Jürgen Klopp ist ratlos. Soeben hat seine Mannschaft bei Udinese Calcio die 0:2‑Heimschlappe aus dem Hinspiel in der UEFA-Cup-Vorrunde egalisiert. Aber wer soll nun im Elfmeterschießen die Verantwortung für den BVB übernehmen? Nach den Routiniers Sebastian Kehl und Tamás Hajnal wendet sich Klopps Co-Trainer Zeljko Buvac auch an Nuri Sahin. Der Youngster ist erst in der 77. Minute für Alexander Frei ins Spiel gekommen. Soll Sahin die Herausforderung annehmen?
Er überlegt. Sagt zunächst ab, überlegt von Neuem – und sagt schließlich zu. Jürgen Klopp schlendert rüber zu dem 20-Jährigen und erzählt eine witzige Anekdote aus seiner Zeit als Spieler, um Sahin die Anspannung vor dem Strafstoß zu nehmen. Der Twen aber steigt keck auf den kleinen Plausch ein. Kein Zweifel, dieser Junge kann die Verantwortung übernehmen. Und wie ein Vater seinen Sohn, nimmt nun der Trainer Klopp den Spieler lächelnd in den Arm. Die Szene ist wie das Symbol einer Versöhnung in einer zuletzt wechselhaften Beziehung zwischen dem BVB und seinem Supertalent Nuri Sahin, in die nach einem leidenschaftlichen Beginn irgendwann der Alltag eingekehrt war.
»Dem Verein etwas zurückgeben«
Einige Tage zuvor am Borussia-Trainingszentrum in Dortmund-Brackel. B‑Jugend-Spieler schlendern gelangweilt aus der Umkleide wie Halbstarke über einen Rummelplatz. Am Ende der Gruppe schält sich Nuri Sahin aus einem Kabinengang. Fast hätte man den Jungprofi übersehen, so sehr ähnelt er rein äußerlich noch den Jugendspielern. Doch die Optik täuscht. Sahin startet gerade in seine vierte Saison als Profi. Und mit knapp 20 Jahren weiß er längst, dass auch die Karriere eines Hochbegabten wie ihm nicht vor den Untiefen des Profigeschäfts sicher ist. Er hat früh vom süßen Honig des Startums gekostet, hat den Zweifel erlebt, nicht mehr erste Wahl zu sein, und er hat den Mut und die Weitsicht besessen, neue Wege zu gehen. Nach einem Jahr bei Feyenoord Rotterdam ist er zurück in Dortmund. Zurück bei dem Verein, der ihn einst als jüngster Bundesliga-Profi aller Zeiten zu einer Berühmtheit machte.
In den Niederlanden hätten sie ihn gerne behalten. In 29 Spielen in der Ehrendivision reüssierte Sahin in Kombination mit dem Routinier Giovanni van Bronckhorst als offensiver Part der Doppel-Sechs. Doch Sahin kam zurück. »Um dem Verein etwas zurückzugeben«, wie er sagt. Wohl auch, weil Feyenoord vom BVB nicht die Kaufoption erhielt, die sich die Niederländer beim Ausleihen im Sommer 2007 erhofft hatten. Auch die Istanbuler Klubs Galatasaray und Beşiktaş hatten Interesse an dem Mittelfeldspieler. Michael Skibbe telefonierte mehrfach mit Sahins Berater. Doch die Borussia hatte ihn vor dem Wechsel nach Rotterdam, in einer Phase, in der es alles andere als gut für ihn lief, mit einem fairen Profivertrag bis 2010 ausgestattet. So leicht wollte sie ihr Supertalent dann doch nicht gehen lassen.
