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Und es war Sommer … Über den Dächern der Hafen­straße flat­terte die
Toten­kopf­fahne im Nord­see­wind, der die Elbe hin­unter blies. Die Aus­ein­an­der­set­zungen zwi­schen Ord­nungs­kräften und Haus­be­set­zern erreichten ihren Höhe­punkt. Der junge Tor­wart Volker Ippig soli­da­ri­sierte sich mit den Hafen­stra­ßen­be­woh­nern, zog aus der Blan­ke­neser Villa des Ver­eins­prä­si­denten Otto Paulick aus und ver­brachte die son­nigen Monate an der umkämpften Bern­hard Nocht-Straße. Und seine Mann­schaft, der FC St. Pauli, stieg unter ihrem juve­nilen Trainer Michael Lor­kowski zum zweiten Mal in die 2. Liga auf. Es war der Sommer 1986, als die Geschichte begann.

Der Stadt­teil hatte in den Jahren zuvor abge­wirt­schaftet. Dem Arbei­ter­be­zirk war der Gla­mour abhanden gekommen. Große Unter­nehmen hatten St. Pauli ver­lassen, viele Rot­licht­bars mussten schließen, die Angst vor Aids killte das Geschäft mit der Erotik, der Hafen hatte seine Bedeu­tung für das Viertel ver­loren. Zitat des frü­heren Innen­se­na­tors der Han­se­stadt, Helmut Schmidt, von 1986: Ham­burger gehen kaum auf die Ree­per­bahn. St. Pauli gehört nicht zu den Attrak­tionen der Stadt.“

Folg­lich war Wohn­raum günstig, und in der zweiten Hälfte der 80er Jahre begannen sich ver­stärkt Stu­denten und junge Künstler anzu­sie­deln. In diesem kul­tu­rellen Milieu regte sich ganz all­mäh­lich auch eine neue Zunei­gung zu dem Fuß­ball­klub des Stadt­teils. Zumal es der Ham­burger SV seinen Anhän­gern immer schwerer machte, guten Gewis­sens die Spiele draußen in Stel­lingen zu besu­chen. Die gewalt­be­reiten Hoo­li­gans aus dem berüch­tigten Block E des Volks­park­sta­dions hatten mit ihren rechts­ra­di­kalen, ras­sis­ti­schen Parolen viele Zuschauer vom HSV ent­fremdet.

Der FC St. Pauli war nach dem Krieg, abge­sehen von einer kurzen Erfolgs­phas zwi­schen 1948 und 51, als der Klub jedes Jahr um die Deut­sche Meis­ter­schaft mit­spielte, sport­lich nie groß­artig in Erschei­nung getreten. In den 60er und 70er Jahren schei­terte das Team, dessen Fans weit­ge­hend aus dem bür­ger­li­chen Spek­trum stammten, sechsmal in der Bun­des­liga- Auf­stiegs­runde. 1977 gelang für ein Jahr der Auf­stieg ins Ober­haus, doch der gewon­nene Kredit bei den Anhän­gern wurde durch die unver­gleich­liche Chan­cen­lo­sig­keit in der Eli­te­liga ver­spielt. Auch dass der FC St. Pauli in diesem Jahr nur fünf Spiele am Mill­erntor bestritt und aus finan­zi­ellen Erwä­gungen die rest­liche Zeit ins Volks­park­sta­dion umzog, nahmen die Fans dem Klub übel. Die Bun­des­liga geriet nicht nur sport­lich, son­dern auch finan­ziell zum Fiasko. Der Zuschau­er­schnitt in den 70er Jahren lag selten über 3500 Zah­lenden. Genaue Zahlen sind rück­bli­ckend nur schwer zu ermit­teln. Der ehe­ma­lige Ver­tei­di­gungs­mi­nister Hans Apel, Mit­glied des FC St. Pauli seit 1947 und lang­jäh­riges Vor­stands­mit­glied, berichtet: Viele Prä­si­denten waren Schlitz­ohren. In den 60ern wurden vor Kas­sen­schluss oft die Ein­tritts­gelder ein­ge­sam­melt, so dass die Buch­hal­tung kaum Umsätze ver­merken konnte.“

Draußen der Ham­burger Kessel“, drinnen steigt St. Pauli auf.

Diese Men­ta­lität führte den Klub aus dem Rot­licht­be­zirk 1979 an den Rande des Ruins: Prä­si­dent Ernst Schacht und sein Getreuer Max Uhlig hatten einen Schul­den­berg von 2,7 Mil­lionen Mark ange­häuft. Der DFB entzog St. Pauli die Lizenz, Gerüchte von Insol­venz­ver­schlep­pung machten die Runde.

So wie sich der Stadt­teil Anfang der 80er zu ver­jüngen und moder­ni­sieren begann, tat es auch der Verein. In der Finanznot blieb ihm nichts anderes übrig. Die Attrak­tion des Pleite-Klubs war die A Jugend, die im April 1981 vor 25 000 Zuschauern am Mill­erntor gegen Jupp Der­walls Natio­nal­mann­schaft spielte. Die neue sport­liche Lei­tung rekru­tierte Spieler aus der eigenen Jugend und aus dem Umland der Han­se­stadt. Jürgen Gronau, Stefan Studer und André Golke wurden nach 1982 zu den jungen Wilden, den Erfolgs­ga­ranten und Iden­ti­fi­ka­ti­ons­fi­guren der nun fol­genden Ära.

Die Rück­kehr in die 2. Liga in jenem Jahr 1986 gelang mit einem Team aus Halb­profis, in dem Spieler mit 5000 Mark Monats­ge­halt zu den Groß­ver­die­nern zählten. Die Sym­pa­thie zu dem lang­jäh­rigen Cha­os­klub nahm zu. Zu den Spielen in der Auf­stiegs­runde kamen nun bereits durch­schnitt­lich 5000 Zuschauer. Wäh­rend der Partie am 8. Juni 1986 gegen den ASC Schöp­pingen gab es eine Gleich­zei­tig­keit von Ereig­nissen, die zur Legen­den­bil­dung bei­trug. Wäh­rend im Sta­dion Stefan Studer und André Golke für wich­tige Punkte sorgten, kam es nebenan auf dem Hei­li­gen­geist­feld zur größten Mas­sen­ver­haf­tung in der Geschichte der Bun­des­re­pu­blik. Beim berüch­tigten Ham­burge Kessel“ hielten die Ord­nungs­kräfte 860 Anti-Atom­kraft-Demons­tranten knapp 15 Stunden lang fest.

