Steven Gerrard war der letzte Kaiser von Anfield. Dennoch bleibt er der große Unvollendete seiner Generation. Heute wird er 40 Jahre alt. Hätte er mehr erreicht, wenn er weniger gewollt hätte?
Steven Gerrard aber wollte in jeder Saison, in jedem Spiel, in jeder Minute Geschichte schreiben. Auch dann noch, als die Fans des Liverpool FC, dieses selbst so geschichtsträchtigen und ‑versessenen Klubs, in der die Gegenwart sofort zur Vergangenheit gerinnt und jede halbpräzise Flanke history in the making ist, ihn längst zur Legende ausgerufen hatten. 2013 hoben sie ihn, vorbei am eigentlich unübertrefflichen Kenny Dalglish, auf Platz eins ihrer Liste „100 Players Who Shook The Kop“.
Ohne jeden Zweifel hat er die Menschen auf der berühmtesten aller Stehtribünen – und nicht nur dort – erzittern lassen, und das hunderte Male. Und doch glaubt er noch immer, ihnen etwas schuldig geblieben zu sein. Mehr solcher Momente archaischer Schönheit wie seinen Volleytreffer in der 86. Minute gegen Olympiakos Piräus, der den Weg wies zum Gewinn der Champions League 2005. Den englischen Meistertitel womöglich, auf den sie seit 1990 vergeblich warten. Sein Ausrutscher in der Partie gegen Chelsea am 36. Spieltag der vergangenen Saison, der Demba Ba das 1:0 ermöglichte und Liverpool die Tabellenführung kostete, haben sie ihm verziehen – er sich selbst vermutlich nicht. Er sah alt aus in dieser verheerenden 45. Minute, in doppelter Hinsicht. „Ich wünschte, ich wäre noch einmal 24“, sagte er unlängst. Daraus sprach nicht nur Nostalgie, sondern auch Scham, dass er tatsächlich schon 34 ist. Dass er seinen Fans, neben vielem anderen, auch noch die ewige Jugend schuldig geblieben ist. Dass er unverrichteter Dinge abtreten muss. Dass er nur alles gegeben hat. Aber eben nicht mehr.
Und so prangt über Steven Gerrards Abschied die Frage: Hätte er mehr erreicht, wenn er weniger gewollt hätte?
„Ich bin zum Tackling geboren.“
In seiner Autobiografie findet sich eine Passage, die den schmalen Grat markiert zwischen unbedingtem Willen und blindem Aktionismus. Gerrard schreibt über seine Liebe zum Zweikampf: „Ich bin zum Tackling geboren. Für die meisten Profis ist es eine Methode der Verteidigung, für mich ist es ein Adrenalinrausch. Der Anblick einer gegnerischen Mannschaft in Ballbesitz macht mich krank. Ich muss mir den Ball zurückholen, er gehört mir. Das Tackling ist ein Zusammenstoß, der die Feiglinge von den Tapferen trennt.“ Das klingt wie die naiven Prosaversuche eines Vorstoppers aus dem Jahrbuch einer Thekentruppe – erst recht, wenn man es mit einer Aussage von Claude Makélélé vergleicht, dem Großmeister der Grätsche vom Chelsea FC: „Zusammenstöße sollte man unbedingt vermeiden. Sie verwandeln Energie in Schmerz. Du musst nur irgendwie den Zeh an den Ball bringen, das war’s schon.“
Übereifer und fußballerisches Pathos kennzeichneten den jungen und den mittleren Gerrard. Die Effizienz Makélélés blieb ihm fremd, ebenso die Arroganz Patrick Vieiras, des Grandseigneurs vom Arsenal FC, und die Brutalität Roy Keanes, des Beelzebubs von Manchester United, der mit einem Foul den Willen einer ganzen Mannschaft brechen konnte, um sich dann hämisch grinsend in die Katakomben zu verabschieden. Minimalismus? Für Gerrard zählte nicht nur die eine Szene, sondern alles. Gib alles, oder du enttäuschst alle.
Sicher, die nackte Angst, den Erwartungen nicht zu genügen, motivierte ihn und machte aus ihm einen weitaus spektakuläreren Spieler, als Makélélé, Vieira und Keane es je waren – doch nicht selten quälte sie ihn auch. Seinem ersten Premier-League-Einsatz von Beginn an, gegen Tottenham im November 1998, als ihn David Ginola an der White Hart Lane nach allen Regeln der Kunst abkochte, widmet er in seiner Autobiografie gleich mehrere Seiten. „Ginola war heiß“, schreibt er. „Er hat mich verarscht. Geh weg, kleiner Junge, schien er zu sagen. Du bist nicht gut genug. Komm wieder, wenn du dich mit mir messen kannst. Ich stolperte durch einen Albtraum. Ich war ein Nervenbündel.“ Und so geht es weiter mit der Selbstkasteiung. Sein erstes Tor, das er ein Jahr darauf nach einem fulminanten Sololauf gegen Sheffield Wednesday schoss, die eigentliche Erweckung des kommenden Superstars, handelt er hingegen in einer einzigen Zeile ab.
„Dein Barometer steht immer auf Sturm.“
Es musste erst das Gegenstück zum dramatisch veranlagten, individualistischen Gerrard den Weg nach Liverpool finden, um ihn zu einem wahren Weltklassespieler zu formen: der kontrollierte Kollektivist Rafael Benitez. Aus Valencia kommend, war er zunächst unbelastet von der schicksalsschweren Geschichte des Liverpool FC (was sich im Laufe seiner mehr als sechs Jahre Amtszeit freilich ändern sollte, er wurde zu einem der großen Unterstützer der Hinterbliebenen von Hillsborough bei ihrem Kampf um Gerechtigkeit). Er warf einen nüchternen Blick auf Gerrard und sprach: „Dein Problem ist, dass du zu viel durch die Gegend rennst. Dein Barometer steht immer auf Sturm.“
Ganz war ihm die Inbrunst nicht auszutreiben, also entschied sich Benitez, nicht gegen die Natur seines besten Mannes zu arbeiten, sondern mit ihr: Er beorderte ihn aus der Zentrale auf den rechten Flügel, als attacking midfielder. Zwar empfand Gerrard das als Degradierung und machte daraus auch keinen Hehl, doch tatsächlich waren die Jahre unter Benitez die besten seiner Karriere. Dieser Trainer war der erste und blieb der einzige, der erfasste, dass Gerrard kein Dirigent war, der ein Gespür für verschiedene Tempi gehabt hätte. Er kannte nur die Höchstgeschwindigkeit.
Der Dirigent des Liverpool FC in jener Zeit war Xabi Alonso. Als dieser 2009 zu Real Madrid wechselte und Benitez’ Nachfolger, der Traditionalist Roy Hodgson, Gerrard wieder in die Mitte zog, kollabierte die Mannschaft – und der Kapitän verschliss sich auf seiner falschen Position im verzweifelten Kampf gegen den Niedergang. Die Folge: eine komplizierte Leistenverletzung und eine sechsmonatige Pause, die längste seiner Karriere. Damals, im Frühjahr 2011, muss er eine Vorahnung bekommen haben, wie es sein könnte, einmal nicht mehr Spieler des LFC zu sein. Bei seinen gelegentlichen Gastauftritten als Experte bei Sky Sports wirkte er bereits ähnlich beklommen wie nun bei seiner Trauerfeier knapp vier Jahre später.