Heute schließt die letzte Zeche im Ruhrgebiet. In unserer Reportage blicken wir zurück auf das Jahr 1997: Schalke, Dortmund und Bochum kämpften um ihre größten Erfolge, die Bergleute um ihre Jobs. Fußball und Arbeit waren ein letztes Mal Brüder
Das galt auch in Dortmund, obwohl die Verhältnisse dort nicht so märchenhaft-romantisch waren wie in der Nachbarschaft. Im Gegenteil. Ottmar Hitzfeld, der nie ein kritisches Wort über ehemalige Spieler sagen würde, lässt höflich ausrichten, dass er sich über jene Zeit bitte nicht äußern möchte. Sein damaliger Assistent Michael Henke tut es eher andeutungsweise: „Ich als kleiner Drittligafußballer habe mich schon gefragt, ob ich da auf dem richtigen Dampfer war.“
Man könnte auch sagen: Der Dampfer war ein Luxusliner mit ziemlich überspannter Besatzung. So kam das portugiesische Mittelfeldgenie Paulo Sousa mit eigenem Fitnesstrainer zum Training. Wenn die Mannschaft auf dem Platz links herum lief, lief er rechts herum. Außerdem tat Sousa sich schwer mit dem Morgentraining, er war eher nachtaktiv und schlief selten vor vier Uhr ein. Immerhin konnte er sein Erscheinen fast immer einrichten, was man von Julio Cesar nicht sagen konnte. Der Weltklasseverteidiger überzog jede Rückreise von Brasilien, aber in Dortmund waren sie froh, wenn der charismatische Hüne überhaupt zurückkam.
In Dortmunds Team herrschten verschiedene Klassen
Derweil zeigten die Spieler mit Italienerfahrung ihren weniger weitgereisten Kollegen, was sie draußen in der Welt verpasst hatten. Andreas Möller kündigte im Training schon mal an, jetzt einen „passaggio longo“ zu spielen. Für die unbeholfenen Einheimischen: einen langen Ball. „Es gab mehrere Klassen in der Mannschaft“, sagt Knut Reinhardt, der eher zum Proletariat gehörte und heute als Grundschullehrer in Dortmund arbeitet. Die herrschende Klasse bildeten jene Spieler, die aus der damals noch glamourösen Serie A gekommen waren. In der besten Liga der Welt gespielt zu haben, war schon an sich eine Auszeichnung. Stefan Reuter wurde im Sommer 1992 als Erster nach Dortmund transferiert, anschließend Matthias Sammer. Im Jahr darauf kam Karl-Heinz Riedle, dann Andreas Möller und Julio Cesar. 1995 waren es Jürgen Kohler und Ruben Sosa, im Sommer 1996 war Paulo Sousa schließlich der Achte und letzte gewesen.
Diese Supertransfers möglich gemacht hatte der inzwischen 67-jährige Michael Meier, der heute nebenbei Trainer und Manager coacht. Als einziger Bundesligamanager wusste er das Doppelbesteuerungsabkommen mit Italien auszunutzen. Borussia zahlte einen Teil des Salärs vorneweg als Handgeld in Italien, wo die Steuern deutlich niedriger lagen. So gab’s mehr netto fürs Brutto.
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Wer annimmt, dass die schwarz-gelbe Startruppe im kriselnden Revier auf Ablehnung stoßen würde, täuscht sich. Denn wie sagte ein arbeitsloser Fan, dem ein Fernsehreporter etwas Kritisches zum fast zehn Millionen Mark, also unfassbar teuren Transfer von Karl-Heinz Riedle entlocken wollte: „Ich bin mit Riedle arbeitslos und ohne ihn, dann bin ich lieber mit Riedle arbeitslos.“ Auch durch Riedles Tore wurde der BVB 1995 Deutscher Meister und brach damit einen Fluch. „Unter Trainern galt es als ungeschriebenes Gesetz, dass man mit einem Ruhrgebietsklub nicht Deutscher Meister werden kann“, sagt Meier. 1996 verteidigte Borussia den Titel.
Zu diesem Zeitpunkt wurde der Ausbau des Westfalenstadions massiv vorangetrieben, die Haupt- und Gegentribünen hatten bereits gewaltige zweite Ränge bekommen. Borussia hatte zuvor als erster Klub in Deutschland sein Stadion der Stadt abgekauft. Treibende Kraft hinter den gewaltigen Investitionen in Steine und Beine war Gerd Niebaum. Der Vereinspräsident, ein Rechtsanwalt, dachte groß.
„Aber ich habe auch selten jemanden getroffen, der die Ruhrgebietsidentität so gut verstanden hat wie er“, sagt Meier. Niebaum bereitete den Klub fürs 21. Jahrhundert vor, sein Slogan hieß: „Zukunft braucht Herkunft.“ Wobei Borussia Dortmund eindeutig für jenen Teil des Ruhrgebiets stand, in dem der Akzent auf der Zukunft lag.
Allerdings machte Niebaum im Frühjahr 1997 Meier und vor allem Hitzfeld das Leben schwer. Der Trainer war in seiner siebten Saison beim BVB, und es gab deutliche Abnutzungserscheinungen zwischen ihm und der Mannschaft. Einige Spieler suchten daher den Schulterschluss mit dem Präsidenten. Vor allem Matthias Sammer dachte als Spieler nicht nur wie ein Trainer, sondern war mitunter auch der Ansicht, der bessere Trainer zu sein. Bei Niebaum fand er dafür ein offenes Ohr. Sammers Kumpel Steffen Freund sekundierte unschön, als er in einem Interview verkündete: „Von Sammer habe ich mehr gelernt als von Hitzfeld.“
Das wiederum empörte jene Mehrheit der Spieler, die den Trainer hoch schätzten. „Wenn ein Vereinsvorstand zu enge Kontakte zu Spielern pflegt, ist das der Anfang vom Ende“, sagt Michael Henke. Sogar Niebaums Sohn Nico spielte eine Nebenrolle. Er forderte mehr Einsatzzeiten für seinen Freund Lars Ricken, das damalige Wunderkind der Borussia.
Sammer hielt sich für den Schattentrainer
Borussias Mannschaft des Frühjahrs ’97 mochte ein Irrenhaus sein, doch zusammengehalten wurde das Team vom eisernen Willen zum Erfolg. Die meisten Spieler waren in einem Alter oder durch Verletzungen so geplagt, dass sie wussten: Wir haben nur noch diese eine Chance, die Champions League zu gewinnen. „Sie waren geil auf große Titel“, sagt Henke. Paulo Sousa mochte zwar eine Diva sein, aber in wichtigen Spielen war er eine Bank. Matthias Sammer mochte sich für einen Schattentrainer halten, aber das war nicht Ausdruck von Eitelkeit, sondern von gnadenlosem Siegeswillen.
Und Andreas Möller mochte im Training den Italiener geben, aber er inspirierte die Mannschaft so durch besondere Momente, wie es später Ribéry und Robben beim FC Bayern tun. Während Borussia in der Bundesliga weitgehend auf Dienst nach Vorschrift umgestellt hatte, wurden die Partien in der Champions League zu unvergessenen Glanzleistungen: vor allem gegen Auxerre und dann im Halbfinale. Gegen eine Mannschaft von Manchester United um Eric Cantona siegte der BVB zweimal mit 1:0.