Der Klub wird zur Ersatz­be­frie­di­gung des­il­lu­sio­nierter Akti­visten

Nach dem erneuten Zweit­li­ga­auf­stieg for­mierte sich all­mäh­lich auf der Gegen­ge­rade ein Mob von Auto­nomen. Wer damals zum Fuß­ball ging, galt in linken Kreisen gemeinhin als suspekt, schließ­lich waren die Sams­tage für Demos und Dis­kus­sionen vor­ge­sehen, nicht für unter­hal­tende Aus­flüge ins Sta­dion. Doch unter dem neuen Trainer Willi Rei­mann eta­blierte der junge Kader einen alter­na­tiven Fuß­ball, der die Linken des Stadt­teils ermu­tigte, ihr Inter­esse am Spiel auch wieder öffent­lich zu machen. Damals traten die St. Pauli-Tugenden zutage: Ein­satz, Lei­den­schaft, Kampf­kraft, Herz“, sagt André Trulsen, der heu­tige St. Pauli Trainer, der 1986 seine erste Saison auf dem Kiez bestritt.

Der Post-Punk- und Hafen­stra­ßen­szene gefiel der Klub, weil sie dort einen fan­kul­tu­rell unbe­setzten Raum ein­nehmen konnte. Die von der poli­ti­schen Arbeit des­il­lu­sio­nierten linken Polit-Akti­visten fanden im FC St. Pauli eine Art Ersatz­be­frie­di­gung“, erklärt René Mar­tens, Autor des Buches Wunder gibt es immer wieder. Die Geschichte des FC St. Pauli.“ Eine poli­ti­sche Mün­dig­keit und der Besuch eines Bun­des­li­ga­spiels schlossen sich fortan nicht mehr aus. Die Spiele in der 2. Liga wurden zu Hap­pe­nings der Spaß­gue­rilla. Vorher traf sich die neue In-Group der Fans an der Bal­du­in­treppe bei den Häu­sern der Hafen­straße zum Vor­glühen.

Zunächst waren es etwa 60 Auto­nome, die regel­mäßig auf der Gegen­ge­rade hinter den Trai­ner­bänken ihre Steh­plätze ein­nahmen. In schwarzen Kapu­zen­pullis oder Bom­ber­ja­cken, teil­weise mit bunten Haaren, grölten sie das Team auf dem Rasen mit unkon­ven­tio­nellen Schlacht­rufen nach vorne: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg, nie wieder 3. Liga!“ Eine klare Abgren­zung zu den reak­tio­nären Anhän­gern des HSV. Oder als Fin­ger­zeig an die jahr­zehn­te­lang andau­ernde SPD-Herr­schaft in der Han­se­stadt: Wer hat uns ver­raten? Sozi­al­de­mo­kraten! Wer verrät und nie? St. Pauli!“ Die Kut­ten­fans in den Kurven wan­derten damals in dem noch durch­läs­sigen Sta­di­on­rund in der Pause von einem Tor hinter das andere. Der Block von Auto­nomen aber hielt seinen Standort.

Auf der Haupt­tri­büne kratzten sich Poli­tiker wie Hans Apel, Geschäfts­leute wie der zukünf­tige Prä­si­dent des Ver­eins, Heinz Wei­sener, und ein paar Luden – leicht zu erkennen an den grellen Out­fits, den Körben, in denen sie ihre Hunde mit ins Sta­dion brachten, und den auf­rei­zenden Damen an der Hand – fra­gend am Kopf, wäh­rend all­mäh­lich ein neuer Geist am Mill­erntor einzog.

Das Beson­dere: Die Fans reflek­tierten ihr Han­deln. Jeder neue Schlachtruf war eine bewusste Anti­these auf das Tröten und Schalala“-Einerlei in allen anderen bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Fan­kurven. Keeper Volker Ippig, der in seiner Anfangs­zeit als Spieler auf St. Pauli eine Aus­zeit nahm, um frei­willig Auf­bau­ar­beit im san­di­nis­ti­schen Nica­ragua zu ver­richten, wurde zur Sym­bol­figur des neuen Fan-Geists links­al­ter­na­tiver Prä­gung. Schon bald genoss ein T‑Shirt bei Anhän­gern Kult­status mit der Auf­schrift: Volker, hört die Signale“. Im Block der Punks von der Gegen­ge­raden stand damals auch der Punk­ro­cker Mabuse aus der Hafen­straße. An einem Sams­tag­nach­mittag ent­schloss er sich, die Toten­kopf­flagge vom Dach der besetzten Häuser für 90 Minuten mit ins Sta­dion zu nehmen. Das Zei­chen für Wider­stand und Frei­beu­tertum gegen die Bonzen, der unter den Linken vor­herrschte, flat­terte fortan auch am Mill­erntor. Heute ist der Toten­kopf auf schwarzem Unter­grund weit mehr als das Ver­eins­wappen, das Symbol des Klubs, der das Image des Unan­ge­passten längst zur Cor­po­rate Iden­tity gemacht hat: Non-estab­lished since 1910“ lautet der offi­zi­elle Werbe-Slogan des FC St. Pauli heute.

Als das Team von Helmut Schulte am 29. Mai 1988 in Ulm den Auf­stieg in die Bun­des­liga schaffte, hatte mit der Über­nahme der Bun­des­liga-TV-Rechte durch RTL schon die schlei­chende Kom­mer­zia­li­sie­rung Einzug gehalten. Das Pri­vat­fern­sehen mit seinem Ansatz, Fuß­ball als Show zu ver­markten, trans­por­tierte fortan das Image des etwas anderen Fuß­ball­ver­eins“ deutsch­land­weit in die Wohn­zimmer. Das Image vom Kiez­klub, vom Freu­den­haus der Liga“, wie schon bald Pauli-Spiele anmo­de­riert wurden, machte die Land­karte des Bun­des­li­ga­fuß­balls um einen dicken Farb­tupfer bunter.

