„Bella Italia“ lautet das Titelthema unserer neuen Ausgabe. Es gibt sie noch, die Lichtblicke im italienischen Fußball. Wie beim aktuellen Tabellenführer SSC Neapel.
Viele Jahre lang war Italien eines der großen Sehnsuchtsländer der deutschen Fußballfans. Große Mannschaften von Inter bis zur Roma, legendäre Stadien wie das Mailänder San Siro und das Artemio Franchi in Florenz, dazu heißblütige Anhänger in den Kurven. Auch die deutschen Stars zog es immer zuallererst über die Alpen. Italien liebte den Calcio eben besonders inbrünstig, und es konnte jeder verstehen, dass Gianna Nannini zur WM 1990 von den „Notti magiche“ sang, von den magischen Nächten des italienischen Fußballs. Doch mittlerweile ist der Lack nicht nur in der Serie A ziemlich ab, viele Stadien sind inzwischen baufällig, die Zuschauer bleiben ebenso weg wie internationale Stars, die Klubs leiden unter astronomisch hohen Schulden, und in den Ultra-Kurven ist Gewalt oft ein probates Mittel. All das ist einigermaßen deprimierend, für unsere Autorin Birgit Schönau jedoch kein Grund, das Fußballland Italien nicht trotzdem zu lieben. Man muss nur sehr genau hinschauen, um zu entdecken, dass das italienische Herz immer noch laut und wild für den Fußball schlägt. Für unsere aktuelle Ausgabe (#171) hat Schönau genau das getan – „Bella Italia – Eine Liebeserklärung an ein kaputtes Fußballland“ heißt ihre Titelgeschichte, die wir euch selbstverständlich ans Herz legen wollen.
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Zur Einstimmung auf unsere neue Ausgabe veröffentlichen wir hier nun das Interview mit Daniele, genannt „Decibel“, Bellini, der seit über 20 Jahren Stadionsprecher beim aktuellen Tabellenführer SSC Neapel ist. Wenn einer die Liebe zum italienischen Fußball erklären kann, dann doch er.
Daniele Bellini, wie haben Sie es geschafft, Stadionsprecher bei Napoli zu werden?
Ich arbeite seit mehr als 20 Jahren beim Radio und ich habe dort meine Berufung gefunden. Was Napoli betrifft: alles hat mehr oder weniger durch einen Zufall angefangen, einer meiner Kollegen, der damals im Stadion arbeitete, konnte aufgrund privater Probleme nicht zum Spiel gehen. Ich habe ihn damals für einen Tag ersetzt und hielt das für eine einmalige Sache. Das ist jetzt sechs Jahre her und ich mache es immer noch.
War es trotzdem ein Kindheitstraum, Stadionsprecher bei Napoli zu werden?
So etwas konnte ich mir nicht erträumen. Ich war zuvor ein ganz normaler Fan, der zu den Heimspielen ins Stadion ging und die Auswärtsspiele am Fernseher geguckt hat. Ich hätte mir niemals vorgestellt, jemals so nah an meinen Idolen arbeiten zu können.
Dennoch ist es Ihnen gelungen, ein echtes Markenzeichen zu entwickeln: das mehrfache Skandieren des Namens des Torschützens, dargeboten beim Heimspiel in der Champions League gegen Dortmund vor einigen Jahren. Wie kam es damals dazu?
Ich wollte bei meiner Arbeit immer ein paar neue Akzente setzen und dachte eigentlich, mit Edison Cavani und der siebenfachen Wiederholung seines Namens hätten wir das Maximum erreicht, aber wir haben an diesem Tag mit Gonzalo Higuain alle Rekorde gebrochen. (Bellini brüllte seinen Namen gleich neunmal, siehe Video, d. Red.)
Können Sie das Gefühl beschreiben, wenn Sie einen Torschützen von Napoli ansagen?
Diese Emotionen sind einmalig, weil du einerseits glücklich bist, dass deine Mannschaft ein Tor geschossen hat, aber andererseits musst du konzentriert bleiben, um deine Arbeit vernünftig zu machen. Das ist alles andere als einfach!
Wie reagieren die Spieler auf diese spezielle Art, Torerfolge zu feiern?
Sie freuen sich natürlich immer wie Bolle, wenn ihr Name vom ganzen San Paolo skandiert wird. Die Zuschauer sind außergewöhnlich und sehr leidenschaftlich und das hilft den Spielern, immer das Maximum in den Spielen zu geben.
Wie bereiten Sie sich auf die Spiele vor?
Natürlich versuche ich vor wichtigen Spielen, meine Stimme zu schonen, um zu 100 Prozent fit zu sein. Da darf ich mich dann natürlich nicht erkälten. Ansonsten handele ich eher intuitiv.
Was macht den SSC Neapel so besonders?
Der Verein ist für jeden Neapolitaner wie eine Verlobte. Fragt man einen Neapolitaner nach der Bedeutung der Mannschaft, wird er mit Sicherheit antworten, dass Napoli die wichtigste Sache in seinem Leben ist. Für uns ist gibt es nichts Größeres als die Liebe zu unserem Verein, selbst in der Serie C waren wir mit 60.000 Leuten im Stadion!
Gibt es Ihrer Meinung nach noch andere Stadien auf der Welt, die ähnlich spektakulär sind wie das San Paolo?
