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Seite 3: In jeder Minute Geschichte schreiben

Steven Ger­rard aber wollte in jeder Saison, in jedem Spiel, in jeder Minute Geschichte schreiben. Auch dann noch, als die Fans des Liver­pool FC, dieses selbst so geschichts­träch­tigen und ‑ver­ses­senen Klubs, in der die Gegen­wart sofort zur Ver­gan­gen­heit gerinnt und jede halb­prä­zise Flanke history in the making ist, ihn längst zur Legende aus­ge­rufen hatten. 2013 hoben sie ihn, vorbei am eigent­lich unüber­treff­li­chen Kenny Dalg­lish, auf Platz eins ihrer Liste 100 Players Who Shook The Kop“.

Ohne jeden Zweifel hat er die Men­schen auf der berühm­testen aller Steh­tri­bünen – und nicht nur dort – erzit­tern lassen, und das hun­derte Male. Und doch glaubt er noch immer, ihnen etwas schuldig geblieben zu sein. Mehr sol­cher Momente archai­scher Schön­heit wie seinen Vol­ley­treffer in der 86. Minute gegen Olym­piakos Piräus, der den Weg wies zum Gewinn der Cham­pions League 2005. Den eng­li­schen Meis­ter­titel womög­lich, auf den sie seit 1990 ver­geb­lich warten. Sein Aus­rut­scher in der Partie gegen Chelsea am 36. Spieltag der ver­gan­genen Saison, der Demba Ba das 1:0 ermög­lichte und Liver­pool die Tabel­len­füh­rung kos­tete, haben sie ihm ver­ziehen – er sich selbst ver­mut­lich nicht. Er sah alt aus in dieser ver­hee­renden 45. Minute, in dop­pelter Hin­sicht. Ich wünschte, ich wäre noch einmal 24“, sagte er unlängst. Daraus sprach nicht nur Nost­algie, son­dern auch Scham, dass er tat­säch­lich schon 34 ist. Dass er seinen Fans, neben vielem anderen, auch noch die ewige Jugend schuldig geblieben ist. Dass er unver­rich­teter Dinge abtreten muss. Dass er nur alles gegeben hat. Aber eben nicht mehr.

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Ger­rard blickt Demba Ba hin­terher – und der Meis­ter­schaft 2014.

Und so prangt über Steven Ger­rards Abschied die Frage: Hätte er mehr erreicht, wenn er weniger gewollt hätte?

Ich bin zum Tack­ling geboren.“

In seiner Auto­bio­grafie findet sich eine Pas­sage, die den schmalen Grat mar­kiert zwi­schen unbe­dingtem Willen und blindem Aktio­nismus. Ger­rard schreibt über seine Liebe zum Zwei­kampf: Ich bin zum Tack­ling geboren. Für die meisten Profis ist es eine Methode der Ver­tei­di­gung, für mich ist es ein Adre­na­lin­rausch. Der Anblick einer geg­ne­ri­schen Mann­schaft in Ball­be­sitz macht mich krank. Ich muss mir den Ball zurück­holen, er gehört mir. Das Tack­ling ist ein Zusam­men­stoß, der die Feig­linge von den Tap­feren trennt.“ Das klingt wie die naiven Pro­sa­ver­suche eines Vor­stop­pers aus dem Jahr­buch einer The­ken­truppe – erst recht, wenn man es mit einer Aus­sage von Claude Maké­lélé ver­gleicht, dem Groß­meister der Grät­sche vom Chelsea FC: Zusam­men­stöße sollte man unbe­dingt ver­meiden. Sie ver­wan­deln Energie in Schmerz. Du musst nur irgendwie den Zeh an den Ball bringen, das war’s schon.“

Über­eifer und fuß­bal­le­ri­sches Pathos kenn­zeich­neten den jungen und den mitt­leren Ger­rard. Die Effi­zienz Maké­lélés blieb ihm fremd, ebenso die Arro­ganz Patrick Vieiras, des Grand­sei­gneurs vom Arsenal FC, und die Bru­ta­lität Roy Keanes, des Beel­ze­bubs von Man­chester United, der mit einem Foul den Willen einer ganzen Mann­schaft bre­chen konnte, um sich dann hämisch grin­send in die Kata­komben zu ver­ab­schieden. Mini­ma­lismus? Für Ger­rard zählte nicht nur die eine Szene, son­dern alles. Gib alles, oder du ent­täuschst alle.