Sahin war so alt wie die milchbärtigen Kids, die nun auf dem Platz in Brackel ihre Runden drehen, als er 2005 aus dem warmen Schoß der B‑Jugend in das Haifischbecken Bundesliga geworfen wurde. Seit dem Winter stand der Verein mit rund 100 Millionen Euro in der Kreide. Schuldenabbau hieß das Gebot der Stunde. Der damalige Coach, Bert van Marwijk, machte aus der Not eine Tugend, und integrierte eine Reihe Teenies in seinen Kader: Marc-André Kruska, Kosi Saka, Sebastian Tyralla und eben Nuri Sahin. Was blieb ihm anderes übrig? Zeitgleich zur Finanzkrise des Klubs holte Sahin bei der U17-Europameisterschaft im Mai 2005 mit der Türkei den Titel. Er wurde zum besten Spieler des Turniers gewählt. Die Scouts der internationalen Top-Klubs begannen, ihm nachzustellen: Chelsea, Manchester United und Galatasaray fühlten vor. Der FC Arsenal wurde konkret und bot 2,8 Millionen Euro für den 16-Jährigen. Und Arsenal-Coach Arsène Wenger sprach einen Satz, ein Kompliment zwar, das aber schon bald zu einer schweren Last für den Jungstar werden sollte. Er sagte: »Sahin ist momentan weltweit das größte Talent unter 18 Jahren.«
Der Beginn eines turbulenten Sommers, über den Sahin heute sagt: »Ich wünschte, ich hätte die Zeit mehr genießen können.« Bei seinen Eltern in Meinerzhagen stand das Telefon nicht mehr still. Menschen, deren Namen Sahin nie zuvor gehört hatte, behaupteten, den Kicker an Gott und die Welt vermitteln zu können. Derweil war der Junge dabei, seine Mittlere Reife zu bauen. Dortmund gab Arsenal einen Korb – und der neue BVB-Geschäftsführer Watzke verkündete, dass Nuri Sahin unverkäuflich sei, weil die Zukunft der wirtschaftlich angeschlagenen Borussia von Jugendspielern wie ihm abhänge: »Nuri Sahin ist Gold wert. Er ist die Lebensversicherung für die Borussia.« Ein weiterer gut gemeinter Satz, eine weitere schwere Bürde.
Zwei Rekorde auf einen Schlag
Am 23. Juli 2005 war es soweit: Das Supertalent wurde in der 66. Minute im UI-Cup-Rückspiel des BVB gegen Sigma Olmütz eingewechselt. Ein Punktspiel in der A‑Jugend hatte er bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht gemacht. Fußball-Almanache führten ihn fortan als jüngsten Europacup-Spieler aller Zeiten. Der erste in einer Reihe von Superlativen, die nun Schlag auf Schlag folgten: Am 6. August 2005 absolvierte er im Alter von 16 Jahren, elf Monaten und einem Tag auf der Position des Sechsers sein erstes Bundesliga-Spiel gegen den VfL Wolfsburg. Sahin spielte gegen Andrés D’Alessandro, machte ihm das Leben schwer und sah sogar Gelb. Nach dem Spiel fragte er den Argentinier schüchtern, ob er dessen Trikot haben könne – der schenkte es sauer einem von Sahins Kollegen. Ende August machte sich bereits DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder stark, um ihn zu einer Trainingseinheit der deutschen Nationalmannschaft zu lotsen. Doch die Entscheidung des gebürtigen Lüdenscheiders mit türkischen Eltern war längst gefallen: Am 8. Oktober 2005 lief er mit 17 Jahren, einem Monat und drei Tagen zum ersten Mal für die Ländermannschaft der Türkei auf. In der 85. Minute wechselte ihn Fatih Terim im Freundschaftsspiel gegen die DFB-Elf von Jürgen Klinsmann ein. Nur vier Minuten später ließ er Oliver Kahn keine Chance und erzielte das 2:0. Zwei Rekorde auf einen Schlag: Sahin war nun jüngster Nationalspieler und Torschütze der Türkei.
Sechs Wochen später machte er die Serie aus Rekorden komplett und trug sich beim Spiel des BVB gegen den 1. FC Nürnberg auch als jüngster Bundesliga-Torschütze in die Geschichtsbücher ein. »Der Hype, der um den Jungen in dieser Zeit gemacht wurde, war nicht mehr normal«, erinnert sich Dortmunds Manager Michael Zorc. Beim Gastspiel bei den Bayern ließ Uli Hoeneß nach dem Match in der Kabine Glückwünsche an den Youngster ausrichten. »Überall, wo Nuri hinkam, hörte er: unglaublich, unglaublich, unglaublich«, beschreibt Sahins Berater Reza Fazeli den Herbst 2005. Acht Monate vorher war er beim Heimspiel des BVB gegen den Gast aus Mönchengladbach noch Balljunge gewesen.
