Die Hoffenheimer Überraschung der bisherigen Saison heißt Joelinton. Dabei war der Brasilianer längst in Vergessenheit geraten. Kann er sogar besser werden als sein Vorgänger Roberto Firmino?
Am 1. Juli 2015 wechselte Roberto Firmino von der TSG 1899 Hoffenheim zum FC Liverpool. Bis dahin hatte sich der Brasilianer auf Platz acht und vier der Rekordspieler beziehungsweise ‑torschützen der TSG vorgeschoben. Einen kleinen Teil der 41 Millionen Euro Ablöse reinvestierte der Klub direkt in einen neuen Brasilianer: Für 2,2 Millionen kam der 18-jährige Joelinton Cassio Apolinário de Lira, kurz Joelinton, aus Recife in den Kraichgau.
Ersetzen konnte der bullige Mittelstürmer den abgewanderten Firmino, der fortan an der Mersey unter seinem neuen Spitznamen Bobby für Furore sorgte, aber nicht. Fünfmal stand Joelinton im Kader, einmal kam er tatsächlich zum Einsatz – für wenige Sekunden bei einer 0:1‑Niederlage auf Schalke. Nicht nur für ihn selbst verlief das erste Jahr in Deutschland einigermaßen enttäuschend, auch für Hoffenheim war es keine gute Saison. Am Ende Stand Platz 15, Joelinton verlieh die TSG für zwei Jahre an Rapid Wien. Sprachprobleme, Integrationsprobleme, Spielprobleme. Zu große Fußstapfen.
In Wien lief es hingegen deutlich besser: 33 Liga-Einsätze 2016/17, 27 ein Jahr später, saisonübergreifend 21 Tore. Doch auch bei der TSG ging es steil bergauf. Platz vier 2016/17 und Platz drei ein Jahr später, vorne trafen Sandro Wager, Andrej Kramaric oder Mark Uth wie am sprichwörtlichen Fließband. Rund um Sinsheim sprach man nur noch von Nagelsmann-Fußball, Gnabry-Leihen und Europapokal. Der 22-jährige Brasilianer in Wien? Nie von gehört.
Ein brasilianischer Wandschrank mit blondiertem Haupthaar
Nach der erstmaligen Qualifikation für die Champions League hielt sich die TSG auf dem sommerlichen Transfermarkt schadlos. Kasim Adams kam aus Bern für acht Millionen Euro Ablöse, Leonardo Bittencourt für sechs aus Köln. Vincenzo Grifo eiste man aus Gladbach los, Ishak Belfodil aus Lüttich. Joshua Brenet kam für dreieinhalb Millionen aus Eindhoven und Reiss Nelson wurde von Arsenal ausgeliehen. Für die Königsklasse muss man schließlich vorbereitet sein.
Am ersten Vorrundenspieltag gegen Schachtjor Donezk stand von den ganzen Neuen mit Bittencourt aber nur einer in der Startelf. Die Doppelspitze bildeten hingegen zwei alte Bekannte: Adam Szalai und ein brasilianischer Wandschrank mit blondiertem Haupthaar, der vor der Saison von einer Leihe zurückgekehrt war. Wie bitte?
„Die Zeit in Wien hat mich als Spieler und Mensch reifen lassen“, sagte Joelinton der Sportbild. Im zweiten Anlauf ist der Stürmer in Hoffenheim die positive Überraschung und der beste Nicht-Neuzugang der Saison. Julian Nagelsmann sagte während der Vorbereitung: „Er ist ein sehr guter Spieler geworden, er hatte schon immer viel Talent, hat sich aber sehr gut entwickelt in seiner Zeit in Österreich. Er wird sicher das eine oder andere Bundesligator schießen.“
Tatsächlich sind es derer bereits vier nach zwölf Spieltagen. In insgesamt 18 Spielen kommt er bislang auf 15 Scorerpunkte. Aus einer Minute Bundesligaspielzeit hat er zwei Jahre später 895 gemacht, kam bis zum Rückspiel gegen Schachtjor am vergangenen Dienstag in allen Saisonspielen zum Einsatz. „Nagelsmann und er sind ein perfektes Match“, sagt Lutz Pfannenstiel, der Joelinton in Brasilien entdeckte, dem Independent. „Der Nagelsmann-Stil – intelligent sein, verstehen, was er will, vertrauen und arbeiten – Joelinton hat ihn schnell verinnerlicht.“ Die Kombination aus Tempo und Technik, Wucht und Wille macht ihn zu einem von Nagelsmanns wichtigsten Spielern.
„Eine furchtbare Kante da vorne drin, der auch noch gut kicken kann“, beschreibt ihn Sportdirektor Alexander Rosen. „1,92 Meter groß, Körper und Tempo, das kannst du nicht lernen.“ Stimmt. Was man hingegen lernen kann, ist Deutsch. In Wien habe er überall versucht, Deutsch zu sprechen, sagt Joelinton: „Ich bin dadurch ein besserer Spieler geworden, weil ich auf den Platz gehe und genau weiß, was der Trainer erklärt hat.“
Der Mann, den sie Joe nannten
Die Verantwortlichen in Hoffenheim sehen das offensichtlich ähnlich – und verlängerten seinen Vertrag vorzeitig bis 2022. Rosen sagte in diesem Zusammenhang: „Ich sehe die Grenzen bei diesem Spieler noch nicht einmal, da er über einen nicht zu brechenden Willen verfügt und täglich dazulernen will.“ Joe, wie er ihn nennt, habe sich in kürzester Zeit zu einem wichtigen Faktor im Team entwickelt. Nachdem er zwei Jahre in Vergessenheit geraten war.
Der nächste Schritt soll es jetzt sein, aus dem Schatten seines Vorgängers herauszutreten: „Gerade als ich hier angekommen bin, in meinem ersten Jahr, haben sie mich immer wieder Firmino genannt“, sagte er Globo Esporte. „Aber ich möchte meinen Weg gehen, ohne im Schatten anderer zu stehen.“ Einen eigenen Spitznamen hat er zumindest schonmal. Der Vergleich der beiden Stürmer geht allerdings tatsächlich am Ziel vorbei. Während Firmino etwas hängender agiert, sich Bälle tiefer abholt und auch auf die Flügel ausweicht, ist „Joe“ ein Stoßstürmer der klassischen Art, kann Bälle festmachen oder sucht direkt den Abschluss: „Eine echte Kante, die eklig zu verteidigen ist“, wie Nagelsmann sagt.
Auch wenn sie zwei unterschiedliche Spielertypen sind und der Vergleich ihm nicht gefällt: In mancherlei Hinsicht könnte seine Karriere dann aber doch gerne ähnlich verlaufen, wenn es nach Joelinton geht. Zum Beispiel in Sachen Nationalmannschaft: „Wenn ich eines Tages Nationalspieler werde, bin ich ein großer Spieler.“ Oder Premier League? „Dort würde ich gern irgendwann auch mal spielen.“
Wenn er seine Quote halten kann, wird Joelinton seinen Vorgänger Firmino in Hoffenheim nach Toren sogar übertreffen. Kein schlechter Start, um große Fußstapfen noch größer zu machen.