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1.
Fuß­ball ist keine Mathe­matik

Die Experten waren sich einig: Den Titel machen Deutsch­land oder Spa­nien unter sich aus. Das Team von Jogi Löw hatte allen Grund, an eine Revanche für 2008 und 2010 zu glauben. 16 Pflicht­spiele ohne Nie­der­lage. Ein varia­bler Kader, der über gut zwanzig Spieler mit Stam­melf­qua­lität ver­fügt. Dann die makel­lose Vor­runde gegen hono­rige Gegner. Mutig stellte der Bun­des­trainer im Vier­tel­fi­nale um. Auch diese Elf erfüllte pflichter­geben ihre Auf­gabe. Getreu dem Motto des A‑Team-Bosses Han­nibal – Ich liebe es, wenn ein Plan funk­tio­niert“ – ging Löw auf dem nächst­hö­heren Level wieder mit Chuzpe ins Spiel. Blind ver­traute er seinen Leuten, erging sich im Mantra der Sie­ges­ge­wiss­heit („Wir sind stark genug…“) und setzte auf die erprobte Über­ra­schungs­taktik.
Doch Men­schen sind keine Com­puter, auch wenn Jour­na­listen von deut­schen Profis gerne das Gegen­teil behaupten. Der zuver­läs­sige Mats Hum­mels drehte sich gegen Antonio Cassano ein ein­ziges Mal zu langsam ein. Dann spielte Ricardo Mon­to­livo einen Steil­pass für die Ewig­keit. Beide Male kam Instinkt­fuß­baller Mario Balotelli an den Ball. Und der machte das, was sonst angeb­lich deut­sche Spieler am zuver­läs­sigsten machen: seinen Job. Na und? Es gibt solche Tage. Trösten wir uns damit, dass die DFB-Elf auf diese Weise wenigs­tens für die größte Über­ra­schung in der ansonsten span­nungs­armen KO-Runde sorgte.

2.
Der Heim­vor­teil ist Legende

Von UEFA-Prä­si­dent Michel Pla­tini heißt es, ihm läge immer noch viel am Spiel. Nun wurde das wich­tigste Tur­nier des euro­päi­schen Ver­band das zweite Mal in Folge in Län­dern aus­ge­tragen, denen es offenbar an fuß­bal­le­ri­scher Qua­lität fehlt. Die Gast­ge­ber­länder ver­wenden scheinbar zu viel Energie darauf, für die vor der UEFA gefor­derte Infra­struktur, die Erfül­lung der strengen Auf­lagen und die nötige Sicher­heit zu sorgen, dass die sport­liche Vor­be­rei­tung dabei in Ver­ges­sen­heit gerät. Das kann Pla­tini nicht schme­cken. Zumal die Wie­der­erkenn­bar­keit des Tur­nier­ortes durch die glo­ba­li­sierte Sta­di­onar­chi­tektur und das ein­heit­liche Spon­so­ren­bran­ding ohnehin bis zur Unkennt­lich­keit ein­ge­schränkt ist. Der Struk­tur­wandel schlägt sich auch auf den Rängen nieder. Man kann nur mut­maßen, dass ein pol­ni­sches Team ein über­e­ven­ti­siertes Eröff­nungs­match im War­schauer Sta­dion nur noch sche­men­haft als echtes Heim­spiel wahr­nimmt.
Dabei – das wissen wir seit 2006 – kann der Schwung eines Auf­takt­mat­ches jeder Heimm­an­schaft Flügel wachsen lassen. So aber war die EM wie vor vier Jahren, als sich die Schweiz und Öster­reich ohne Sieg ver­ab­schie­deten, nach nur zehn Tagen ein Tur­nier in der Dia­spora. Damit es den­noch stim­mungs­voll blieb, ver­schob die UEFA-Regie nach Gut­dünken Sta­di­on­bilder durch die Live-Über­tra­gung. Pla­tini denkt nun dar­über nach, die Euro auf zwölf euro­päi­sche Groß­städte aus­zu­breiten. So frag­würdig der Vor­schlag auf den ersten Blick wirkt, er ist wenigs­tens ein ehr­li­ches Bekenntnis zur kom­mer­zi­ellen Ori­en­tie­rung der UEFA, der zumin­dest die frag­wür­digen Ver­ga­be­ri­tuale an Aus­rich­ter­länder zukünftig über­flüssig machen würde.

