England hat mal wieder ein Elfmeterschießen verloren. Dabei verfolgte Garreth Southgate einen wohlüberlegten Plan: Er verließ sich auf die Statistik und Trainingsleistungen. Warum klappte es trotzdem nicht?
Es ist der sechste Elfmeter für die Engländer. Alle bisherigen Schützen haben getroffen. Dann ertönt der schrille Pfiff des Schiedsrichters Sándor Puhl. Gareth Southgate läuft los und schießt den Ball unplatziert und flach in die linke Torecke. Andy Köpke taucht ab und kann den Schuss parieren. 25 Jahre später, gleicher Ort, neues Stadion: Schiedsrichter Björn Kuipers gibt den Ball mit einem kurzen Pfiff frei, aber Harry Kane bleibt stehen. Er wartet einen Moment, atmet noch zweimal tief durch und läuft dann an. Auch er visiert die linke untere Torecke an, doch sein Schuss ist härter und platzierter als der von Southgate und landet im Tor. Kanes Verhalten vor dem Schuss ist kein Zufall, sondern das Ergebnis einer wissenschaftlichen Analyse des Elfmeterschießens. Southgate hatte sich damit intensiv beschäftigt, denn er wollte die englischen Elfmeterdämonen endlich besiegen.
Geir Jordet, ein norwegischer Wissenschaftler und Sportpsychologe, erzählte kürzlich in einem 11FREUNDE-Interview, dass Gareth Southgate im Jahr 2018 ein vierköpfiges Team beauftragte, um dem Elfmeterschießen wissenschaftlich zu Leibe zu rücken. So sei der englische Verband auch an ihn herangetreten, weil er sich in seiner sportpsychologischen Forschung intensiv mit dem Thema beschäftigt hatte. In der englischen Historie seien demnach besonders zwei Auffälligkeiten zu beobachten gewesen: Ein hastiger Anlauf nach dem Pfiff des Schiedsrichters und eine unsichere Körpersprache.
Die englischen Spieler hätten dem gegnerischen Torhüter seltener in die Augen geschaut als Spieler anderer Nationen. Damit sollte nun Schluss sein. Vor der WM in Russland ließ Southgate intensiv alle Abläufe des Elfmeterschießens trainieren, sogar den Gang der Spieler vom Mittelkreis zum Elfmeterpunkt. Während der diesjährigen Europameisterschaft legte Southgate erneut einen Trainingsfokus auf das Elfmeterschießen. So sei, wie der Engländer nach der Finalniederlage erklärte, eine klare Reihenfolge der Schützen festgelegt worden. Bei allen Versuchen hielten sich die englischen Spieler an den vorgegebenen Ablauf: Ruhiger Anlauf, sichere Körpersprache und langer Augenkontakt zum Torhüter. Am Ende half das alles nicht. Hat Southgate doch etwas falsch gemacht?
Nun sind im Nachgang der Finalniederlage viele kritische Stimmen laut geworden. So hinterfragten Christoph Kramer und Per Mertesacker im ZDF Southgates Entscheidung, mit Marcus Rashford und Jadon Sancho zwei Spieler erst in der 120. Minute für das Elfmeterschießen einzuwechseln. Kramer betonte, dass das„psychologisch einfach nicht gut“ sei, weil „sie das ganze Turnier der Mannschaft nicht wirklich helfen konnten, weil sie nicht wichtig waren“. Der Grund hierfür dürfte, neben der guten Leistungen im Elfmetertraining, abermals einen wissenschaftlichen Hintergrund haben. So fand Geir Jordet in seinen statistischen Erhebungen heraus, dass jüngere Spieler (jünger als 23) mitnichten die schlechteren Schützen seien. „Wenn ich Trainer wäre, würde ich ohne Bedenken auch die jungen und unerfahrenen Jungs antreten lassen“, sagte er im Interview. So dachte offensichtlich auch Southgate, als er den 23-jährigen Rashford, den 21-jährigen Sancho und den 19-jährigen Saka antreten ließ. Darüber hinaus verspricht die Wissenschaft ebenso eine höhere Erfolgsquote bei Spielern, die nicht 120 Minuten durchgespielt haben. Auch dies trifft auf die erfolglosen Schützen Rashford, Sancho und Saka zu – aber nicht auf Harry Kane und Harry Maguire, die beide trafen.