Der Herbst war der vorläufige Höhepunkt einer Karriere, die bis dato frei von Misserfolgen gewesen war: Sahin kam mit vier Jahren zum Fußball, als er im Schlepptau seines Großvaters seinen zwei Jahre älteren Bruder Ufuk vom Training beim RSV Meinerzhagen abholte. Er begann bei den »Bambinis«, und es dauerte nicht lange, bis er seine Altersgenossen schwindelig spielte. Dabei gehörte er damals eher zu den Schmächtigen im Team. Schon ab der D‑Jugend wurde sichtbar: In Sahin kulminierte ein naturgegebenes Spielverständnis mit einer feinen Technik. Mit seinen Eltern und dem Bruder bewohnte er zu dieser Zeit eine Wohnung in einem Plattenbau in der Meinerzhagener Mozartstraße. Nach der Schule trafen sich die Kinder aus der Nachbarschaft vor dem Haus zum Kicken. Ihr Bolzplatz lag auf einer Anhöhe und die Jungs mussten das Gefälle stets in ihre Aktionen einkalkulieren. »Seine einzigartige Technik hat er auf diesem Hügel gelernt«, glaubt Bayram Celik, heute Spielertrainer der 1. Herren des RSV Meinerzhagen, der Sahin in der C‑Jugend coachte.
Schon in der F- und später auch in der D‑Jugend nahm ein Onkel das Talent mit zum Probetraining bei Borussia Dortmund. Die Engagements scheiterten aber daran, dass der BVB für ein Kind in diesem Alter keinen Fahrdienst in das 60 Kilometer entfernte Meinerzhagen einrichtete. Und an Mutter Sahin, die ihren Jüngsten nach Feierabend zu Hause haben wollte. Doch dem war längst bewusst, dass er Profi werden wollte. Jeden Nachmittag spielte er bis zum Einbruch der Dunkelheit auf der Wiese vor dem elterlichen Zuhause, zweimal die Woche trainierte er im Verein. »Und wenn die anderen schon in der Umkleide waren, feilte er draußen an seiner Freistoßtechnik«, erinnert sich Bayram Celik.
»Ich wollte wissen, ob es auch woanders laufen würde«
Beim RSV war er Everybody’s Darling. Schon als D‑Jugendlicher entschied er 70 Prozent der Spiele mehr oder weniger im Alleingang. Bayram Celik holte den Elfjährigen vorzeitig in die C‑Jugend. Mit Nuris klugen Pässen aus dem Mittelfeld auf seinen zwei Jahre älteren Bruder Ufuk im Sturm gelang dem Team der Aufstieg aus der Kreis- in die Bezirksliga. Sein Talent blieb nun auch den großen Vereinen nicht mehr verborgen. Sowohl Schalke 04 als auch der BVB buhlten um Sahins Gunst und die seiner Eltern. Die Liebe zur Borussia entschied. 2001 erhielt der Zwölfjährige einen Jugendfördervertrag in Dortmund und wurde »Fahrschüler«. Er wollte die Herausforderung. Sahin: »In Meinerzhagen machte ich in jedem Spiel drei, vier Tore und wurde immer gelobt. Ich wollte wissen, ob es auch woanders laufen würde.«
Ab Sommer 2001 holte also die nette Mathilde Behrens den Schüler des Evangelischen Gymnasiums vier Mal die Woche am Nachmittag zum Training aus Meinerzhagen ab und brachte ihn ins 60 Kilometer entfernte Dortmund. Um 21 Uhr lieferte sie den Teenie dann wieder bei den Eltern ab. Auf der Rückfahrt verteilte die Fahrerin Süßigkeiten und hatte ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der pubertären Talente aus der U14 von Trainer Lars Tiefenhoff. Eine glückliche Zeit. Auch in Dortmund fand Sahin sofort Anschluss und spielte regelmäßig. Tiefenhoff erinnert sich: »Es fiel auf, dass er trotz seiner Zierlichkeit ein technisch höchst beschlagener Spieler war, der intuitiv viele gute Lösungen für Spielsituationen anbieten konnte.