Doch die poli­ti­sierte Fan­kultur auf St. Pauli stieß nicht nur auf Sym­pa­thie. Im Juni 1988, anläss­lich des EM-Halb­fi­nals zwi­schen Deutsch­land und Hol­land, griffen Hun­derte Deutsch­land-Hoo­li­gans die Häuser am Hafen­rand an. Die Zecken“ vom Mill­erntor mit ihrem Grund­kon­sens, dass ras­sis­ti­sche und sexis­ti­sche Äuße­rungen am Mill­erntor nicht mehr tole­riert wurden, pola­ri­sierten und schürten den Hass derer, die das Sta­dion bis dato als rechts­freien Raum begriffen hatten, um ihren Frust mit den herr­schenden Zuständen unge­fil­tert her­aus­zu­lassen.

Das Mas­kott­chen Wumbo“ wird mit einer Astra-Salve emp­fangen

Nachdem es bei einem Match gegen den 1. FC Nürn­berg zu Nigger“-Schmähungen gegen den Club­berer Sou­leyman Sané gekommen war, erar­bei­teten Mit­ar­beiter des neuen Fan-Organs Mill­erntor Roar“ (MR) im August 1989 gemeinsam mit Spie­lern wie Volker Ippig und Peter Knäbel ein Flug­blatt, mit dem sich das gesamte Team und meh­rere Fan­klubs gegen men­schen­ver­ach­tende Hetz­pa­rolen im Sta­dion aus­spra­chen. Zitat aus dem Mani­fest, das 18 Jahre vor der ersten Rote Karte gegen Gewalt“-Kampagne in deut­schen Sta­dien ent­stand, und bis heute als Leit­linie der sport­li­chen Füh­rung und der Fans gilt: Unser FC St. Pauli steht für völ­ker­ver­stän­di­gende und inter­na­tio­na­lis­ti­sche Kultur des Sports.“

Der MR“ ent­stand als Reak­tion auf den von St. Pauli-Prä­si­dent Otto Paulick mit Archi­tekt Heinz Wei­sener geplanten Sport-Dome“ Anfang 1989. Für 500 Mil­lionen Mark sollte damals eine Mul­ti­funk­ti­ons­arena mit Hotel, einer Mehr­zweck­halle und Ein­kaufs­pas­sagen ent­stehen. Mit Flug­blät­tern, Unter­schrif­ten­samm­lungen und einem Schwei­ge­pro­test“ beim Heim­spiel gegen den Karls­ruher SC orga­ni­sierte sich ein mas­siver Wider­stand gegen das grö­ßen­wahn­sin­nige Pro­jekt der Kom­mer­zia­li­sie­rung. Im April 1989 erklärte Paulick auf­grund des mas­siven Wider­stands den Sport-Dome“ für geschei­tert. Weil sich die offi­zi­elle Sta­di­on­zei­tung zuvor gewei­gert hatte, über den Fort­gang der Ent­wick­lung bei dem Bau­vor­haben zu berichten, ent­schlossen sich einige Akti­visten, zukünftig ein eigenes, alter­na­tives Sta­di­on­ma­gazin her­aus­zu­bringen. Kurz darauf wurde auch der Fan­laden eröffnet – mit MR“-Schreiberling Sven Brux als Fan­be­auf­tragten, womit die alter­na­tiven Anhänger end­lich auch einen zen­tralen Treff­punkt erhielten. Die inten­si­vierte Arbeit mit den Fans und die ver­bes­serte Kom­mu­ni­ka­tion schlossen schon bald den nach wie vor bestehenden Graben zu den Ver­eins­funk­tio­nären. Nach Ent­ste­hung des Han­gouts begann im Oktober 1989 auch eine struk­tu­rierte Orga­ni­sa­tion von Aus­wärts­fahrten. Wäh­rend beim Bun­des­li­ga­spiel im Juni 1989 noch ganze 17 Pauli-Anhänger mit nach Waldhof fuhren, sind es heute im Schnitt mehr als 2000, die das Team zu den Aus­wärts­spielen begleiten.

Die ver­bes­serte Fan­ar­beit sorgte für Auf­sehen: Der vom MR“ ver­öf­fent­lichte Spucki/​Aufnäher St. Pauli Fans gegen Rechts“ wurde schon bald zum Klas­siker des modernen Flug­blatts, das von vielen Klubs später adap­tiert wurde. Als der Trainer Klaus Schlappner mit seinen Waldhof-Buben ans Mill­erntor kam, wiesen Spruch­bänder auf dessen Ver­gan­gen­heit als Mit­glied der NPD hin. Die Kut­ten­träger der United“-Fans auf St. Pauli wurden kurz vor der WM 1990 samt der von ihnen bei Heim­spielen geschwenkten Reichs­kriegs­flagge aus dem Sta­dion eli­mi­niert. Selbst­be­wusst stemmten sich die Fans im Sta­dion nun auch gegen auf­kom­mende Kom­mer­zia­li­sie­rungs­ten­denzen. Als ein Sponsor das Mas­kott­chen Wumbo“ in der Halb­zeit auf den Platz schickte, feu­erte die Gegen­ge­rade eine Salve voller Astra Becher auf das trau­rige Stoff­tier. Der Geld­geber stellte sein Enga­ge­ment dar­aufhin ein. Die Klänge einer bri­ti­schen Mili­tär­ka­pelle in der Pause kon­terten die Fans spontan mit IRA-Lie­dern. Blas­musik gab es am Mill­erntor anschlie­ßend nie wieder.

