Als HSV-Fan machte man in diesem Jahr einiges mit: zwei Trainerentlassungen, ein Fast-Abstieg und zahlreiche Negativrekorde. Das Gute daran: Man konnte sich wieder über die kleinen Dinge freuen.
In persönlichen Jahresrückblicken führt man ja gerne Bombast-Momente auf. Die eigene Hochzeit am Karibikstrand, den Wochenendtrip mit dem Privat-Helikopter an die Cote d’Azur, die gemeinsame Zechtour mit Lemmy Kilmister. Big-Player-Zeugs eben.
Mein Jahr verlief ziemlich bescheiden. Ich zog mir im November, beim Versuch mit einem Moped einem streunenden Hund auszuweichen, einen Bänderriss zu. Ich nahm fünf Kilo ab und zehn zu. Und ich setzte beim unlängst beschriebenen Spiel mit Thomas Hitzlsperger eine punktgenaue Flanke desselbigen aus vier Metern an die Eckfahne. Freistehend vor dem leeren Tor.
Das Schlimmste aber: Ich schaute weiterhin die Spiele des HSV. Woche für Woche in der Kaschemme meines Vertrauens und gelegentlich sogar im Stadion. Die Gesamtsituation war hie wie da: beschissen.
Der Klub entließ namhafte Trainer und stellte andere (ebenfalls namhafte) Trainer ein. Im Hintergrund experteten die immergleichen neunmalklugen HSV-Edel-Fans mit den immergleichen HSV-Edel-Aufsichtsräten, so dass nur noch Vera Int-Veen fehlte, um aus dem ganzen Theater eine ziemlich gute Privatsender-Reality-Doku zu machen. Die Mannschaft passte sich dem ganzen Zirkus wie immer wunderbar an und verlor die letzten fünf Saisonspiele. Sie stieg wundersamerweise trotzdem nicht ab, weil zwei andere Teams noch schlechter spielten. Am Ende hatte der Klub dennoch einen Negativrekord gebrochen, denn mit 27 Punkten konnte bis dahin noch keine Mannschaft die Klasse halten.
„Jetzt geht’s lohoooos!“
Immerhin folgte danach ein kleines Hoch: die WM, der Sommer, die neuen Spieler, der neue Sportdirektor, der Saisonstart. Oh ja, der Saisonstart! Ein 0:0 in Köln. Es war der erste Punkt seit Anfang April, und wir sangen „Jetzt geht’s lohoooos!“ und: „Der HSV ist wieder da!“ Dann schauten wir noch einmal auf den Spielstand: 0:0 in Köln! In Köln? Beim Aufsteiger! Großartig.
Der HSV verlor zwar die nächsten beiden Spiele, doch dann gelang ein erneutes 0:0 gegen den FC Bayern, der den Hamburgern in den vorherigen vier Aufeinandertreffen 21 Tore eingeschenkt hatte. Auch dieses 0:0 wurde gefeiert wie eine Meisterschaft, und wir sangen wieder: „Der HSV ist wieder da!“ Zumal er nun auch einen neuen Trainer hatte, der einen amerikanischen Namen trug und stilvoll die neunziger Jahre überlebt hatte. Es konnte nur aufwärts gehen, glaubten wir, und die Edel-Experten dachten ähnlich. Irgendjemand sprach von einem neuen Geist, ein anderer spürte Aufbruchstimmung. Toll.
Die Sache war nur: Der HSV hatte bis zu diesem Zeitpunkt gerade mal zwei Punkte gesammelt und zudem noch kein einziges Tor erzielt. Als die Mannschaft dann auch noch in Gladbach 0:1 verlor, konnte man täglich lesen, dass nun nicht mehr viel fehlte, um einen neuen Negativrekord zu knacken, nämlich den des VfL Bochum aus der Saison 1979/80. Der hatte damals ebenfalls in den ersten fünf Partien kein Tor erzielt und am sechsten Spieltag in der 25. Minute getroffen.
Diese Sache stimmte mich kurzzeitig recht traurig, denn Rekorde hatten es bis dahin mit dem HSV immer recht gut gemeint. In den achtziger Jahren, so erzählt man sich, soll der HSV mal 36 Spiele in Folge ungeschlagen geblieben sein. Dieser Rekord hielt ziemlich lange, und jedes Mal, wenn eine Mannschaft sich hernach anschickte, diese Serie zu überbieten (zumeist der FC Bayern) wurde auf diese goldene Hamburger Ära verwiesen. Garniert wurde die ganze Schose mit ein paar alten Bildern und kurzen Interviews mit Horst Hrubesch oder Uli Stein, der dann über die heutige Spielergeneration lästern durfte, da diese damals nicht mal das Ballnetz hätten tragen dürfen. Es waren gute Momente, doch wenn man ehrlich blieb, waren es die einzigen guten Momente, die der HSV in jüngster Zeit in der Sportberichterstattung genoss.
Mit fünf Toren in die Europa League?
Wie auch immer: Der HSV jagte nun mal wieder einen Rekord. Am sechsten Spieltag gegen Eintracht Frankfurt musste die Mannschaft vor der 25. Minute treffen, doch – oh Wunder – sie tat es natürlich nicht. Aber wen interessierte das noch?
Den VfL Bochum? Die Liga? Die Fans?
Mich?
Nun gut, ein bisschen vielleicht, schließlich schaut man sich als Fußballliebhaber ja ganz gerne mal ein Tor der eigenen Mannschaft an, und so jubelte ich ein wenig lauter als sonst, als Nicolai Müller den Ball in der 58. Minute aus sieben Metern über die Linie drückte. Am Ende verlor der HSV das Spiel zwar noch 1:2 verlor, weil Lucas Piazón einen Freistoß in der 90. Minute aus 35 Metern im Winkel setzte, doch das war vollkommen egal. Denn der amerikanisch klingende Trainer war noch da, und es herrschte ja Aufbruchstimmung, ein neuer Geist – und zuletzt die Gewissheit: Wer mit 27 Punkten nicht absteigen kann, würde doch bestimmt auch mit hochgerechneten fünf bis sechs Saisontoren in die Europa League einziehen.