Der schottische Fußball lebt. Das haben die Glasgow Rangers in ihrer diesjährigen Europa-League-Saison gezeigt. Doch es gab Zeiten, da war der schottische Fußball das Maß aller Dinge. Besser: Celtic Glasgow war es. Heute vor 55 Jahren gewannen sie den Europapokal der Landesmeister.
Derweil machten sich über 15.000 Celtic-Fans, von denen viele noch nie im Ausland gewesen waren, auf den Weg nach Lissabon. Die Kosten für Flug und Ticket beliefen sich auf rund 23 Pfund, was mehreren Wochengehältern entsprach. Doch „man musste einfach dabei sein“, wie Celtic-Anhänger John Paterson sagt. Seine Reise führte ihn mit Zügen und Fähren über Land und Meer. Wenn er nicht weiterkam, trampte er. Er hatte keine Ahnung, wie er wieder nach Hause gelangen sollte – „aber irgendwie kommt man schon zurück, oder?“
Andere Unerschrockene hatten sich in einem riesigen Konvoi aus Glasgow auf die 2800 Kilometer lange Reise ins Ungewisse gemacht. Angeführt von dem jungen Journalisten John Quinn in einem grün-weißen Auto der Marke Hillman Imp, schlängelte sich die „Celticade“ genannte Parade südwärts bis zur Zollgrenze Portugals. Dort antworteten die fröhlichen Schotten auf die Frage, ob sie etwas zu verzollen hätten: „Celtic wird mit dem Europapokal zurückkommen.“
Ernie Wilson hatte die verrückteste Maßnahme von allen ergriffen, um an sein Ticket zu kommen. Er war einer der wenigen, die zu der Zeit eine eigene Wohnung besaßen – und verkaufte sie kurzerhand an den Boss seines Kumpels. „Ich hatte sowieso schon Probleme mit meiner Frau“, sagt Wilson und zuckt mit den Achseln. Die Ehe überlebte das Finale nicht, doch für ihn „war der Trip jeden Penny wert“.
Am Nachmittag des 25. Mai 1967 strömten schließlich Heerscharen von Celtic-Fans ins Estádio Nacional, um das zwölfte Finale des Europapokals der Landesmeister zu sehen. Dicht gedrängt im Estoril End, waren sie den italienischen Fans zahlenmäßig weit überlegen. In Erinnerung an Benficas Schmach gegen Inter im Finale von 1965 feuerten auch die portugiesischen Fans an diesem Tag Celtic an. Sie sangen in gebrochenem Englisch ihnen bis dato unbekannte Songs und nippten glücklich und zufrieden am mitgebrachten Duty-free-Whisky.
So wurde das Finale zu einem Heimspiel für die Schotten. „Unsere Farben waren einfach überall“, sagt Kapitän Billy McNeill. „Es war eine unglaubliche Atmosphäre, ein fantastischer Platz und ein großartiges Spektakel. Alles hat gepasst.“
„Unser Torwart Ronnie Simpson war 37, und ohne seine Zähne sah er aus wie 67“
Und da standen sie nun, im Tunnel, neben ihnen die „Ambre-Solaire-Männer“. Außenverteidiger Jim Craig ließ den Blick über seine Mannschaftskameraden schweifen: „Unser Torwart Ronnie Simpson war 37, und ohne seine Zähne sah er aus wie 67. Der kleine Jimmy Johnstone war mit seinen 1,60 Meter ein Zwerg, und Bertie Auld humpelte beim Gehen. Man konnte richtig sehen, wie die Italiener ihn musterten und dachten: ›Den merk ich mir!‹“
Dabei spielten sie gegen ein Team von furchtlosen Freunden, deren Vertrauen ineinander unermesslich war. Der spontane Gesangsausbruch war eine Manifestation ihrer Kameradschaft. „Es war ein surrealer Moment“, sagt Craig. Und ein psychologischer Geniestreich: Als die Spieler von Celtic das Spielfeld betraten, hatten sie ein Lächeln auf dem Gesicht. In den Ohren der Mailänder jedoch hallten das keltische Lied der Gegner und sieben Jahre Einschüchterungsparolen von Herrera wider.
Trotzdem brauchte Inter nur sieben Minuten, um ein Tor zu erzielen. Renato Cappellini rannte auf das Tor von Celtic zu, prallte mit Jim Craig aneinander und erhielt dafür vom deutschen Schiedsrichter Kurt Tschenscher einen Strafstoß, den Sandro Mazzola sicher verwandelte. Und auf der Tribüne brüllte Craigs Vater: „Bin ich etwa den ganzen Weg hierhergekommen, um das zu sehen?!“
Doch der Rückstand rüttelte Celtic wach. „Danach gab es nur noch einen Weg für uns“, sagt Billy McNeill. Inter zog sich verbissen in die Verteidigung zurück und hoffte, so das 1:0 halten zu können. Der legendäre BBC-Kommentator Kenneth Wolstenholme ahnte: „Inter macht einen großen Fehler, wenn es sich jetzt auf seine weltberühmte Catenaccio-Taktik verlässt. Nicht gegen ein Team wie Celtic, das ebenso viel Mannschaftsgeist wie Können besitzt.“
Tatsächlich wurde ohne Stürmer Jair da Costa und den verletzten Passgeber Luis Suárez Inters Schwachstelle immer deutlicher: Der zusätzliche Mann in der Verteidigung machte ihr Mittelfeld anfällig, überrannt zu werden. Die Glasgower Stevie Chalmers und Willie Wallace standen abwechselnd tief, während Jim Craig und Tommy Gemmell mit schnellen Vorstößen nach vorne agierten. „Dein Job ist es, zu spielen wie Facchetti, zu denken wie Facchetti – sei Facchetti!“ hatte Jock Stein Gemmell mit auf den Weg gegeben. Der unermüdlich rennende Glasgower Junge gab also den tief in die gegnerische Hälfte vorstoßenden Außenverteidiger, und Inters Weltstar Giacinto Facchetti staunte nicht schlecht über diese Kopie seiner selbst. Kurz vor der Halbzeit gab Gemmell einen derart gewaltigen Volleyschuss aufs Tor ab, dass Giuliano Sarti seine Mühe hatte, den Ball zu halten. „Ich glaube, ich habe noch nie ein Team gesehen, das so auf Angriff ausgerichtet ist wie Celtic Glasgow“, raunte Kenneth Wolstenholme in seiner Sprecherkabine.
Erste Risse wurden in Inters einst so undurchdringlich scheinender Aura deutlich, und in der Halbzeit peitschte Stein seine Männer weiter nach vorne. Ausschlaggebend war schließlich seine Anweisung, die Taktik umzustellen: Er riet seinen Spielern, die Bälle in den Rücken der Abwehr zu spielen, anstatt mit Flanken über die Flügel zu kommen, um so den Ball von der massiven Inter-Abwehr fernzuhalten. Diese Vorgabe im Kopf, stürmten Craig und Gemmell in der 62. Minute gemeinsam nach vorne. Craig dribbelte auf der rechten Seite, und als er die Verteidigung auf sich gezogen hatte, zirkelte er den Ball zu Gemmell hinüber, der den Pass lautstark eingefordert hatte. Der rechtsfüßige Linksverteidiger jagte einen unhaltbaren Schuss oben ins Netz – Inters Abwehr war geknackt, und bei den Celtic-Fans hinter dem Tor brachen alle Dämme.