Ali bin Nasser war der einzige, der Maradonas legendären Doppelpack im WM-Viertelfinale 1986 gegen England hätte verhindern können – wenn nicht müssen. Doch er tat es nicht. Warum?
Ali bin Nasser hütet zwei äußerst wertvolle Erinnerungsstücke, die nur ausgewählte Besucher zu sehen bekommen. Das eine ist ein himmelblau und weiß gestreiftes Fußballtrikot, handsigniert von Diego Maradona. Mit persönlicher Widmung. Das zweite ist ein gerahmtes Schwarz-Weiß-Foto von 1986. Darauf zu sehen: der kleine Spielführer Argentiniens, links, sowie Englands Kapitän und Torhüter Peter Shilton, rechts, beim obligatorischen Handshake vor dem Ankick zum WM-Viertelfinale im Aztekenstadion von Mexiko-Stadt. Beide, Maradona und Shilton, sollten kurz darauf zu Hauptdarstellern in einer der aufwühlendsten Szenen seit Erfindung des Fußballs werden.
Doch in der Mitte des Fotos steht noch eine dritte, ebenfalls nicht ganz unwichtige Person: Ali bin Nasser (heute 76) war der einzige Mensch, der hätte verhindern können, dass Diego Armando Maradona einen Doppelpack gegen den „Todfeind“ erzielte, dass Argentinien mit 2:1 siegte, ins WM-Halbfinale einzog und später den Titel gewann. Doch der Schiedsrichter aus Tunesien ließ der Geschichte an jenem 22. Juni 1986 ihren Lauf, und das trug ihm 29 Jahre später einen besonderen Dank ein: „Für Ali, meinen ewigen Freund“, lautet die Widmung auf dem himmelblau und weiß gestreiften Trikot, das der große Maradona dem Tunesier 2015 persönlich überreichte. „Ich sagte damals zu Diego: ‚Nicht Argentinien gewann 1986 die WM, das war Maradona‘“, verrät Bin Nasser der BBC. „Darauf erwiderte er nur: ‚Ohne dich hätte ich nie das ‚Tor des Jahrhunderts‘ erzielen können.‘“
Tatsächlich hätte dieser Ali bin Nasser nicht nur die Geschichte des Weltfußballs und die Legende von „El Dios“ maßgeblich umschreiben können. Ohne ihn wäre auch die Hitliste der berühmtesten Tore aller Zeiten womöglich um zwei bedeutende Einträge ärmer. Streng genommen, hätte der damals 42-jährige Unparteiische nicht nur der „Hand Gottes“ beim 1:0 genauer auf die Finger schauen müssen. Auch die Vorkommnisse während Maradonas schier endlosem Slalomlauf vor dem 2:0 hätten Bin Nasser (in deutschen Zeitungen meist „Bennaceur“ geschrieben) genug Anlass geboten, das Spielgeschehen zu unterbrechen.
Die 55. Minute, Spielstand 1:0 für Argentinien: „Maradona ist im Mittelfeld gestartet, und ich habe ihn genau verfolgt“, schildert Ali bin Nasser die Sekunden vor dem Einschlag: „Sie [die Engländer] haben dreimal versucht, ihn zu Fall zu bringen, aber sein Wille zum Erfolg hat ihn immer weiter getrieben. Jedes Mal rief ich ‚Vorteil‘, bis er den Strafraum erreichte. Ich habe von außerhalb des Sechzehners zugeschaut und mich gefragt, wie konnte dieser Kerl drei Verteidiger umdribbeln (Peter Beardsley, Peter Reid sowie Terry Butcher; die Redaktion) und dabei noch fast 50 Meter sprinten? Ich dachte, die Engländer würden ihn spätestens im Strafraum fällen und hielt mich bereit zu pfeifen. Zu meiner Überraschung umdribbelte Maradona noch einen weiteren Abwehrspieler sowie den Torhüter (Terry Fenwick und Peter Shilton, anschließend schüttelte er abermals Butcher ab; die Redaktion) und vollendete das, was später zum ‚Tor des Jahrhunderts‘ gewählt werden sollte.“
Er fühle sich „stolz und geehrt“, eine kleine Rolle bei dieser großen historischen Leistung gespielt zu haben, sagt Ali bin Nasser – und das nicht ganz zu Unrecht, schließlich wurde die Vorteilsregel in den 1980er-Jahren noch nicht so konsequent umgesetzt wie heute, zu Zeiten des VAR. „Hätte ich bei einem der ersten drei Kontakte Foul gepfiffen“, so der langjährige Schiri, „hätten wir ein solch großartiges Tor wohl nie erlebt.“ Doch der kleine Mann mit den großen haselnussbraunen Augen blieb ruhig, und die Pfeife Gottes somit stumm – so wie bereits vier Minuten zuvor.