Die Ver­mi­schung von Anhän­gern und Mann­schaft bis Ende der 80er war etwas Beson­deres für einen Pro­fi­klub. Die Spieler trugen die Nähe zu den Fans nicht nur auf den Lippen, son­dern lebten sie. Viele von uns hatten Abitur. Wir waren ins­ge­samt ein intel­li­genter Kader, was sich auch im Enga­ge­ment wider­spie­gelte“, erin­nert sich Volker Ippig. Einige Kicker arbei­teten aktiv beim MR“ mit. Im Club­heim“ am Sta­dion trafen sich die Spieler nach dem Match zwangs­läufig mit den
Anhän­gern. Bei Wirtin Bri­gitte, die oft in Strapsen am Zapf­hahn stand, wurde gemeinsam gezecht. Und wenn einer frech wurde, hagelte es von der rigo­rosen Bar­dame Ohr­feigen, egal, ob sich ein Spieler oder ein Fan daneben benommen hatte. André Trulsen erin­nert sich: Beson­ders die Küche war für die Spieler der Anzie­hungs­punkt. Da gab es einen Art Klüngel, fünf, sechs Spieler, die dort regel­mäßig abhingen und befreun­dete Fans mit­brachten, um in Ruhe ein paar Bier zu trinken oder eine zu rau­chen.“

Hier ver­schmolz der Stadt­teil­klub zu einer großen Familie. Par­allel zum Auf­schwung auf dem Rasen pro­spe­rierte auch der Stadt­teil in der zweiten Hälfte der 80er: Fuß­läufig zum Sta­dion ent­standen rund 500 Szene-Kneipen, ‑Bars und –Discos, die den Sta­di­on­be­such mehr und mehr als Warm-up für das anschlie­ßende Abtau­chen ins Nacht­leben inter­es­sant machten. Am Club­heim star­teten nicht nur die Fans ihre Aus­flüge ins Nacht­leben, son­dern auch die Spieler. Trulsen: Wir gingen immer in die Blaue Nacht“ mit dem Wirt Easy. So etwas wäre heute gar nicht mehr mög­lich, wo alle Spieler sich per­ma­nent medi­zi­ni­schen Tests unter­ziehen müssen.“ Der bei anderen Klubs übliche Star-Kult um die Spieler galt auf dem Kiez stets als ver­pönt. Womög­lich auch aus Mangel an echten Welt­stars. Auch bei Nie­der­lagen und anhal­tend schwa­chen Leis­tungen bewiesen die Fans eine unver­gleich­liche Lei­dens­fä­hig­keit. Im Gegen­teil: Je schlechter der Klub spielte, desto mehr fei­erten sich auf St. Pauli die Fans – und die Begeis­te­rung nahm die Spieler dabei gleich in Sip­pen­haft: Ein Bil­der­witz des Car­too­nisten Schröder zeigte 1993, wie der bra­si­lia­ni­sche Joker Leo Manzi eupho­risch vom Leo, Leo“-rufenden Anhang auf Händen getragen wird. Irgend­wann sagt Manzi: Aber ich kam doch erst in der 90. Minute rein und habe nicht ein Mal den Ball berührt.“ Der Mob stutzt, über­legt und singt dann weiter: Leo, Leo“ So ist es auf St. Pauli – bis heute.

In diesem Geist wachsen die nach­fol­genden Spie­ler­ge­nera­tionen heran. Die Ver­ant­wort­li­chen haben erkannt, dass der FC St. Pauli ohne seine Ver­wur­ze­lung auf dem Kiez keine Über­le­bens­chance hat. Team­chef Holger Sta­nis­lawski, der 1993 als Spieler vom HSV ans Mill­erntor wech­selte, sagt: Der Mythos lässt sich nicht in einem Satz erklären. Man braucht Zeit, um wirk­lich zu ver­stehen, wo man sich hier befindet. Für mich ist dieser Pro­zess bis heute nicht abge­schlossen.“ Die lange andau­ernde Phase des sport­li­chen Erfolgs nach 1986 – 18 Jahre Pro­fi­fuß­ball, davon sechs Jahre in der 1. Liga – hat dafür gesorgt, dass zwi­schen Fans und Verein eine so enge Ver­bin­dung ent­standen ist, dass selbst in den drei Jahren Regio­nal­liga ab 2003 noch 15 000 Zuschauer im Schnitt ans Mill­erntor kamen.

Doch dem Verein ist es gelungen, den FC St. Pauli als Marke zu posi­tio­nieren, ohne ihn um das alter­na­tive Flair zu berauben. Hans Apel, 60 Jahre im Verein, beschreibt es so: Der Verein prä­sen­tiert sich als lebender Orga­nismus und erfüllt für viele junge Leute einen Fami­lien- und Bin­dungs­er­satz.“ Was in den 80ern aus einer poli­tisch ambi­tio­nierten Sub­kultur her­vor­ging, ist längst vom Main­stream auf­ge­sogen worden. Die Anders­ar­tig­keit ist kein pola­ri­sie­render Makel im aal­glatten Fuß­ball­busi­ness mehr, son­dern das Allein­stel­lungs­merkmal des Klubs – der unique sales point –, also ein wich­tiger Faktor für die Ver­käuf­lich­keit des Ver­eins. Sven Brux, der nach fast neun Jahren als Fan­be­auf­tragter zum Orga­ni­sa­ti­ons­chef des Ver­eins auf­stieg, sagt: Hier werden kon­ser­va­tive Werte auf linken Ideen auf­ge­baut. Wir müssen zusehen, dass wir uns soweit wie mög­lich gegen die Kom­mer­zia­li­sie­rung wehren, um die Aus­tausch­bar­keit nicht zu beschleu­nigen.“

Wäh­rend er und die Fans der frühen Jahre für ihre poli­ti­sche Über­zeu­gung als Pauli-Anhänger auch immer wieder den Anfein­dungen anderer Fan­grup­pie­rungen aus­ge­setzt waren, ist der FC St. Pauli mit seinem ideo­lo­gi­schen Überbau längst zum Kon­sens­klub in Deutsch­land avan­ciert, den sogar Uli Hoeneß tat­kräftig als Retter“ bei der jüngsten Finanz­mi­sere 2003 unter­stützte. Selbst bri­ti­sche Medien schauen inzwi­schen nei­disch auf das Phä­nomen FC St. Pauli, wo ver­meint­lich alt­her­ge­brachte Fuß­ball­werte über­lebt haben. Die hei­lige Trias aus Bier, Steh­platz und iro­ni­sie­renden Schlacht­rufen. Die eng­li­sche Zeit­schrift Four­FourTwo“ nannte den Klub: Most Rock’n’Roll-Club in the World“