3.
Der Richter vor den Henker

Selten hat sich eine Regel­ver­fei­ne­rung als derart hane­bü­chener Unsinn erwiesen, wie die Ein­füh­rung des Tor­rich­ters. Der Tor­klau von Donezk“ hat gezeigt, dass es Geschwin­dig­keiten gibt, die das mensch­liche Auge nicht erkennen kann. Jeden­falls ist es dem unga­ri­schem Tor­richter Istvan Fad aus knapp zwei Meter Ent­fer­nung nicht gelungen zu sehen, das der Ball des Ukrai­ners Marko Devic die Linie des eng­li­schen Tors in vollem Umfang über­schritten hatte. Die Tat­sa­chen­ent­schei­dung ist der hei­lige Gral des Schied­rich­ter­we­sens, alle Macht dem Mann in Schwarz, damit dem Stamm­tisch nie der Gesprächs­stoff aus­geht und die Authen­ti­zität des Spiels im Ursprung erhalten bleibt.
Die Funk­tio­näre fürchten, der Chip im Ball, die böse Technik, könnte den Fuß­ball seines archai­schen Cha­rak­ters berauben. Aber ist es einem Men­schen zuzu­muten, 90 Minuten darauf zu warten, dass ein Ball eine mathe­ma­tisch höchst unwahr­schein­liche Kol­li­sion mit Latte oder Pfosten erfährt und dann in einem eigen­wil­ligen Bogen in der Luft über der Tor­linie oszil­liert? Wenn die Fuß­ball­ver­bände keinen digi­talen Beweis wollen, sollten sie dazu stehen – wie seit jeher im Regel­werk vor­ge­sehen – die Ent­schei­dungs­ge­walt beim Schieds­richter zu belassen. Bei dem gehört das Fehl­ur­teil ja ohnehin zum Berufs­ri­siko. Beim Tor­richter zwei­fels­frei nicht.

4.
Ver­lieren will gelernt sein

Wir Deut­sche beöm­meln uns gerne über Gary Line­kers Defi­ni­tion von Fuß­ball und den 22 Spie­lern. Leider ver­geht uns schnell das Lachen, wenn es mal anders aus­geht. Dabei hatten die grau­sigen Nie­der­lagen der frühen nuller Jahre den Deut­schen ver­meint­lich Demut gelehrt. Nichts trauten sie im Vor­feld der WM 2006 ihrer Mann­schaft noch zu. Und als das Klins­mann-Team nach einem auf­rüt­telnden Tur­nier mit vielen schönen Momenten im Halb­fi­nale gegen Ita­lien aus­schied, zeigten sie sich als faire Ver­lierer, freuten sich, dass sie gute Gast­geber gewesen waren und den Besu­chern eine fröh­liche WM beschert hatten. Tau­sende strömten damals vom Public Vie­wing“ am Reichstag nach Hause, still und frei­lich auch traurig übers Aus­scheiden. Und doch über­zeugt, dass Ita­lien an diesem Abend in 120 Minuten die bes­sere Mann­schaft gewesen war. Das schöne, erfolg­reiche Spiel von sechs Jahren Löw-Ära aber hat Begehr­lich­keiten geweckt.