« Um seine Fähigkeiten machte Sahin indes nie viel Aufhebens. Die Alpha-Tiere in den Teams waren andere, er gab eher das introvertierte Genie. Sein Talent machte ihn auch ohne verbale Präsenz auf dem Platz zum Leistungsträger. Während andere Jungs in seinem Alter die Zeit nach der Schule mit Mädchen und Mofas verbrachten, pendelte Sahin nur noch zwischen Fußballplatz und Schulbank. »Es blieb der Freitagabend: Da traf ich mich im Jugendzentrum Meinerzhagen mit meinen Kumpels auf eine Runde Billard oder um Playstation zu spielen.« Auf ein paar Flirts musste der Heranwachsende trotzdem nicht verzichten: Die SMS von Mitschülerinnen oder schwärmenden Mädchen vom BVB-Trainingsplatz beantwortete er auf den Fahrten von und nach Dortmund. Initiationsriten im Zusammenhang mit Alkohol und Zigaretten blieben ihm fremd – nicht zuletzt, weil sie sein Ziel, Profi zu werden, gefährden konnten.
Nach der Mittleren Reife verließ Sahin die Schule und das elterliche Zuhause. Und seine Entwicklung als Fußballer beschleunigte sich. Er wohnte nun im Jugendhaus von Borussia in einem Fünf-Quadratmeter-Zimmer. In der B‑Jugend avancierte er unter Trainer Peter Wazinski neben Sebastian Tyralla zum absoluten Top-Star, dessen Fähigkeiten auch Chefcoach Bert van Marwijk nicht verborgen blieben. Der Niederländer war es aus seiner Heimat gewohnt, schon früh Jugendspieler an die 1. Herren heranzuführen. Die wirtschaftliche Misere, in der sich der BVB in dieser Phase befand, verstärkte van Marwijks Bemühungen um die Jungen. Nach dem überzeugenden Auftritt bei der U17-EM 2005 bestand für die BVB-Bosse kein Zweifel mehr, dass der B‑Jugend-Spieler auch das Herrenteam, in dem Spieler wie Christian Wörns und Christoph Metzelder den Ton angaben, verstärken konnte. Michael Zorc räumt ein: »In der Retrospektive war es vielleicht einen Tick zu früh. Eventuell haben der Trainer und ich damals nicht berücksichtigt, dass ein Talent in den Niederlanden auch immer wieder auf schwächere Mannschaften trifft und Zeit zur Regeneration hat. In der Bundesliga wurde einem Jungen wie Nuri aber von Anfang an in jedem Spiel alles abverlangt.«
Doch das Jahr 2005 war wie ein Rausch. Das Gefühl, das Sahin nach dem ersten Bundesliga-Spiel gegen den VfL Wolfsburg als Kribbeln im Bauch beschreibt, wirkte wie eine Droge. Er sah sich am Ziel seiner Träume, wollte um jeden Preis spielen, und das in ihn gesetzte Vertrauen wieder und wieder rechtfertigen. Auf jedes neue Erlebnis, das Elektrisieren beim Auflaufen, jedes Hochgefühl in der Glitzerwelt der Bundesliga folgte im Abstand weniger Tage das nächste. Die Automatismen des Profifußballs absorbierten den Jungstar im Nu. »Aber welcher Spieler in diesem Alter kann auf Dauer ein Niveau wie in der Bundesliga immer wieder rechtfertigen? Vielleicht einer wie Maradona, aber sonst?«, fragt sich Michael Zorc heute. Doch die Presse jubelte, die 80000 im Stadion liebten ihren Nuri und auch die Damenwelt sandte nun dem bislang streng auf den Fußball fokussierten Deutsch-Türken ab und an eindeutige Signale. Sein familiäres und sportliches Umfeld wusste um die Gefahren. Nuri Sahin: »Bei der Mannschaft waren Herr Zorc, Dede und Roman Weidenfeller in dieser Zeit wichtige Stützen für mich. Sie haben mich vorbereitet, gewarnt und auch ein Stück weit vor Fehlern bewahrt.« Der Klub verbesserte 2005 drei Mal die Bezüge in seinem Vertrag als Jugendspieler. Während das Leben draußen verrückt spielte, blieb seine Herberge, das BVB-Jugendhaus, das letzte Stück Normalität in seinem Leben. Sahin muss lachen, wenn er daran zurückdenkt: »Am Wochenende spielte ich vor 80000 Menschen, danach fuhr ich zurück in mein fünf Quadratmeter großes Zimmer und um 23 Uhr war Zapfenstreich.« Am Ende der Saison 2005/06 standen 23 Spiele und ein Tor in seiner Statistik.