Sicher, die nackte Angst, den Erwar­tungen nicht zu genügen, moti­vierte ihn und machte aus ihm einen weitaus spek­ta­ku­lä­reren Spieler, als Maké­lélé, Vieira und Keane es je waren – doch nicht selten quälte sie ihn auch. Seinem ersten Pre­mier-League-Ein­satz von Beginn an, gegen Tot­tenham im November 1998, als ihn David Ginola an der White Hart Lane nach allen Regeln der Kunst abkochte, widmet er in seiner Auto­bio­grafie gleich meh­rere Seiten. Ginola war heiß“, schreibt er. Er hat mich ver­arscht. Geh weg, kleiner Junge, schien er zu sagen. Du bist nicht gut genug. Komm wieder, wenn du dich mit mir messen kannst. Ich stol­perte durch einen Alb­traum. Ich war ein Ner­ven­bündel.“ Und so geht es weiter mit der Selbst­kas­teiung. Sein erstes Tor, das er ein Jahr darauf nach einem ful­mi­nanten Solo­lauf gegen Shef­field Wed­nesday schoss, die eigent­liche Erwe­ckung des kom­menden Super­stars, han­delt er hin­gegen in einer ein­zigen Zeile ab.

Dein Baro­meter steht immer auf Sturm.“

Es musste erst das Gegen­stück zum dra­ma­tisch ver­an­lagten, indi­vi­dua­lis­ti­schen Ger­rard den Weg nach Liver­pool finden, um ihn zu einem wahren Welt­klas­se­spieler zu formen: der kon­trol­lierte Kol­lek­ti­vist Rafael Benitez. Aus Valencia kom­mend, war er zunächst unbe­lastet von der schick­sals­schweren Geschichte des Liver­pool FC (was sich im Laufe seiner mehr als sechs Jahre Amts­zeit frei­lich ändern sollte, er wurde zu einem der großen Unter­stützer der Hin­ter­blie­benen von Hills­bo­rough bei ihrem Kampf um Gerech­tig­keit). Er warf einen nüch­ternen Blick auf Ger­rard und sprach: Dein Pro­blem ist, dass du zu viel durch die Gegend rennst. Dein Baro­meter steht immer auf Sturm.“

Ganz war ihm die Inbrunst nicht aus­zu­treiben, also ent­schied sich Benitez, nicht gegen die Natur seines besten Mannes zu arbeiten, son­dern mit ihr: Er beor­derte ihn aus der Zen­trale auf den rechten Flügel, als attacking mid­fielder. Zwar emp­fand Ger­rard das als Degra­die­rung und machte daraus auch keinen Hehl, doch tat­säch­lich waren die Jahre unter Benitez die besten seiner Kar­riere. Dieser Trainer war der erste und blieb der ein­zige, der erfasste, dass Ger­rard kein Diri­gent war, der ein Gespür für ver­schie­dene Tempi gehabt hätte. Er kannte nur die Höchst­ge­schwin­dig­keit.

Der Diri­gent des Liver­pool FC in jener Zeit war Xabi Alonso. Als dieser 2009 zu Real Madrid wech­selte und Benitez’ Nach­folger, der Tra­di­tio­na­list Roy Hodgson, Ger­rard wieder in die Mitte zog, kol­la­bierte die Mann­schaft – und der Kapitän ver­schliss sich auf seiner fal­schen Posi­tion im ver­zwei­felten Kampf gegen den Nie­der­gang. Die Folge: eine kom­pli­zierte Leis­ten­ver­let­zung und eine sechs­mo­na­tige Pause, die längste seiner Kar­riere. Damals, im Früh­jahr 2011, muss er eine Vor­ah­nung bekommen haben, wie es sein könnte, einmal nicht mehr Spieler des LFC zu sein. Bei seinen gele­gent­li­chen Gast­auf­tritten als Experte bei Sky Sports wirkte er bereits ähn­lich beklommen wie nun bei seiner Trau­er­feier knapp vier Jahre später.