Der Mob plap­pert nun in jedem Forum wütend die Spie­ler­floskel nach, dass man sich an Titeln messen“ lasse müsse. Die Unge­duld ist zurück und auch die Miss­gunst. Der ita­lie­nisch­stäm­mige Tages­themen-Spre­cher muss sich ent­schul­digen, weil er angeb­lich in der Halb­zeit-Sen­dung des Spiels gelä­chelt hat. Was sind das für Leute, die solche Beschwerden mailen? Gru­selig. Warum fällt es 2012 vielen wieder so schwer zu akzep­tieren, dass Ita­lien cle­verer gespielt hat und einige DFB-Recken einen schlechten Tag erwischt haben? Statt dessen wird die Inte­grität des fran­zö­si­schen Schieds­rich­ters in Zweifel gezogen, die Zurech­nungs- und Leis­tungs­fä­hig­keit von erfah­renen Profis wie Schwein­steiger, Podolski und Gomez ange­zwei­felt und schließ­lich sogar die Arbeit des eben noch hoch­ge­lobten Bun­des­trai­ners in Frage gestellt. Eines Mannes, der 90 Minuten vor dem Halb­fi­nalaus im Hand­streich von einer Mehr­heit der Deut­schen gleich­zeitig zum Kanzler, zum Mode­rator von Wetten, dass…?“ und Chef der Bun­des­bank bestimmt worden wäre. Ganz zu schweigen davon, dass auch die necki­sche Sie­ger­pose des exzen­tri­schen Mario Balotelli – ein leider selten gewor­denes Stil­mittel auf den Sport­plätzen dieser Welt, übri­gens zuletzt ein­drucks­voll von Andi Möller bei der Euro 1996 ange­wandt – zur Droh­ge­bärde über­höht und als Kriegs­er­klä­rung des ver­meint­li­chen EU-Ver­sa­gers Ita­lien umge­deutet wurde.
Wahrer Stil zeigt sich in der Nie­der­lage. Die Selbst­ironie eines Gary Lineker hätte ein Deut­scher wohl nie auf­ge­bracht.

5.
Der Star ist die Mann­schaft

Melan­cholie umgab die rote Furie in der Vor­runde. Ihr Tiki-Taka“ schien zum Selbst­zweck ver­kommen, das blasse Abzieh­bild einer einst so lei­den­schaft­lich har­mo­nie­renden Equipe. Glanzlos wurde Frank­reich nach Hause geschickt. Gegen Por­tugal im Halb­fi­nale würgte sich der Welt­meister ins Elf­me­ter­schießen und erreichte nur mit Glück das Finale. Und dann? Im Ange­sicht des Pokals erwachte der spa­ni­sche Riese aus seiner Lethargie. Er unterzog die selbst­be­wusste ita­lie­ni­sche Aus­geh­uni­form einer poren­tiefen Grund­rei­ni­gung und klemmte sie schon Minuten vor dem Abpfiff in der lauen Final­nacht von Kiew zum Trocknen auf die Leine. Iniesta, Xavi, Xabi Alonso, David Silva – diese Begna­deten – drei Wochen lang haben sie uns an der Nase herum geführt. Immer wieder riefen Leute: Jetzt haben wir gesehen, dass Spa­nien zu schlagen ist.“ Nichts haben wir! Im End­spiel hat die Mann­schaft von Vicente del Bosque bewiesen, dass sie kein Jota ihrer Poesie, ihrer Ele­ganz, aber auch ihrer Kalt­blü­tig­keit ein­ge­büßt hat.
Dieses Team ist wie ein schrilles Ölge­mälde, das an man­chen Tagen düster und nach­denk­lich, an anderen lebens­froh und lei­den­schaft­lich wirkt, je nach Zustand des Betrach­ters. Und doch ist es nur zeitlos schön, unver­än­der­lich und alles ist an seinem Ort, so wie vom Maler fest­ge­legt. Kein Team – auch die Deut­schen nicht – hätte nur den Hauch einer Chance gehabt, sie zu besiegen. Der Star dieser Euro ist – wieder mal – Spa­nien.