Doch die Gefahr, sich auf Kosten des eigenen Mythos zurück zu ent­wi­ckeln, besteht. Spieler, die wie früher die Phan­tasie der Fans beflü­geln, braucht man heute nicht mehr“, glaubt René Mar­tens. Warum auch, das Mill­erntor-Sta­dion ist sowieso immer aus­ver­kauft. Wirt­schaft­lich spielt es keine Rolle mehr, dass bestimmte Fan-Gruppen und ver­sprengte Pio­niere unter den Anhän­gern, dem Klub den Rücken kehren. Mabuse, der Haus­be­setze mit der Toten­kopf­flagge, geht inzwi­schen lieber zum Orts­ri­valen Altona 93, der in der Ober­liga spielt. Zuviel Mode-Fans, zuviel Kom­merz. Denn neben der poli­ti­schen Ambi­tion hat auch die Fan-Folk­lore am Mill­erntor Einzug gehalten. Die Wirk­lich­keit kor­ri­giert den Mythos, etwa mit Aktionen wie 2004 Viva St. Pauli – Kampf der Dritt­klas­sig­keit“, bei der die Mar­ke­ting­ab­tei­lung des Klubs markt­schreie­risch eine ganz eigene Revo­lu­tion“ aus­rief. Motto: Bei uns fließt kein Blut, nur Astra und Bom­mer­lunder.“ Die Spiele des FC St. Pauli sind ein Stück weit das geworden, was Fuß­ball überall in den großen Sta­dien ist – ein Event, pures, gleich­ge­schal­tetes Enter­tain­ment. Der kleine Unter­schied: Wenn andere Mann­schaften zum Star Wars“-Thema ein­laufen, lässt Orga-Boss Sven Brux vor den Spielen AC/​DCs Hells Bells“ erklingen. Treffen Heim­mann­schaften anderswo zum Can Can“ ins Tor, schallt am Mill­erntor Song 2“ von Blur.

Da in der Gesell­schaft vor allem der indi­vi­du­elle Frei­geist etwas gilt, taugt die Dau­er­karte vom FC St. Pauli für viele Anhänger der Neu­zeit auch als Sta­tus­symbol für Anders­ar­tig­keit und ver­meint­liche Basis­ver­bun­den­heit. Auch der poli­tisch Mei­nungs­lose bezieht mit dem Gang ans Mill­erntor Stel­lung. Ein Quent­chen freies Denken im Leben des geknech­teten Wer­be­tex­ters mit seiner 70-Stunden-Woche. Seine Ration St. Pauli beweist ihm im Zwei­wo­chen­takt, wie unan­ge­passt er doch geblieben ist.

Das Kli­schee vom Gegen­ent­wurf zum Fuß­ball­main­stream sorgt immerhin dafür, dass der Verein der­zeit bei jedem Heim­spiel ein aus­ver­kauftes Sta­dion hat. Und was ist nicht alles Kli­schee im Fuß­ball? Volker Ippig sagt heute: Ich habe das Geld, das ich als Profi ver­dient habe, nie groß­artig für soziale Ein­rich­tungen gespendet. Ich habe es gespart und mir irgend­wann ein Haus davon gekauft. Ganz spießig.“ Ein anderes Kli­schee besagt, dass alle Pro­fi­fuß­baller die Charts rauf und runter hören. Dem­entspre­chend ant­worten neun von zehn Kickern auf die Frage nach ihrem Musik­ge­schmack: Ach, was so im Radio läuft.“ Also die Charts, rauf und runter. Marcel Eger, aktu­eller Spieler beim FC St. Pauli, ant­wortet auf die­selbe Frage: Am liebsten höre ich im Moment die Arctic Mon­keys, die Shout Out Louds und, wenn es ein biss­chen ruhiger sein soll, Damien Rice.“ Eger sagt auch, seine Schule sei von den drei wei­ter­füh­renden im frän­ki­schen Ans­bach eher das Hippie-Gym­na­sium“ gewesen. Von den beiden anderen war eines für die Mathe-Streber und das andere für die Tussis“. Wohl die wenigsten Fuß­baller können mit dem Begriff Hippie-Gym­na­sium“ etwas anfangen, wogegen die meisten das, was Eger eine Tussi“ nennt, beden­kenlos zur Ehe­frau nehmen würden. Damit ist Schluss mit den Kli­schees, aber es wird wohl unge­fähr klar, was gemeint ist: Marcel Eger ist ein Pro­totyp des etwas anderen Profis. So wie Volker Ippig, Peter Knäbel oder auf ihre Art auch André Trulsen und Holger Sta­nis­lawski.

Als sol­cher passt er natür­lich gut zu diesem Klub. Er ist ein Zög­ling dieser Fas­zi­na­tion, die der FC St. Pauli ausübt. Der Tag, an dem Eger dies klar wurde, war der 20. Mai 2001. Damals spielte der heute 24-Jäh­rige für die Jugend des 1. FC Nürn­berg und war dabei, als der FC St. Pauli im Fran­ken­sta­dion zum vierten Mal in die Bun­des­liga auf­stieg. Nach dem Abpfiff waren beide Mann­schaften am Ziel ihrer Wün­sche, auch die Nürn­berger hatten die Rück­kehr ins Ober­haus geschafft. Doch wäh­rend ihre Anhänger Haus­recht genossen, blieben die Pauli-Fans, abge­schottet von Polizei und Ord­nungs­kräften, in ihrem Block, was sie nicht daran hin­derte, nach allen Regeln der Kunst zu feiern. Die Party, die der Mob aus Ham­burg ver­an­stal­tete, ließ man­chen Club-Fan nei­disch her­über­bli­cken, auch Marcel Eger, das hoff­nungs­volle Talent in Diensten des 1.FC Nürn­berg: Was sind das für coole Typen, haben viele gedacht. Die lassen sich von nichts abschre­cken.“

Meggle muss im Club­heim auf einer Bier­kiste Volks­reden halten

In ihm selbst reifte der Gedanke, wie schön es wäre, als Spieler dazu­zu­ge­hören und sich von diesen Leuten anfeuern zu lassen. Doch so läuft der Pro­fi­fuß­ball natür­lich nicht, der alte Satz, dass dir dein Verein gegeben wird, gilt für die Akteure selbst auf andere Weise, aber meist noch mehr als für jeden Fan. Als es nach der Junio­ren­zeit für Eger beim Club keine Zukunft gab, wech­selte er zum SC Feucht in die Regio­nal­liga Süd. Wäh­rend der junge Fuß­baller über­legte, ob er seinen Ehr­geiz lieber auf ein Stu­dium fokus­sieren sollte, lief er in seinem frän­ki­schen Hei­matort dem dort wohn­haften Georg Vol­kert über den Weg, einst Manager beim FC St. Pauli. Man kam ins Gespräch und Vol­kert fragte, was Eger so mache. Eger erzählte es ihm und auch von seinen Gedanken die Zukunft betref­fend, und irgend­wann sagte Vol­kert: Du wür­dest gut zu St. Pauli passen, weil eine Grät­sche dort mehr Applaus bekommt als ein Über­steiger.“ Bald darauf gelang es seinem Berater tat­säch­lich, Eger ans Mill­erntor zu ver­mit­teln.