In der Türkei gibt es jede Menge Stadien, in denen es ähnlich heiß hergeht wie bei uns. Auch unsere Freunde, die Fans von Borussia Dortmund, sind außergewöhnlich leidenschaftlich. Es gibt noch mehr Stadien, in denen die Luft brennt, aber ich glaube, dass das San Paolo unter den besten Fünf auf der Welt ist, was Stimmung und Begeisterungsfähigkeit der Leute angeht.
Wie ist die Beziehung zwischen Stadt und Verein? Wird jeder italienische Klub von seiner Stadt genauso verehrt?
Wir Italiener lieben den Fußball sehr innig, aber wir Neapolitaner sind noch eine Spur verrückter. Die Liebe, die wir der Mannschaft entgegenbringen, ist absolut irrational. In jeder Straße, in jedem Viertel und in jeder Kneipe der Stadt findet man ein Foto eines Spielers, einen Schal oder eine Fahne. Die Liebe zum Verein ist extrem.
Was sind die Gründe dafür?
Napoli hat in seiner Geschichte nicht sehr viele Titel gewonnen, das steht fest. Aber der Verein hatte den größten Spieler der Geschichte in seinen Reihen: Diego Armando Maradona. Das reicht meistens schon aus, um die Unterschiede zwischen Napoli und den anderen italienischen Vereinen zu erklären. Ich erinnere mich noch sehr gut an die Zeit, als Napoli 1990 zum letzten Mal den Scudetto gewinnen konnte. Diese Zeit war unglaublich. Ich war damals noch ein Kind und auf meinem Nachttisch standen Fotos von Maradona, Careca und Giordano – diese drei waren magisch! Mit ihnen konnte Napoli dominieren und keine andere Mannschaft hatte eine Chance. Der Klub und seine Fans haben es verdient, diesen Traum noch einmal zu erleben.
Sie betonen oft die intensive Beziehung zwischen Stadt und Verein. Würden Sie sich eine Mannschaft wünschen, die zu 100% aus Neapolitanern besteht?
Die Herkunft eines Spielers ist nicht so wichtig. Das Wichtigste ist, dass jeder Spieler, der die Farben Napolis trägt, mit voller Hingabe, Leidenschaft und Energie seiner Aufgabe nachgeht, damit der Verein in jeder Saison die bestmöglichen Resultate erreichen kann. Auf jeden Fall wissen aber Neapolitaner besser, wie verrückt die Fans in ihrer Unterstützung des Vereins sind und manchmal hilft das dann, um noch mehr zu kämpfen und der Mannschaft zu helfen.
Spieler wie Lorenzo Insigne und auch Gonzalo Higuain werden immer wieder mit dem großen Maradona verglichen. Ist das Motivation oder eher zu viel Druck?
Der Fußball hat sich seitdem stark verändert und wir sprechen über zwei komplett unterschiedliche Epochen. Es gibt immer wieder mal starke und außergewöhnliche Spieler im Kader von Napoli, aber niemand wird jemals mit Maradona verglichen werden können.
Sie wissen viel über das Innenleben der Mannschaft und von ihren Auftritten in den sozialen Netzwerken weiß man, dass Sie viel mit den Spielern zu tun haben. Was passiert, wenn ein Spieler den Verein verlässt? Bleiben Sie mit ihm in Kontakt?
Es ist natürlich schwierig, ständig in Kontakt zu bleiben, da sowohl die Spieler als auch ich jede Menge Arbeit haben. Aber dank Twitter und Instagram kann man sich dann doch recht einfach Nachrichten schicken. Fest steht auch, dass alle Spieler, die Napoli verlassen, immer mit der Stadt verbunden bleiben – das Leben in der Stadt verändert die Spieler.
2014 wurde der 27-jährige Neapel-Fan Ciro Esposito am Rande des italienisches Pokalendspiels gegen den AS Rom von Roma-Capo Daniele de Santis niedergeschossen und erlag sieben Wochen später seinen Verletzungen. Was ist seit dieser Trägodie in Neapel passiert?
Ciro war wie wir alle ein junger Fan von Napoli, der sich mit einem Sandwich im Rucksack auf die Reise gemacht hatte, um seine Lieblingsmannschaft zu sehen. Was dann passierte, hat uns alle geschockt und wir reden heute noch sehr viel darüber. Ciros Eltern haben zusammen mit vielen Freiwilligen eine Initiative gegründet, welche sich um Kinder und Erwachsene kümmert, die finanzielle und moralische Unterstützung brauchen. Eine sehr schöne Aktion, an der man sieht, dass aus Hass auch Liebe werden kann.
Der italienische Fußball befindet sich insgesamt in einer schwierigen Situation. Was braucht er, um wieder sein ehemaliges Niveau zu erreichen?
Unglücklicherweise sind heutzutage der englische und spanische Fußball wichtiger. In Italien gibt es auf jeden Fall genug Potential und wir könnten es auch besser machen, wenn mehr Geld in die Infrastruktur des Fußballs gesteckt werden würde.
Was denken Sie über die Bundesliga?
Die Leidenschaft der deutschen Fans für ihre Vereine ist definitiv außergewöhnlich, das zeigt sich auch daran, dass die Stadien immer ausverkauft sind. Davon sind wir in Italien leider weit entfernt. Die Deutschen sind immer gut organisiert. In der vergangenen Europa-League-Saison waren wir in Wolfsburg. Keine Ahnung, wie ihr Deutschen über Wolfsburg denkt, aber uns hat es dort sehr gut gefallen.