Vor 25 Jahren feierten Schalke, Dortmund und Bochum die größten Erfolge ihrer Geschichte. Zugleich kämpften zehntausende Bergleute um ihre Jobs. Und so wurden Arbeit und Fußball ein letztes Mal zu Brüdern.
Als Borussia Dortmund Anfang Mai zum Derby Königsblau empfing, wagte sich Schalkes Symbolfigur Charly Neumann winkend auf die Südtribüne zu – und wurde mit Beifall empfangen. Minutenlang ging das so, dann wurde es einem Schwarz-Gelben doch zu viel mit dem Gekuschel. Er warf einen Bierbecher und Neumann trollte sich. Dennoch: Viele Fans stellten in jenem Frühsommer of Love irritiert fest, dass sie plötzlich auch den Nachbarn die Daumen drückten.
Zumal gleich drei Klubs eine Woge der Euphorie erwischten und auf die Höhepunkte ihrer Vereinsgeschichte zusteuerten: Borussia Dortmund in der Champions League und Schalke im UEFA-Cup, selbst der kleine VfL Bochum als Aufsteiger in der Bundesliga war erstmals auf dem Weg in den Europapokal.
Es verband sich dabei im Revier etwas, das auch vor zwanzig Jahren eigentlich schon nicht mehr zusammengehörte: Fußball und Arbeit. Teil der großen Ruhrgebietserzählung war es immer gewesen, dass einer wie Schalkes Legende Ernst Kuzorra sagen konnte: „Fußball und Arbeit waren Brüder.“ Jene Malocher, die unter Tage oder vor den Stahlöfen gearbeitet hatten, jubelten sonntags im Stadion nämlich Arbeitskollegen zu, die im Trikot der Revierklubs große Siege feierten. 1997 war das schon lange nicht mehr so, aber es fühlte sich noch mal so an. Und das war nicht nur eine Illusion.
»> Zum kompletten Interview: Mike Büskens über die Eurofighter 1997
Die komplette Mannschaft wirft sich in den Dreck
An einem eiskalten Dienstagabend im November ’96 gibt es eine Vorahnung davon. Schalke liegt im Hinspiel der dritten Runde des UEFA-Cups auf schneebedecktem Platz beim belgischen Meister FC Brügge mit 0:1 zurück, als das Team kurz nach Beginn der zweiten Halbzeit einen Elfmeter zugesprochen bekommt. Die große Chance auf das Auswärtstor, das im Europapokal bekanntlich so wichtig ist, vergibt Olaf Thons jedoch kläglich. Sein Schuss ist fürchterlich, er verreckt fast im Schnee. Brügges Keeper wehrt den Ball so locker ab, dass sein Verteidiger ihn nun wirklich nicht ins Toraus dreschen müsste. Als Thon schockstarr den Kopf zu Boden gerichtet verharrt, kommt von der Seite ein semmelblonder Spieler angesprintet und sagt „Kopf hoch, Junge!“ Ermunternd zeigt Mike Büskens nach außen, Thon soll die Ecke reinbringen.
Also schlägt Thon die Ecke, ein Belgier wehrt den roten Ball ab. Er fliegt aus dem Strafraum, doch bevor der Ball den Boden berühren kann, kommt schon wieder dieser aufgedrehte Blondschopf angesaust und trifft ihn mit einem perfekten Dropkick. Büskens weiß sofort, dass der Schuss ins Tor gehen wird. So hart und schnell ist er, dass die mitgereisten Fans zunächst nicht realisieren, wie er ins Netz knallt. Sie sehen nur den Torschützen mit ausgebreiteten Armen, offenem Mund, schreiend, ekstatisch. Dann springt er in vollem Tempo vor der Schalker Kurve in den Schneematsch. Mit den Beinen voran: Platsch! Die komplette Mannschaft wirft sich auf und neben ihn in den Dreck.
Es ist ein Irrtum, dass die Eskimos hundert Wörter für Schnee haben, aber im Ruhrgebiet gibt es fast so viele fürs Arbeiten: Malochen, wullacken, rabotten, buckeln, keulen, schuften, anne Schüppe sein. In den Neunzigern in Gelsenkirchen kam ein neues hinzu: Büskens. Dieser Bekloppte rannte aus der Freistoßmauer, um einhundert Km/h schnelle Vollspannschüsse aus zwei Metern zu blocken. Er wühlte sich, die Stutzen runtergegrätscht, über den Platz, und die Tribüne feierte: „Büüüs-kens, Büüüs-kens“. Mit einem „ü“, so tief, als hätte man es mit dem Förderkorb aus Schacht 2 geholt. Dabei war Büskens nicht mal ein Einheimischer, sondern stammte aus Düsseldorf. Aber das war nicht so wichtig.
Marc Wilmots erinnert sich: Du musst machen die Trikot nass!
Es ging um die Haltung, und dass man einen wie Marc Wilmots damit ehrte, ihn „Kampfschwein“ zu nennen. Der Belgier aus dem wallonischen Kohlerevier verstand, worum es ging. „Die Fans fragen nicht Topstar, die fragen Herz. Sie wollen nicht, du spielst mit die Hacke, sie wollen nur eins: Du musst machen die Trikot nass“, sagt er in seinem wallonisch-ruhrpottdeutschen Spezialidiom. „Trikot nass machen“ wie im Schneematsch von Brügge und in allen anderen Spielen im UEFA-Cup. Außerdem geht es darum, gemeinsam allen Widrigkeiten zu trotzen.
Oder wie Wilmots es ausdrückt: „So was wie ’97, das ist nur einmal in Leben. Ich sage, was wir hatte, den Geist. Wenn du machst eine Fehler, kein Problem, der andere ist da.“ Darum ging es schließlich auch bei dieser beschissen lebensgefährlichen Arbeit tausend Meter tief unter der Erde: Da musste der andere da sein, wenn man einen Fehler machte. Oder in dem Moment, wo sie einem die Arbeit wegnehmen wollen.
Es gab noch andere Dönekes, die damals die Geschichte von den Brüdern Arbeit und Fußball nährten. So aß Mike Büskens in jener legendären Saison 1996/97 aus Aberglauben vor jeder UEFA-Cup-Runde in Gelsenkirchen Pommes-Currywurst. Sportgerecht war das nicht, aber kein Wunder, dass viele Fans über solche Spieler dachten: Die würden einem auch helfen, das Wohnzimmer zu tapezieren. Manche Anhänger hätten sogar fragen können, sie hatten schließlich die Telefonnummern. Auf der Rückfahrt aus Brügge sang der Fanklub „Schalke-Freunde Ehringhausen“ in Bus 12 zur Melodie von „Oh My Darling, Clementine“ drauf los.
Wenig später hingen sie am Telefon und wählten die Nummer von Büskens. Als der zu Hause ankam, hörte er auf dem Anrufbeantworter: „Wir schlugen Roda, wir schlugen Trabzon, wir schlagen Brügge sowieso, Teneriffa, Inter Mailand und Monaco – das wär ’ne Show.“ Roda Kerkrade und Trabzonspor hatten sie wirklich rausgeschmissen, Brügge musste man mal sehen, der Rest war Träumerei – oder eine Vision.