Es wäre natür­lich Quatsch, zu sagen, alle Spieler im Kader des FC St. Pauli seien von Geburt Fuß­ball­ro­man­tiker und Idea­listen. Manch einer geht dort nur ganz normal seinem Beruf nach, anderen ist der Appetit erst beim Essen gekommen. Das gilt für Thomas Meggle. Ich wäre damals auch zu Rot-Weiß Ober­hausen gegangen“, sagt der 32-Jäh­rige, der erst­mals 1997 zum Kiez­klub kam und mitt­ler­weile zum dritten Mal dort unter Ver­trag steht. Doch zu den sport­li­chen Gründen, die für Meggle zunächst im Vor­der­grund standen, gesellten sich bald weiche Stand­ort­fak­toren wie das inter­es­sante Innen­leben des Ver­eins“. Der neu­gie­rige Münchner ließ sich von Sven Brux in die Welt der Pauli-Fans ein­führen und machte inter­es­sante Erfah­rungen: in der Ver­eins­kneipe auf einer leeren Astra Kiste zu stehen und Volks­reden zu halten, das hatte er sich zuvor nicht vor­stellen können. Dabei gesteht Meggle, dass ihn der welt­an­schau­liche Aspekt allen­falls am Rande inter­es­siert: Ich brauche das Poli­ti­sche nicht. Ich brauche die mensch­liche Wärme, den Wohl­fühl­faktor.“ Der Mann, der als Tor­schütze im Welt­po­kal­sie­ger­be­sieger-Spiel in die Geschichte ein­ging, hat sich gleich­wohl ein prag­ma­ti­sches Ver­hältnis zu seiner Kar­riere bewahrt und auch bei Mün­chen 1860 und Hansa Ros­tock sein Glück ver­sucht.

Solch ein Prag­ma­tismus ist jedem Spieler des FC St. Pauli anzu­raten, denn er beruht auf Gegen­sei­tig­keit. Es darf keiner glauben, der Verein beschäf­tige einen Spieler, bloß weil er sich in das kusche­lige Pauli-Uni­versum gut ein­fügt. Die Schreib­ti­sche in der Geschäfts­stelle sind voll mit Bewer­bungen von Fuß­bal­lern, die beim FC St. Pauli spielen wollen, weil es eben der FC St. Pauli ist – doch das und ein klub­kom­pa­ti­bler Cha­rakter allein hat noch nie­mandem einen Ver­trag ein­ge­bracht. Und im Zweifel keinen davor geschützt, auf die Straße gesetzt zu werden. Diese schmerz­liche Erfah­rung musste im Sommer Ben­jamin Adrion machen, der mit seiner Viva con agua“-Kampagne für sau­beres Trink­wasser in Ent­wick­lungs­län­dern eines der Vor­zei­ge­ge­sichter des anderen“ Klubs war, was ihm aber keine Ver­län­ge­rung seines Kon­traktes beschert hat.

Team­chef Holger Sta­nis­lawski erklärt: Auch wir suchen die Spieler in erster Linie nach der sport­li­chen Qua­lität und ihrer Team­fä­hig­keit aus – und erst dann, ob sie in der Lage, sind das Umfeld zu anti­zi­pieren.“ Mit nicht allzu viel Geld ein erfolg­rei­ches Team zu bas­teln, das mehr als irgendwo sonst zur Iden­ti­fi­ka­tion taugen muss, ist ein heikles Unter­fangen. Um Letz­tere zu för­dern, ver­pflichtet der FC St. Pauli seine Spieler einmal im Jahr zu einem Stadt­teil­rund­gang und zum Besuch des Fan­la­dens, was die Bin­dung zum Viertel stärken soll. Doch ein Spagat bleibt es allemal, wie über­haupt die ganze Phi­lo­so­phie des Ver­eins. Ich hoffe, dass wir mit­tel­fristig in der 1. Liga spielen und uns dort fest­setzen, ohne den Charme zu ver­lieren und dem schnöden Mammon zu erliegen“, sagt Marcel Eger. Hört sich fast so an, als wollte sich da jemand an der Qua­dratur des Kreises ver­su­chen. Vielen geht es ja jetzt schon deut­lich zu weit. St. Pauli ist neben Bayern und Dort­mund der kom­mer­zia­li­sier­teste Klub Deutsch­lands“, sagt etwa Marcus Lin­denau, der den Braun-Weißen seit Jahr und Tag als Fan ver­bunden ist. Auch Heiko Schl­es­sel­mann vom Fan­laden macht sich so seine Gedanken: Der Verein ver­sil­bert alles, was da ist. Und irgend­wann haben wir nichts mehr.“ In der Tat hat der FC St. Pauli, meist der Not gehor­chend, eine Menge seiner Rechte, etwa am Cate­ring, dem Ticke­ting oder dem äußerst pro­fi­ta­blen Mer­chan­di­sing, zum Teil auf Jahr­zehnte hin ver­äu­ßert. Auf der anderen Seite hat er vor nicht allzu langer Zeit seine Ver­mark­tungs­rechte zurück erworben und ist damit neben Bayern Mün­chen und dem SC Frei­burg der ein­zige deut­sche Pro­fi­klub, der dieses Pfund nicht an eine Agentur abge­treten hat. Was nun zuletzt die Gemüter erhitzte, war die mög­liche Umbe­nen­nung des Sta­dions, für viele eines der letzten Tabus auf St. Pauli. Bei einer leb­haften Jah­res­haupt­ver­samm­lung im November stimmten die Mit­glieder gegen den Ver­kauf der Namens­rechte, was den Vor­stand aber nicht recht­lich, son­dern höchs­tens mora­lisch bindet. Doch immerhin, dieses Votum war ein­deutig, erst recht, nachdem Jochen Har­berg von der ein­fluss­rei­chen Abtei­lung För­dernder Mit­glieder“ den Saal mit dem Satz zum Kochen gebracht hatte, man würde ja auch nicht die Bin­nen­alster in Astra-Pfütze“ umbe­nennen.

