Der schottische Fußball lebt. Das haben die Glasgow Rangers in ihrer diesjährigen Europa-League-Saison gezeigt. Doch es gab Zeiten, da war der schottische Fußball das Maß aller Dinge. Besser: Celtic Glasgow war es. Heute vor 55 Jahren gewannen sie den Europapokal der Landesmeister.
Die Italiener fanden kein probates Mittel gegen den unerbittlichen Ansturm der Schotten, ihr Catenaccio funktionierte nicht mehr. Sie waren der mechanischen Wiederholung des Abwehrriegels überdrüssig. Selbst Kapitän Armando Picchi drehte sich zu Torwart Giuliano Sarti um und sagte: „Lass es sein, lass es einfach sein. Es hat keinen Sinn. Früher oder später machen die sowieso das Siegtor.“
In der 85. Minute wurden sie von Stevie Chalmers erlöst. Auf der linken Seite hatte Bobby Murdoch einen Rückpass von Gemmell aufgenommen und abgezogen, Chalmers fälschte den Ball so ab, dass er für Sarti unerreichbar war – Tor! 2:1 für Celtic Glasgow!
Laut Kommentator Wolstenholme war Inter nun „zerstört“. Celtic hielt den Ball noch ein paar Minuten in den eigenen Reihen – und dann pfiff der Schiedsrichter ab. Chaos brach aus, Tausende Celtic-Fans erstürmten den Platz, sie fielen über ihre Helden her, gruben Teile des Rasens aus, um ihn mit nach Hause zu nehmen, und feierten selbstvergessen den Triumph. Die völlig erschöpften und überwältigten Spieler hatten Schwierigkeiten, die Kabine zu erreichen. „Ich war sofort umzingelt“, sagt Craig. „Mein Trikot, meine Schuhe und meine Socken wurden mir vom Leib gerissen.“ Bobby Lennox und Jimmy Johnstone kämpften sich verzweifelt ihren Weg durch die wild gewordene Menge zum Tor von Ronnie Simpson, um ihre falschen Zähne aus dessen Hut zu retten, bevor sie den Fans in die Hände fielen. Man wollte schließlich lächeln können auf dem Siegerfoto.
Doch dieses Siegerfoto ist nie entstanden. Die Stürmung des Platzes durch die jubelnden Fans hatte zur Folge, dass Kapitän Billy McNeill die Trophäe allein entgegennehmen musste. Das Bild eines entkräfteten McNeill in einem geliehenen Trikot, der den glänzenden Pokal vor einem Meer von Fans in die Höhe stemmt, hat zwar zu Recht Kultstatus erlangt. Es wird aber nicht der Mannschaft gerecht, die als „Lisbon Lions“ in die Geschichte eingehen sollte. „Das war das Einzige, was mich enttäuscht hat“, sagt McNeill. „Denn wir waren keine Einzelkämpfer, wir waren ein wirkliches Team. Und dann konnten die anderen Jungs an der Pokalübergabe nicht so teilhaben, wie sie es verdient hätten.“ Dieses Gefühl des Anti-Höhepunkts setzte sich für die Spieler fort: Später am Abend beim Bankett mussten sie eine Stunde auf die Mannschaft von Inter warten, und Jock Stein wurden die Siegermedaillen schließlich in einem Schuhkarton überreicht.
Dafür wurden sie bei ihrer Heimkehr nach Glasgow von 200 000 Fans empfangen, die die Straßen säumten. Weitere 60 000 warteten im Celtic Park auf ihre Helden. Noch heute sind sie stolz darauf, wie dieser außergewöhnliche Sieg die Geschichte des Fußballs verändert hat. Er war der Triumph des berauschenden Angriffsfußballs über die freudlose Strenge des Catenaccio. „Das ist unser größtes Vermächtnis“, sagt Jim Craig. Für den Celtic-Fan Jim Divers war der Triumph von Lissabon gar „eine Reformation des Fußballs“, was sich größenwahnsinnig anhören würde, wären Matt Busbys Manchester United sowie das Ajax Amsterdam von Rinus Michels und Johan Cruyff Celtic nicht mit so viel Schwung zu europäischem Ruhm gefolgt, während Inters Stern bis 2010 vollkommen verblasste.
Liverpools Trainer Bill Shankly gratulierte Jock Stein mit den Worten: „Du bist unsterblich, John.“ Damit würdigte er nicht nur Steins Leistung, als erster nordeuropäischer Klub den Europapokal gewonnen und damit die südeuropäische Vorherrschaft beendet zu haben, sondern schien bereits zu ahnen, welchen Einfluss Celtic auf den Fußball und seine Anhänger haben sollte. Noch heute sind die Auswärtsspiele des Klubs gut besucht von einheimischen Fans, die damals ihr Herz an Steins Mannschaft verloren haben. Stein hatte den Nerv der Sehnsüchte eben dieser Fans getroffen, als er am Vorabend des Finales versprach, dafür zu sorgen, die Schönheit des Spiels zu bewahren: „Wir wollen diesen Pokal nicht einfach nur gewinnen. Wir wollen ihn gewinnen und dabei guten Fußball spielen. Wir wollen, dass neutrale Zuschauer denken, wir haben ihn verdient. Wir wollen uns voller Freude daran erinnern, wie wir ihn gewonnen haben. Wir werden angreifen, wie wir noch nie angegriffen haben. Wir müssen spielen, als ob es keine weiteren Spiele und kein Morgen mehr gäbe.“
Dreckig, humpelnd und zahnlos lösten elf Löwen dieses Versprechen ein.
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