Wenn die Rumänen heute Abend gegen Deutschland spielen, könnten sie einen wie Gheorghe Hagi gut gebrauchen. Wobei das vermutlich auf jede Mannschaft zutrifft. Der Spielmacher über sein Ballgefühl, den Kommunismus und Diego Maradona.
Dies ist ein Interview aus unserem 11FREUNDE-Spezial „Die Zehn – Magier und Denker des Spiels“. Alle Geschichten aus der Welt der größten Zehner aller Zeiten findet ihr in diesem Heft, das am Kiosk eures Vertrauens oder direkt im 11Freunde-Shop erhältlich ist.
Gheorghe Hagi, was bedeutet die Nummer Zehn für einen Fußballer?
Schon wenn du am Spind das Trikot mit der Nummer Zehn hängen siehst, fühlst du dich wichtig. Die Rückennummer ist die höchste Auszeichnung, die du innerhalb einer Mannschaft bekommen kannst. Aber sie wiegt auch sehr schwer.
Inwiefern?
Du hast eine riesige Verantwortung. Welche Aufgabe hat denn ein Zehner? Er macht den Unterschied. Er ist ein Erfinder. Er muss etwas erschaffen, wo-ran nicht einmal der Trainer gedacht hat.
Muss ein Zehner also anarchisch spielen?
Oft. Aber in Barcelona habe ich gelernt, dass sich auch der Zehner dem System unterordnen muss. Er muss sich seine Freiheiten nehmen, aus dem System auszubrechen, und immer das Risiko eingehen, etwas Unerwartetes zu tun. Dafür braucht er ein gutes Spielverständnis und eine gute Übersicht. Er muss Selbstvertrauen haben und intelligent sein.
Ioan Lupescu sagte mal über Sie, Sie seien ein Genie, aber hätten keine gute Arbeitseinstellung.
Die Spieler hinter der Nummer Zehn müssen arbeiten: die Achter, die Sechser, die Vierer. Lupescu hat acht Jahre lang in Deutschland gespielt, da muss selbst der Zehner arbeiten, deswegen sagte er das vielleicht. Aber schauen Sie sich die Mannschaft im Rest von Europa an: Die Nummer Zehn arbeitet nicht. Sie macht den Unterschied.
Wann wussten Sie, dass Sie ein Zehner sind?
Als ich drei Jahre alt war.
Wie bitte?
Ich habe in dem Alter schon gemerkt, dass ich am Ball mehr kann als die anderen. Ab da habe ich meine Eltern täglich angefleht, mir einen Ball zu schenken. Als ich endlich einen bekam, habe ich ihn überall hin mitgenommen. Zur Schule, auf die Straße. Ich habe jeden Tag mit dem Ball gespielt. Ich bin erst mit zehn Jahren in einen Verein eingetreten.
Mit 22 wechselten Sie zu Steaua Bukarest und übernahmen schon im ersten Spiel die Chefrolle.
Es war das Finale des UEFA-Supercups gegen Dynamo Kiew, in dem ich per Freistoß das entscheidende Tor machte. Ein fantastisches Gefühl. Der Beginn einer erfolgreichen und schönen Zeit.
Ihr Entdecker Valentin Ceausescu, der Sohn des rumänischen Diktators, überließ Ihnen nach Ihrem Wechsel zu Steaua Bukarest einen klimatisierten Mercedes mit Chauffeur und eine Villa mit Swimmingpool.
Das ist heute nicht mehr wichtig. Wichtig ist für mich, dass ich in einer guten Mannschaft, einer der besten in Europa, gespielt und Titel gewonnen habe.
Aber Sie lebten in einer Diktatur. Gute Fußballer wie Sie durften das Land nicht verlassen.
1987 wollte Juventus Turin mich unbedingt haben. Der Verein bot an, eine Fiat-Fabrik in Bukarest zu bauen. Die rumänische Regierung lehnte aber ab. Ich konnte erst nach dem Ende von Nicolae Ceausescu nach Westeuropa wechseln. Im Sommer 1990 besuchte mich Ramon Mendoza (damaliger Präsident von Real Madrid, d. Red.) persönlich in Bukarest. Nach zwei Minuten hatte ich den Vertrag unterschrieben.
Das hört sich nicht nach schwierigen Verhandlungen an.
Nein, es war mir eine Ehre, dass mich der Präsident besuchte. Außerdem war das Real Madrid, da war mir Geld egal. Es ging nur um Ehre und Stolz.
Wie war die Umstellung für Sie?
Ich war 25, wechselte aus dem Kommunismus zum größten Verein der Welt. Alles war anders, das Essen, die Sprache, die Menschen, das ganze Leben. Es war nicht einfach. Aber Hugo Sanchez hat mir geholfen. Er hat mir Spanisch beigebracht. Er war mein Zimmerkollege und wurde ein guter Freund. Genauso wie „El Buitre“ (Emilio Butragueno, d. Red.).
Ausgerechnet zwei Stürmer.
Ich habe mich mit den Neunern immer am besten verstanden. Als Zehner ist es auch deine Aufgabe, mit ihnen zu harmonieren.
Wie hat Real Madrid Sie verändert?
Ich habe gelernt, worauf es im Fußball ankommt: Wenn du in so einem großen Verein auch nur eine Sekunde nachlässt, verlierst du deinen Platz in der Mannschaft. Ich musste jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde top sein. Wenn du der Beste der Welt sein willst, kannst du keinen schlechten Tag haben, sonst reicht es nicht mehr. Und ich wollte der Beste sein.