Sahin reflektierte ständig die Situation, in der er sich befand
Nuri Sahin wurde von einem Tsunami aus Popularität und Zuneigung überrascht. Ehrgeizig fügte er sich in sein Schicksal, die Zukunft und die Hoffnung des maroden Revierklubs zu repräsentieren. Aber er war kein Typ wie Lothar Matthäus, der schon als Nachwuchsspieler seinem Instinkt zum Erfolg alles unterordnen konnte und im Probetraining bei Borussia Mönchengladbach den Schneid hatte, Leitwolf Berti Vogts brutal umzutreten. Sahin reflektierte ständig die Situation, in der er sich befand. Und anfänglich noch unbewusst, allmählich jedoch immer stärker, baute sich in ihm das Gefühl auf, der Erwartungshaltung genügen zu müssen. Sein Berater Reza Fazeli sagt: »Er ist eine typische Jungfrau. Er nimmt den Fußball extrem ernst, denkt unglaublich viel über sein Handeln nach und stellt sich in Frage.« Als 17-Jähriger versah er seinen Job bei den Profis zwar zuverlässig, vom Auftreten jedoch nach wie vor zurückhaltend. »Damals hätte ich mich nie getraut, den Trainer von mir aus anzusprechen.« Der fürsorgliche Coach van Marwijk geht von sich aus auf den Nachwuchsstar zu. Die vielen Vier-Augen-Gespräche, die er im ersten Profi-Jahr mit ihm führte, halfen Sahin ein konstantes Selbstbewusstsein aufzubauen.
Mit der Vollendung des 18. Lebensjahres startete er mit dem BVB in seine zweite Profi-Saison. Inzwischen hatte auch bei ihm ein gewisser Gewöhnungseffekt eingesetzt. Nicht mehr jedes Spiel war nun wie Geburtstag und Weihnachten an einem Tag. Die Bundesliga war sein Beruf geworden. Er fuhr jetzt einen Audi A4 Cabrio und lebte in einer richtigen Wohnung. Und nach schlechten Spielen wies inzwischen auch die Presse mal darauf hin, dass es dem Hoffnungsträger mitunter an einem Fünkchen Explosivität mangelte. Wie alt Sahin war, spielte zu dem Zeitpunkt für die Öffentlichkeit kaum noch ein Rolle. Denn das Team des BVB tat sich schwer. Bert van Marwijk, der dann im Dezember 2006 seinen Hut nehmen sollte, hatte jetzt andere Sorgen, als ständig Einzelgespräche mit dem stillen Nachwuchsstar zu führen. Auch Sahins Physis zollte dem anstrengenden Profidasein Tribut. Der Spieler über das zweite Jahr in der Bundesliga: »Ich spielte nicht mehr konstant. Auf ein gutes Spiel folgten drei schlechte. Ich tat mich sehr schwer mit der Regeneration. Manchmal war ich schon nach 40 Minuten platt.« Seine komplexes Denken, die Fähigkeit, sein eigenes Handeln zu analysieren, wurde nun zu einem Bumerang. Denn nebenbei nahm er auch wahr, wie Arsenal national und international Erfolge feierte – und er war nicht dabei. Er musste erkennen, dass Spieler, mit denen er sich auf Augenhöhe sah, weil er sie von den U17-Turnieren kannte, plötzlich an ihm vorbei zogen und bei internationalen Spitzenvereinen Erfolge feierten. Währenddessen stieg Sahin zum Einwechselspieler bei einem Team im Niemandsland der Liga ab.