Besonders Roy Keane stürzte sich im englischen Fernsehen auf den Faktor der Unerfahrenheit. So warf er Raheem Sterling und Jack Grealish vor, nicht selbst einen Elfmeter geschossen zu haben: „Du kannst da nicht sitzen und ein kleines Kind vor dir zum Elfmeter gehen lassen.“ Grealish meldete sich daraufhin auf Twitter zu Wort und betonte, dass er sehr wohl angeboten habe, einen Elfmeter schießen. Gleichzeitig nahm er Gareth Southgate in Schutz, sich für andere Spieler entschieden zu haben. Insgesamt zeigt sich in der gesamten Debatte nach dem Spiel vor allem eines: Southgate, der nach der Begegnung die ganze Verantwortung für die Niederlage auf sich nahm, vertraute, neben den Trainingsleistungen, fest auf die Statistik. Aber lässt sich ein Elfmeterschießen im Finale im Training wirklich simulieren? Und ist die Wissenschaft in so einer besonderen Situation der eigenen Intuition vorzuziehen, eher erfahrene Stammspieler als die selten eingesetzten Rashford und Sancho schießen zu lassen? Der Erfolg beim Elfmeterschießen bei der Weltmeisterschaft 2018 gegen Kolumbien gab Southgate damals Recht. Und dennoch lassen sich auch Argumente finden, die seine sportwissenschaftliche Herangehensweise zumindest in Zweifel ziehen.
Da ist zum einen der besondere, nie so richtig zu greifende Faktor Druck. Geir Jordet sagt dazu: „Je höher der Druck, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass der Spieler verschießt.“ Auch wenn eine feste Definition des Begriffs unmöglich ist, ist ein Elfmeterschießen in einem Finale sicherlich eine Situation, in der besonders viel Druck auf den Schützen lastet. Das galt natürlich auch für die Italiener, doch die haben eben nicht die gleiche Historie wie die Engländer. Dass die sportliche Vergangenheit eine Rolle spielt, zeigt sich laut Jordet auch in den Daten. Die Italiener hatten erst kürzlich ein Elfmeterschießen gewonnen, bei den Engländern ist die negative Vergangenheit, trotz des positiven Erlebnisses bei der WM 2018, immer noch ein großes Thema.
Psychologisch kam für die englischen Schützen also eine besondere Konstellation zusammen: Ein Elfmeterschießen in einem Finale mit der englischen Elfmeter-Historie im Hinterkopf. Ein Faktor, der den Druck zusätzlich erhöht haben könnte, ist die Tatsache, dass es sich für die Engländer erst um das zweite Finale bei einer Europa- oder Weltmeisterschaft handelte. In dieser Konstellation muss die Frage gestellt werden, ob es sich tatsächlich noch um einen Vorteil gegenüber den Italienern handelte, in Wembley vor eigenem Publikum einen Elfmeter zu schießen. Ist es in so einer Situation klug, eher unerfahrene Spieler, die in ihrer Karriere noch nicht so häufig hohem Druck ausgesetzt waren, schießen zu lassen?
„Je höher der Druck, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass der Spieler verschießt.“
Letztendlich lässt sich nur eines mit Sicherheit sagen: Alle fünf englischen Elfmeterschützen befolgten die Theorie, und doch scheiterten drei von ihnen. Die englische Nationalmannschaft und vor allem Gareth Southgate mussten am Sonntag schmerzvoll erfahren, dass ein Elfmeterschießen auf Basis wissenschaftlicher Daten nicht automatisch zu gewinnen ist. Was nicht heißt, dass eine wissenschaftliche Annäherung an das Thema nicht sinnvoll wäre. Es bleibt der Eindruck, dass sie aaber nur als Hilfe dienen kann, auf deren Basis Entscheidungen getroffen werden müssen. Das tat Gareth Southgate im EM-Finale. Was gewesen wäre, wenn Sterling, Grealish und Kyle Walker geschossen hätten, ist nicht mehr zu klären. Und doch bleibt bleibt nach dem gestrigen Abend eine Erkenntnis: Das strikte Handeln nach statistischen Werten hat für die Engländer diesmal nicht funktioniert.