Am Tag nach der Ver­samm­lung sitzt Marcus Schulz, einer der stell­ver­tre­tenden Vor­sit­zenden des Klubs, in der Geschäfts­stelle und sagt: Man wird sich daran halten, auch wenn ich den Beschluss falsch finde.“ Das Bespre­chungs­zimmer ist klein, aber es ist der größte Raum in der Büro­etage an der Stre­se­mann­straße, die der Verein für die Zeit des Sta­di­on­um­baus ange­mietet hat. Von der Büro-War­te­schleife erklingt Rockin’ all over the World“ von Status Quo. Und es sind die gefühlt letzten Büros in Deutsch­land, in denen noch offen und selbst­ver­ständ­lich geraucht wird. Auch das ist St. Pauli, hier stemmt sich ein letztes Häufl ein der Auf­rechten im Geiste Stör­te­be­ckers gegen die vor­an­schrei­tende Pro­hi­bi­tion. Doch es soll um die Sta­di­on­um­be­nen­nung gehen, den Kom­merz und das ganze Gedöns. Ich bin Rea­list“, sagt Marcus Schulz. Was nützt es, einen Verein zu haben, der nur noch in der Erin­ne­rung lebt?“ Der Mythos allein ernährt dich nicht, will er wohl sagen. Es geht darum, die Grenze zu defi­nieren zwi­schen dem, was noch tole­riert werden kann, und dem, was die Welt des Klubs im Innersten zusam­men­hält – und wenn man daran rührt, bricht das ganze Gerüst in sich zusammen. Dass es beim FC St. Pauli keine Mas­kott­chen und Cheer­leader geben soll, dass kein markt­schreie­ri­scher Sta­di­on­spre­cher den Sponsor des Ecken­ver­hält­nisses her­aus­brüllen soll, dar­über sind sich soweit alle einig. Beim Sta­di­on­namen ist es schon schwie­riger.

Ein anderer neur­al­gi­scher Punkt war die so genannte Retter“-Kampagne im Früh­jahr 2003, als ver­schie­dene Aktionen vom T‑Shirt-Ver­kauf bis zum Bier­gro­schen mehr als zwei Mil­lionen Euro in die Kassen des Ver­eins spülten und ihn damit vor dem Lizenz­entzug und der Rück­stu­fung in die Ober­liga ret­teten. Dass dabei auch die Hilfe von Klas­sen­feinden wie McDonald’s oder dem CDU-Bür­ger­meister Ole von Beust in Anspruch genommen wurde, ging einigen Anhän­gern so sehr gegen den Strich, dass sie sich von ihrem Klub abwandten. Sogar Telefon-Sex­lines warben damals damit, dass ein Teil der Gebühr der Kam­pagne zugute käme. Ein grund­le­gender Ver­stoß gegen das Dogma des Anti-Sexismus unter den Pauli-Fans. Die Ret­ter­kam­pagne hat null geschadet“, sagt dagegen Marcus Schulz. Außerdem war sie pure Not­wen­dig­keit, weil der Verein sonst pleite gewesen wäre.“ Mög­li­cher­weise wären einige der Gegner tat­säch­lich lieber in Schön­heit gestorben. An solch einem Punkt noch einen Kon­sens zu finden, kann tat­säch­lich ein Ding der Unmög­lich­keit sein.

Der FC St. Pauli wird sich weiter an der Frage abar­beiten, ob er ein ganz nor­maler Pro­fi­klub oder doch lieber eine roman­ti­sche Vision sein möchte. Und er wird pro­bieren, inwie­weit sich nicht doch das eine mit dem anderen ver­binden lässt. Auch ich habe große Sehn­sucht nach dem authen­ti­schen Spiel“, sagt Schulz, und ich frage mich, wie schaffen wir es, einen mög­lichst kom­merz­freien Verein hin­zu­kriegen?“

In der Not ver­scher­belte der Verein Lebens­dau­er­karten

So viel anders hört sich das auch bei Heiko Schl­es­sel­mann vom Fan­laden nicht an, wenn er meint: Ich würde mir wün­schen, dass wir eine Insel der Glück­se­lig­keit bleiben, dass wir das durch­halten und nicht jeden Scheiß mit­ma­chen.“ Prä­si­dent Corny Litt­mann, das gestehen ihm selbst seine Gegner zu, hat den Verein ent­schuldet und damit zukunfts­fähig gemacht. Dass der Vor­sit­zende den­noch umstritten ist, hat mit seiner Bera­tungs­re­sis­tenz zu tun, die ihn immer wieder mit dem von Fan­ver­tre­tern domi­nierten Auf­sichtsrat kol­li­dieren lässt. Als Schwuler aus dem Viertel bringt er eigent­lich alle Vor­aus­set­zungen mit“, glaubt Schl­es­sel­mann, doch er macht sich mit seiner Art viel kaputt.“ Der Boss von zwei Thea­tern auf dem Kiez steht dazu, dass er keine Ahnung vom Fuß­ball hat. Der sport­li­chen Abtei­lung und den Fan­in­itia­tiven droht vom grellen Präses wenig Gefahr. In Geschäfts­be­lange lässt sich Litt­mann indes ungern hinein reden. Und er ent­scheidet mit­unter nach Guts­her­renart und selbst für Ver­traute wenig nach­voll­ziehbar. Im Zuge der Retter“-Kampagne ver­äu­ßerte der Verein auf Geheiß des Prä­si­diums 450 Lebens Dau­er­karten ab 1910 Euro. Gerade junge Fans nahmen das Schnäpp­chen gerne mit, zu dem eine orts­an­säs­sige Bank jungen Pauli-Fans mit einem Null-Pro­zent-Kredit den Kauf der Zeit­karten ermög­lichte. Dieses Geld wird dem Verein zukünftig fehlen. Im März 2007 gab es auf einer außer­or­dent­li­chen Mit­glie­der­ver­samm­lung einen Show­down zwi­schen Auf­sichtsrat und Geschäfts­füh­rung. Litt­mann wurde vom Auf­sichtsrat unter anderem beschul­digt, Schein­ver­träge mit Spie­lern aus­ge­han­delt zu haben und eine unse­riöse Finan­zie­rung beim Sta­di­on­neubau zu ver­folgen. Der Prä­si­dent konnte die Vor­würfe jedoch ent­kräften. Immerhin: Litt­manns Pres­ti­ge­ob­jekt, das neue Sta­dion, ist auf dem Weg. Erst vor einigen Wochen wurde auf der Süd­tri­büne als erstem Bau­ab­schnitt Richt­fest gefeiert, ein Termin, der Thomas Meggle gera­dezu ver­störte. Als ich 1997 hierher kam, hieß es: In einem halben Jahr geht’s los. Seitdem habe ich jeden Sommer auf die Bagger gewartet.“

