Jeder kleine Fußballfan der Welt hat einen Lieblingsspieler. Doch je älter wir werden, desto seltener verlieben wir uns bedingungslos und bis über beide Ohren. Umso schöner, wenn es doch mal wieder kribbelt.
An diesem Samstag spielte Hertha in Paderborn, erstmals durfte der im Winter verpflichtete Matheus Cunha spielen. Er war erst vor ein paar Tagen zur Mannschaft gestoßen, zuvor war er mit der brasilianischen U21-Nationalmannschaft unterwegs gewesen und hatte das Team mit seinen Toren zu den Olympischen Spielen geballert. Bestimmt kein Blinder. Aber halt auch ein blutjunger Kerl, der in Leipzig vor allem damit aufgefallen war, spät eingewechselt zu werden und dann einigermaßen kläglich Großchancen zu vergeben. Aber was hatte Hertha zu verlieren? Die Saison war ja eh schon im Arsch, beziehungsweise war die Saison gerade explodiert, Klinsmann war live auf Facebook geflüchtet, das 1:3 zu Hause gegen Mainz hatte an Splatterfilme erinnert, so brutal war die Mannschaft von Robin Quaison abgeschlachtet worden, und Alexander Nouri, der jetzt, warum auch immer, für seinen Ex-Chef Klinsmann übernehmen sollte, hatte keines seiner letzten 423 Bundesligaspiele gewonnen. Es konnte nur besser werden. Und dann legte Cunha los.
Er spielte wild. Er tanzte mal zwei Leute aus, dann verhedderte er sich mit einer dummen Aktion im Mittelkreis, er gestikulierte raumgreifend, er krempelte die Hosenbeine hoch bis weit über die Oberschenkel, als sei er besonders stolz auf diesen Teil seines Körpers. Er stolzierte über den Platz, als würde er ihm gehören. Mitte der zweiten Halbzeit, Paderborn hatte grade ausgeglichen und war drauf und dran, Hertha tief in den Abstiegskampf zu zerren, lief er alleine auf den Torwart zu. Und versuchte diesen zu überlupfen. Mit einem nicht nur schlechten, sondern peinlichen Versuch. Beim Stand von 1:1, in einem so wichtigen Spiel. Was für ein arrogantes Bürschchen! Also doch ein Blinder. Preetz, du Null!
Von wegen.
In den Minuten danach zeigte Cunha mehr Herz als die gesamte Hertha-Mannschaft in den 21 Spielen zuvor, er erkämpfte sich mehrfach in giftig geführten Zweikämpfen den Ball am eigenen Strafraum, er marschierte, er wurde umgenietet, er stand wieder auf. Er traf. Zum 2:1‑Sieg. Mit der Hacke (auch wenn irgendein DFL-Mensch gemeinerweise auf Eigentor Paderborn entschied). Nach dem Spiel war es um mich geschehen. Cunha, du Fußballgott.
Seitdem bin ich in Cunha verknallt. So richtig. Auch, weil er in den Wochen danach, also in den Spielen vor Corona und in den Geisterspielen seit Mai, alles bestätigte, was er in Paderborn angedeutet hatte. Er macht Fehler, er trifft noch zu oft falsche Entscheidungen, aber er macht eben auch die besonderen Dinge. Dinge, wegen denen man traurig ist, dass man sie nicht live im Stadion verfolgen kann. Cunha spielt mit Hingabe. Er hat ein totes Team wiederbelebt. Er, ein 20-jähriger Neuzugang aus Brasilien, der in Deutschland bisher nichts gerissen hatte, reißt plötzlich andere mit und geht in schwierigen Momenten voran. Er entscheidet Spiele. Wenn er am Ball ist, ist alles möglich. Wird ihm der Ball weggenommen, ist er persönlich beleidigt. Wird er ausgewechselt oder fällt verletzt aus wie morgen in Dortmund, bin ich versucht, den Fernseher aus- oder gar nicht erst einzuschalten. Und die Gegenspieler kommen nicht klar mit einem wie ihm, mit einem, der Fußball nicht so spielt, wie es in den DFB-Lehrbüchern steht, sondern so, wie er das für richtig hält. Wie, der wartet gar nicht, bis ihn der Außenverteidiger überläuft und spielt dann einen Vier-Meter-Pass, mit dem jeder seit acht Minuten gerechnet hatte, sondern marschiert einfach rein ins Getümmel? Was soll das denn? Will der uns verarschen?
Er ist ein Typ, der erst das Derby entscheidet, sich dann fix auswechseln lässt und dann ab ins Krankenhaus düst, wo er ein paar Stunden später zum ersten Mal Vater wird. Eine Art Teufelskerl. Außerdem sieht er einfach verdammt gut aus in seinem blau-weißen Trikot. Das muss man ja auch mal sagen.
Wenn Leute in meinem Umfeld behaupten, man solle Cunha jetzt nicht zu schnell zu sehr über den grünen Klee loben, ergreife ich Partei für ihn. Wie früher für Marcelinho oder Podolski. Wenn Leute sagen, dass Cunha eh bald wieder weg sein wird, Inter Mailand oder so, dann frage ich: Na und? Dann lasst ihn uns doch so lange es geht genießen. Außerdem ist es ja so: Ich habe mir Cunha nicht ausgesucht. Es war andersrum.