»Manchmal frage ich mich, ob ich heute auch dort wäre, wo ein Cesc Fabregas bei Arsenal, ein Anderson bei Manchester ist?« Im Hinterkopf die hämmernde Frage: Wird so ein Angebot wie von Arsenal, so eine Chance jemals im Leben wiederkommen?
2005 schien eine Ewigkeit her zu sein. »Im ersten Jahr freute ich mich nach dem Abpfiff direkt auf den nächsten Samstag. Plötzlich aber bekam ich am Sonntag nach einem Match so seltsam Bammel vorm nächsten Spiel.« Mit dem Verlust der Spielfreude verabschiedete sich nach und nach auch das Selbstbewusstsein. »Statt der zündenden Idee spielte ich lieber einen sicheren Pass.« Doch der Jungstar war gänzlich unerfahren darin, unter seinen Möglichkeiten zu spielen und seiner Form nachzulaufen. Ehrgeizig versuchte er, den Erfolg zu erzwingen. Michael Zorc nahm das Talent beiseite: »Wir sagten Nuri immer wieder, er solle sich nicht so unter Druck setzen. Ein Spieler in seinem Alter muss nicht andauernd erste Wahl sein.« Das sah Sahin ganz anders. Er wollte kein Mitläufer sein, wollte weiter kommen, seinen hart erarbeiteten Ruhm konservieren. Heute sagt er: »Ich hatte damals das Gefühl, ich müsse den Verein auf meinen Schultern tragen.« Anfang 2007 trat der sonst so lebensfrohe Deutsch-Türke eine Art innere Emigration an. Immer öfter verschanzte er sich allein in seiner Wohnung vor der Glotze. Seine Probleme machte er mit sich selbst aus. Als Jürgen Röber van Marwijk als Trainer ablöste, telefonierte Nuri Sahin mal wieder mit seinem Jugendcoach Bayram Celik: »Nuri sagte, er habe gehört, Röber sei ein harter Hund. Ich glaube, er war froh, dass der schnell wieder weg war.« Der neue Coach setzte sichtbar weniger als sein Vorgänger auf den Nachwuchs. Als die Borussia nach acht Spielen unter Röber aber den Abstiegsrängen gefährlich nahe kam, wurde dieser von Thomas Doll ersetzt. Nuri Sahin befand sich derweil in einem mentalen Tief. Reza Fazeli erinnert sich, wie sein Schützling in dieser Zeit einen Satz zu ihm sprach, in dem der aufgestaute Frust zum Ausdruck kam: »Reza, ich habe genug von Fußball.« Der 35-jährige Spielervermittler, der auch Mesut Özil und Hamit Altintop berät, hob nur kurz den Kopf, als wollte er sagen »Red keinen Quatsch« und antwortete: »Und was tust du da?« Sahin hatte gerade den Fernseher angestellt, um ein Fußballmatch anzusehen. Beide mussten lachen.
Solche Frustmomente wurden nur noch von der Unterredung übertroffen, zu der Thomas Doll den Youngster nach Saisonende im Sommer 2007 rief. Darin teilte ihm der Coach mit, dass er bis auf Weiteres nicht mehr mit ihm plane. Zum ersten Mal in seinem Fußballerleben, war Nuri Sahin mit einem konkreten Misserfolg konfrontiert. Zwei Vereine bekundeten Interesse an dem Ausgemusterten: Galatasaray und Feyenoord Rotterdam, wo Bert van Marwijk inzwischen Trainer war. In Abstimmung mit Michael Zorc und seinem Berater Fazeli beschloss Sahin, dass die niederländische Hafenstadt die bessere Variante war, um seine Entwicklung voranzutreiben und sein angeschlagenes Selbstbewusstsein zu kurieren. Besser als ein Engagement in Instanbul, wo die Öffentlichkeit in der Regel keine große Rücksicht auf die Unerfahrenheit eines Kickers nimmt.