Nun hat das Warten ein Ende, und wenn die nach eng­li­schem Vor­bild mit steilen Rängen kon­stru­ierte Arena im Jahr 2014 fertig sein wird, soll sie nicht nur indi­vi­du­eller gestaltet sein als viele andere moderne Sta­di­on­bauten, son­dern auch immer noch mehr Steh- als Sitz­plätze beher­bergen, etwa 15 000 bei einer Gesamt­ka­pa­zität von 27 000. Und wieder schauen die Briten nei­disch nach Ham­burg, weil eigent­lich Eng­land ein Exklu­siv­recht auf ein solch fan­freund­li­ches Sta­dion für sich bean­sprucht. Doch das Club­heim, über Jahr­zehnte Treff­punkt von Team und Anhän­gern, wird abge­rissen. Ob die typi­sche Fan­nähe auf­recht­erhalten werden kann, muss die Zukunft weisen.

Ent­schei­dend für das künf­tige Cha­risma des FC St. Pauli wird sein, ob es gelingt, das neue Mill­erntor wieder zum Hexen­kessel zu machen. Der Ruf des alten hat zuletzt gelitten. Die einst für ihren Roar“ legen­däre Gegen­ge­rade ist in die Jahre gekommen, die jungen Ultras in der Süd­kurve kochen ihr eigenes Süpp­chen, und die meisten anderen Zuschauer kommen aus einer Bevöl­ke­rungs­gruppe, die hinter vor­ge­hal­tener Hand bei Ver­ant­wort­li­chen abschätzig als Galão-Frak­tion“ gehan­delt wird, also Kon­su­menten von por­tu­gie­si­schem Milch­kaffee, der sich im neo-hippen Schan­zen­viertel großer Beliebt­heit erfreut. Der Stadt­teil hat sich gewan­delt: Die Schanze war lange das Jun­kie­viertel, domi­niert von der Methadon-Aus­gabe Fix­stern“ neben der besetzten Roten Flora“ am Schul­ter­blatt. Heute trifft sich die Bohème gegen­über auf der Piazza“ – von alt­ein­ge­ses­senen St. Pau­lia­nern Galão-Strich“ titu­liert – zum zweiten Früh­stück. Im Sou­ter­rain eines der Hafen­stra­ßen­häuser brun­chen die Nach­kommen der New Eco­nomy in der Amphore“.

Sven Brux, nur einer von meh­reren Fan-Pio­nieren, die vom Verein ange­stellt wurden und die Belange mit­be­stimmen, sieht im sozialen Wandel aber keine Gefahr für den Klub: Ich kann auch den hippen Leuten aus der Schanze nur eine hohe Lei­dens­fä­hig­keit beschei­nigen. Auch sie haben uns zum Groß­teil in den Jahren Regio­nal­liga die Treue gehalten.“ Doch als Stim­mungs­ka­nonen sind sie weit­ge­hend unbrauchbar. Und wenn sich einige von ihnen über die seit Jahr und Tag ins Sta­dion pil­gernden Reds­kins beschweren, weil sie die feinen Unter­schiede nicht kennen und sie für Nazis halten, geht einem wie Heiko Schl­es­sel­mann schon mal der Hut hoch. Um der Über­al­te­rung ent­gegen zu wirken, hat der Verein nun 600 Tickets in die Obhut der linken Grup­pie­rung Ultrà Sankt Pauli“ (USP) gegeben, damit über die Basis­nähe dieser Fans auch junge Zuschauer wieder den Weg ins Sta­dion finden. Die Hoff­nungen für die neuen Zeiten ruhen denn auch weniger auf der Galão-Frak­tion als auf einem bes­seren Zusam­men­spiel von Gegen­ge­rade und Süd­kurve. Sta­nis­lawski sagt: Früher war der Zusam­men­halt unter den Fans auch auf dem Platz spür­barer.“

Neu­lich, zur Pre­miere der neuen Tri­büne beim Spiel gegen den FC Augs­burg, gab es einen ersten Vor­ge­schmack darauf, dass womög­lich bes­sere Zeiten anbre­chen. Da galt es, den eins­tigen Pauli-Helden Felix Luz zu ver­spotten, der im Sommer mit der Begrün­dung, er wolle sich sport­lich ver­bes­sern“, nach Augs­burg gewech­selt war, sich dort aber auf einem Abstiegs­platz und meist auch auf der Ersatz­bank wieder findet. Also sangen Gegen­ge­rade und Süd­kurve zur Melodie des Gas­sen­hauers Es gibt nur ein’ Rudi Völler“ im Wech­sel­ge­sang: Sport­lich ver­bes­sert, du hast dich sport­lich ver­bes­sert, sport­lich ver­bes­sert …“ Und da war es wieder, das alte Pauli-Gefühl. Oder wie Pauli-Ikone Volker Ippig sagt: Das Gesamt­kunst­werk ›FC St. Pauli‹ lebt. Anders als zu meiner Zeit, aber es lebt.“