Vor 25 Jahren feierten Schalke, Dortmund und Bochum die größten Erfolge ihrer Geschichte. Zugleich kämpften zehntausende Bergleute um ihre Jobs. Und so wurden Arbeit und Fußball ein letztes Mal zu Brüdern.
1997 gab es weder Facebook noch Smartphones, nicht mal der Euro war eingeführt. Fußballprofis trugen weite, wehende Trikots und bescheuerte Nasenpflaster, auf den Rängen waren Schnauzbärte angesagt. 1997 starb Lady Di und hielt Bundespräsident Roman Herzog seine berühmte Rede, dass „ein Ruck durch Deutschland“ gehen müsse. Das Ruhrgebiet konnte er nicht gemeint haben. „Der Schlachtruf ‚Ruhrpott‘ ist ein Aufschrei“, sagte Rudi Assauer damals durch den Rauch seiner Zigarre Davidoff Grand Cru No. 3. Schalkes Manager, der wie der letzte große Schlotbaron wirkte, erklärte auch, was der Aufschrei bedeutete: „Wir werden es euch schon zeigen, wir lassen uns nicht unterkriegen!“
Wobei die Stimmung, ehrlich gesagt, schwankte zwischen Trotz und Ruck, Überschwang und Ratlosigkeit. Die Stadt Dortmund war beim Strukturwandel schon ein gutes Stück weiter als die Städte der Emscherzone. Bereits beim BVB-Pokalsieg 1989 war die letzte der einst 28 Dortmunder Zechen geschlossen gewesen. Ins Westfalenstadion kamen mehr Männer mit bunten Krawatten, die sie als Angestellte von Versicherungen auswiesen, als Malocher mit schwieligen Händen.
Borussias Präsident Gerd Niebaum behauptete: „Das Ruhrgebiet gehört zu den aufregendsten Metropolen Europas, gegen die München oder gar Berlin Provinz sind.“ Das klang zwar gut, war aber Quatsch. Sein damaliger Kollege Werner Altegoer vom VfL Bochum war mit Blick auf die Unistadt Bochum schon etwas realistischer: „Wir können doch nicht davon leben, den Studenten Zimmer zu vermieten.“
„Wie hässlich ist das denn hier?“
Als Thomas Stickroth nach Bochum kam und eine Wohnung suchte, konnte er es nicht fassen: „Ich dachte nur: Wie hässlich ist das denn hier?“ Stickroth war in Stuttgart aufgewachsen, hatte in Düsseldorf gelebt, in Glasgow und in seinem Jahr beim 1. FC Saarbrücken in Frankreich. Er war ein Schöngeist, der Jazz und Klassik hörte, Literatur las und philosophische Texte. „Aber ich hatte auch eine andere Seite und habe mit den Jungs in der Mannschaft auch gepokert.“ Als er im Revier eintraf, war der VfL Bochum gerade zum zweiten Mal aus der Bundesliga abgestiegen, und Trainer Klaus Toppmöller machte sich daran, eine Kulturrevolution anzuzetteln. Und das ging er mit einer Mannschaft von Gescheiterten und Aussortierten an, die noch eine Rechnung mit dem Fußballgeschäft offen hatten.
» Zum Interview: Közle, Hopp, Reinhardt, Eigenrauch – vier Kultfiguren über den Ruhrpott 1997
Der dynamische Stürmer Peter Közle war als Publikumsliebling in Duisburg abgestürzt. Er bat sogar darum, seinen Vertrag aufzulösen, nachdem er von den MSV-Fans bei jeder Ballberührung ausgepfiffen wurde. Sein Trainer Hannes Bongartz hatte nicht mal von der Zeitung aufgeschaut, als Közle das vorschlug: „Ist wahrscheinlich besser so, Peter!“ Der talentierte Keeper Uwe Gospodarek war vom FC Bayern ausgeliehen worden, weil man ihn in München für zu klein hielt. Der beinharte Manndecker Torsten Kracht war mit dem VfB Leipzig erst aus der Bundesliga abgestiegen und anschließend im Abstiegskampf der zweiten Liga gelandet.
Auch Toppmöller selbst galt als gescheiterter Schwadronierer. Bei Eintracht Frankfurt war er 1993 mit schönem Fußball zur Herbstmeisterschaft gestürmt und hatte dann überdreht. Zu Motivationszwecken brachte Toppmöller einen lebenden Adler mit in die Kabine und verkündete das Ende der Münchner Dominanz: „Bye, bye Bayern“. Dann ging seine Mannschaft im Titelkampf unter, und Toppmöller wurde noch vor Saisonende entlassen.
Star des Bochumer Teams, das erst problemlos den Wiederaufstieg schaffte und dann in der Bundesliga einfach weiter siegte, war Dariusz Wosz, der im Februar 1997 in der deutschen Nationalmannschaft debütierte. Doch der „Fußballgott“ der Sensationsmannschaft hieß Thomas Stickroth. Spieler lautstark zu „Fußballgöttern“ zu erklären, war damals eine Marotte von Fankurven und meist liebevoll-ironisch gemeint. Dortmunds Fußballgott etwa war keiner der im Übermaß vertretenen Ballzauberer, sondern Innenverteidiger Jürgen Kohler.
Auch in Schalke war es mit Thomas Linke ein knochentrockener Manndecker. Nur in Bochum hatte der Fußballgott wirklich etwas Überirdisches. Stickroth sah so gut aus, dass sein Mannschaftskamerad und Freund Peter Közle feststellt: „In ihn waren alle Mädchen verliebt.“ Alle Jungs waren es auch, weil Stickroth den Übersteiger beherrschte und überhaupt so elegant kickte, wie man das in Bochum selten gesehen hatte. Der Kult um ihn, den Toppmöller „Brasilianer“ und viele Fans „Stickinho“ nannten, ging so weit, dass er einen eigenen Fanklub hatte.
Ein Abstiegskandidat macht sich auf zu den Sternen
„Unser Fußball war leicht, spielfreudig und leidenschaftlich, weil Toppi es so wollte“, sagt Stickroth, der letztlich 20 Jahre in Bochum lebte und gerade als Assistenztrainer beim Drittligisten FSV Frankfurt arbeitet. Toppmöller ließ seine spielfreudigen Kicker für damalige Verhältnisse ungewohnt flexibel spielen, mal mit Dreierkette, mal mit Viererkette, mal mit Libero, mal ohne. Er brach auch mit dem Primat des Kämpfens, das in Bochum zur Vereinsfolklore gehört hatte. Trotzdem wurden die erstaunlichen Siege des VfL in Bochum ebenfalls mit „Ruhrpott, Ruhrpott“-Rufen gefeiert. Denn die Geschichte, dass ein Abstiegskandidat sich zu den Sternen aufmachte, passte zu dem, was im Revier passierte. Es war schließlich ein Aufbäumen der Underdogs und Aussortierten.
„Ich war immer Spätzünder und dachte mir damals: Jetzt kommt meine Zeit“, sagt Stickroth. Als die Saison dem Ende zuging, war dieses Gefühl im Ruhrgebiet weit verbreitet: Unsere Zeit ist gekommen!“