»Man merkte ihm an, dass er wusste, was er will«
Mit 18 zog er also aus, um den Erfolg zurück zu gewinnen. Und nebenbei auch, um das Genießen zu erlernen. Er ging gewohnt strategisch vor und machte es sich zur Pflicht, nach jedem guten Spiel zur Belohnung shoppen zu gehen. Designerklamotten. Er verließ sein gewohntes Umfeld in Dortmund und auch die Nähe zu Meinerzhagen, wo ein Großteil des weitverzweigten Sahin-Clans mit mehr als 100 Familienmitgliedern lebt. Außer zu Silvester kehrte er eine ganze Saison lang nicht mehr zurück ins Sauerland. Sahin über den Wechsel: »Alles war verändert: Ich lebte im Hotel, musste mich auf eine andere Verpflegung, eine andere Sprache, einen neuen Freundeskreis einstellen.« Doch das Experiment gelang. Er fand nicht nur schnell Anschluss und Gefallen an der niederländischen Lässigkeit – sondern auch zurück in die Erfolgsspur. Unter Bert van Marwijk machte er 29 Liga-Spiele und holte den niederländischen Pokal. Jan Mastenbroek, zuständig für die ausländischen Spieler bei Feyenoord, lobt Sahin in höchsten Tönen: »Man merkte ihm an, dass er wusste, was er will. Er arbeitete sehr ehrgeizig und geduldig an seinen Defiziten, war dabei aber stets ein sehr angenehmer, zurückhaltender Typ. Einen wie ihn musste man nie nachts aus einer Disco holen.« In Rotterdam erhielt er wieder die Wertschätzung, die er bis zu seinem 18. Lebensjahr als Fußballer gewohnt war. Und als sei es an der Zeit, mal wieder besonders früh dran zu sein, heiratete er im Herbst 2007 seine 18-jährige Cousine Tugba Emini, mit der er seit Ende 2006 liiert war. Sein Ex-Trainer Bayram Celik sagt: »Bei jedem anderen, der mit 19 heiratet, hätte ich mich gewundert. Aber Nuri gibt die Ehe zusätzlichen Rückhalt. Es war eine sehr bewusste Entscheidung: Er wollte einfach nach der Arbeit nach Hause kommen und jemand bei sich wissen.« Sein Umfeld ist sich einig, dass er seit der Heirat lockerer geworden sei und das Leben leichter nehme. Michael Zorc will auch eine erhöhte Druckresistenz bei ihm ausgemacht haben. Und Reza Fazeli ist sicher: »Jetzt hat er das dicke Fell, das er als Profi braucht.« Mit diesem Gefühl kehrte er im Juli nach Dortmund zurück.
Nach seiner Karriereplanung gefragt, sagt er: »Ich träume davon, einmal drei, vier Jahre in England zu spielen. Und am Ende der Laufbahn auch noch mal in der Türkei. Aber vorher muss ich dem BVB etwas zurückgeben.« Denn der Durchbruch, den ihm viele im Verein schon vor Jahren prognostiziert haben, ist ihm in Dortmund noch nicht gelungen. Weil er wegen einer Knieverletzung in der Vorbereitung fehlte, gehörte er unter Jürgen Klopp bislang noch nicht zur Stammelf. Sein ehemaliger U14-Coach Lars Tiefenhoff analysiert: »Nuri ist immer noch ein Getriebener, ein Spieler auf dem Sprung zur großen Karriere. Es wird sich zeigen, ob er den Sprung schaffen kann.«
Am Abend des 2. Oktober 2008 in Udine aber gibt Nuri Sahin dem BVB etwas zurück. Nach dem Fehlschuss von Tamás Hajnal tritt er als zweiter Schütze an den Elfmeterpunkt. Er läuft kurz an und versenkt den Ball cool im Tor. Der BVB verliert den Shoot-Out am Ende zwar, doch wer in diesem Moment genau hinsieht, kann erkennen: Zurück in die Riege der Mitspieler am Mittelkreis trottet nicht mehr das schüchterne Jungtalent von einst, zu seinen Teamkollegen läuft der gestandene Fußballprofi Nuri Sahin. Einer, der mal die Zukunft von Borussia Dortmund war. Ein 20-Jähriger, dessen Zukunft gerade erst beginnt.