Times. Von einem „gigantischen Aufeinandertreffen“ schrieb die Sun. „Deutschland gegen England – das erste Gigantenduell bei dieser Weltmeisterschaft ist perfekt“, titelte die brasilianische Zeitung Lance. Selbstverständlich wurden auch Kriegs- und Kampfmetaphern aller Couleur bemüht und diverse lustige und weniger lustige Karikaturen entworfen. Kurz: Die Stimmung war elektrisiert.
„Wir waren vogelwild“
Von der ersten Minute an war der Druck beider Teams zu spüren, mindestens genauso schnell deutete sich aber auch die deutsche Überlegenheit an. Geschlossen, zügig, mit einem unglaublichen Selbstverständnis begann die deutsche Mannschaft, Fabio Capellos Engländer herzuspielen. Auch unter Mithilfe des Gegners. „Wir waren vogelwild und Deutschland nahm uns im Gegenzug auseinander“, erinnerte sich Peter Crouch, der damals nicht zum Einsatz kam, in der Daily Mail an die Partie, „ihre Taktik funktionierte perfekt.“
Schon in der fünften Minute erhielt Mesut Özil nach einem über drei Engländer hinweg gehobenen Pass von Bastian Schweinsteiger an die rechte Strafraumkante die Chance aufs 1:0 – die David James gerade so vereiteln konnte. Nach 20 Minuten fiel der Führungstreffer dann aber doch. Daran beteiligt: Zwei Spieler und zwei Kontakte. Langer Abschlag von Manuel Neuer bis zum gegnerischen Sechzehner, dort setzt sich Klose im Eins-gegen-eins durch und spitzelt den Ball am herbeieilenden James vorbei ins Tor.
Knapp zehn Minuten später das 2:0, ein wenig anders: Sami Khedira, Mesut Özil und Thomas Müller leiteten den Treffer mit kurzen, schnellen Pässen auf der rechten Außenbahn gemeinsam ein. Müller gab nach einem feinen Außenristpass von Miroslav Klose die Vorlage auf Lukas Podolski – dessen Schuss von links unhaltbar für James im langen Eck einschlug. Viel entscheidender als diese einzelnen Aktionen war allerdings das Bild, das die deutsche Mannschaft abgab in diesem Spiel: Sie vermittelte das Gefühl, jeden Gegner besiegen und vor allem herspielen zu können. „Sie haben sie spielerisch beherrscht“, sagte Günter Netzer im TV-Studio.
„Geile Kiste heute!“
Davon zeigte sich auch Oldie Miroslav Klose beeindruckt. „Ich habe immer wieder betont, dass wir eine klasse Mannschaft haben. Das hat mir heute sehr imponiert“, sagte er im Anschluss an die Partie. Oder in den Worten des Mannes, der an diesem 27. Juni besonders glänzte: „Geile Kiste heute!“ Klar, Thomas Müller.
Schon gegen Australien hatte er seine Qualitäten angedeutet und nicht nur ein Tor vorbereitet, sondern auch eins geschossen. Gegen England allerdings erreichte auch er ein neues Niveau: Ein Jahr zuvor erst von den Bayern-Amateuren in die A‑Mannschaft hochgezogen worden, bestimmte er in seiner mittlerweile so bekannten Art das Spiel. Machte den Raumdeuter, legte das 2:0 von Lukas Podolski vor und schoss die nächsten beiden selbst. Thomas Müller verkörperte die Entschlossenheit von 2014 schon vier Jahre vorher. Und sie übertrug sich auf die ganze Mannschaft.
Es hätte allerdings auch anders kommen können. Beim Stand von 2:0 führte England eine Ecke kurz aus, im Rückraum des deutschen Strafraums blieb Matthew Upson sträflich ungedeckt, der zum Anschlusstreffer einnickte. In die kurze Ratlosigkeit nach dem 2:1 fiel eine Szene, die diesen Juniabend zum Mythos werden ließ: Der Ausgleich.
Beziehungsweise der vermeintliche Ausgleich. Aus 17 Metern traf Frank Lampard die Unterkante der Latte. Der Ball prallte von dort auf den Boden, wieder an die Latte, bevor Manuel Neuer ihn greifen konnte. Lampard und die Fans der Three Lions jubelten, waren außer sich – das Spiel jedoch ging weiter. Kein Tor. Obwohl der Ball deutlich hinter der Linie aufgekommen war. „It’s 1966 all over again!“, rief der englische Kommentator in sein Mikrofon. Wembley 2.0. Klar ist: Mit VAR und Torlinientechnik wäre diese Geschichte wohl anders verlaufen.
„Wir haben als Mannschaft gezeigt, dass wir alles erreichen können, wenn wir zusammenhalten. Wir haben Weltklasse gespielt. Es ist egal, wer unser Gegner wird“, sagte Mesut Özil nach dem Spiel. Ein Selbstverständnis, das für große Titel wichtig ist.Auch der Kommentator der FIFA schlug in eine ähnliche Kerbe: Die Engländer seien „bezwungen von diesem sehr vielversprechenden, selbstbewussten, jungen deutschen Team.“ Weiter prophezeite er: „Sie werden für viele weitere Jahre dabei sein.“
Zum Titel hat es 2010 noch nicht gereicht. Die Reise endete an altbekannter Stelle, wie schon bei der EM 2008: gegen Spanien, bei denen ebenfalls eine Generation hochbegabter Spieler die Fußballwelt beglückte. Aber gut Ding will schließlich Weile haben. Vier Jahre später komplettierten unter anderen Mario Götze, André Schürrle, Mats Hummels und Benedikt Höwedes die Mannschaft, auch Toni Kroos war längst kein Bankdrücker mehr. Mit neuen Akteuren, im Kern aber gleich, klappte es: Die Goldene Generation vergoldete sich.