Heute schließt die letzte Zeche im Ruhrgebiet. In unserer Reportage blicken wir zurück auf das Jahr 1997: Schalke, Dortmund und Bochum kämpften um ihre größten Erfolge, die Bergleute um ihre Jobs. Fußball und Arbeit waren ein letztes Mal Brüder
Schalkes Mannschaft war von solch kühlen Kalkulationen weit entfernt, sie musste immer alles geben. Jede Runde im UEFA-Cup schrieb ein weiteres dramatisches Kapitel einer unfassbaren Geschichte. So verletzten sich drei Tage vor dem Hinspiel im Halbfinale auf Teneriffa beim Bundesligaspiel in Karlsruhe die beiden Stürmer Youri Mulder und Martin Max innerhalb von einer Minute schwer. Auf den Kanaren verlor Schalke dann durch einen unberechtigten Elfmeter und vergab selber einen Strafstoß. Das Rückspiel in Gelsenkirchen ging in die Verlängerung, und kurz nachdem die Fans erstmals den Gesang „Steht auf, wenn ihr Schalker seid“ angestimmt hatten, schoss Wilmots seine Mannschaft in die Finalspiele gegen Inter Mailand.
Die Italiener waren mit Spielern wie dem legendären Giuseppe Bergomi, dem Franzosen Youri Djorkaeff und dem Engländer Paul Ince haushoher Favorit auf den Titelgewinn. Daran änderte sich auch durch den 1:0‑Sieg in Gelsenkirchen nichts. Trotzdem lud ein ZDF-Mitarbeiter Ingo Anderbrügge für den unwahrscheinlichen Fall des Titelgewinns ins Aktuelle Sportstudio ein. Anderbrügge sagte zu, kündigte aber auch an: „Dann schieße ich euch die Torwand kaputt.“
Anderbrügge war in der damaligen Schalker Mannschaft vermutlich der Spieler, der am besten verstand, wie wichtig Schalkes Siege für die Leute in Gelsenkirchen waren. Er stammte aus der Gegend, sein Vater war Bergmann gewesen, und er selbst hatte eine Lehre in einer Firma für Grubengeräte absolviert. Noch heute erzählt er mit flammender Stimme von der Solidarität der Bergleute: „Wenn unter Tage die Kohle aus dem Berg gehämmert wird, muss man sich einfach gegenseitig helfen.“ Wobei Anderbrügge seinen Mitspielern beim Finale in Mailand nicht nur durch solidarische Maloche half, sondern vor allem durch gute Nerven.
Nach 120 Minuten hat der übermächtige Favorit Inter Mailand zwar das 1:0 aus dem Hinspiel ausgeglichen, aber auch nicht mehr. Und als es im Meazza-Stadion ins Elfmeterschießen geht, hämmert Anderbrügge gleich den ersten Elfer mit Vollspann in den Winkel, Inters Startorwart Gianluca Pagliuca hat keine Chance. Dieser Auftakt zum legendären Shootout ist ein klares Signal an den Gegner: Schalke wird sich nicht einschüchtern lassen „Ich würde Pagliuca gerne noch mal fragen, wie lange er damals Grippe hatte. Er bekam von meinem Schuss ja einen schönen Windzug ab“, spottet Anderbrügge.
Stevens der erste Laptop-Trainer
Während 25 000 Schalker im Stadion vor Spannung fast durchdrehen, macht Huub Stevens in Ruhe seine Arbeit. Er ist ein Laptop-Trainer, bevor es den Begriff gibt und verzeichnet jeden Elfmeter, den er irgendwo sieht, in seiner Datenbank. Selbst seine Kinder und seine Spieler müssen die Vorlieben der Schützen notieren, wenn sie irgendwo einen Elfmeter sehen. Jetzt lohnt sich das. Bei Inters chilenischem Starstürmer Ivan Zamorano hat er notiert: „Bei langem Anlauf Schuss in die linke Ecke.“ Torhüter Jens Lehmann weiß Bescheid. Zamorano läuft lang an, schießt in die linke Ecke – Lehmann hält. Den entscheidenden Elfmeter erledigt dann Marc Wilmots, der solche Momente immer noch am prägnantesten selbst beschreiben kann: „Ich nehm’ die Ball, bumm, drin!“
Manche Fans schreien, andere blicken apathisch ins Nichts. Die meisten kämpfen mit den Tränen, viele schluchzen hemmungslos. Schalke 04 ist Europapokalsieger, der absolute Underdog aus einer Stadt in tiefster Krise, das ist zu viel für sie. Nur Huub Stevens steht regungslos im Getümmel und macht sich eine Notiz zum letzten Elfmeter – für die Datenbank. Manchmal braucht man halt Verrückte, um Verrücktes zu vollbringen.
Am Samstag nach dem Finale reisen die Schalker ins Sportstudio, und Anderbrügge wird für drei Schüsse links oben an die Torwand gebeten. Er erinnert sich an sein Versprechen und zieht drei Mal per Vollspann ab – und trifft drei Mal. Die Mannschaft singt: „Wir schlugen Roda, wir schlugen Trabzon, wir schlugen Brügge sowieso, Valencia, Teneriffa, Inter Mailand – das WAR ’ne Show!“
Deutschland sieht diesen Schalkern im Sportstudio staunend zu, nur in Bochum sind die Einschaltquoten im Keller. Selbst am späten Samstagabend ist noch die halbe Stadt auf den Beinen und feiert „Thomas Stickroth Fußballgott“ und die anderen Unsterblichen in Blau und Weiß. Der VfL Bochum hat den FC St. Pauli mit 6:0 geschlagen und darf in der kommenden Saison im Europapokal spielen.
Doch der absolute Höhepunkt steht erst noch aus. Drei Tage später, am 28. Mai 1997 im Münchner Olympiastadion, in der damaligen Heimat des Rekordmeisters FC Bayern, trifft Borussia Dortmund auf Juventus Turin. Auch das ist eine David-gegen-Goliath-Geschichte, in der wieder die Italiener den Riesen geben. Juve ist Titelverteidiger und die Mannschaft um die genialen Zinédine Zidane, Didier Deschamps und Alessandro Del Piero hat auf dem Weg ins Finale nicht ein Spiel verloren. Das 0:1 nach einer knappen halben Stunde beeindruckt sie nicht sonderlich, doch fünf Minuten später trifft Karl-Heinz Riedle erneut.
Der Moment eines 20-Jährigen
Als 20 Minuten vor Schluss der 20-jährige Lars Ricken eingewechselt wird, steht das Spiel auf der Kippe. Juventus hat den Anschlusstreffer erzielt und der BVB wankt. TV-Kommentator Marcel Reif kündigte den Wechsel mit den Worten an: „Und Lars Ricken kommt – der Mann mit dem entscheidenden Tor in Auxerre, mit dem entscheidenden Tor in Manchester …“
Nur wenige Momente später wird seine Ahnung wahr: „Möller. Ricken. Ricken, lupfen jetzt! Jaaaaaaa! Fünf Sekunden auf dem Platz, fünf Sekunden … Lars Ricken! … Die Gebrüder Grimm drehen sich im Grabe um, also das sind Märchen, die gibt’s nicht!“