Und es war Sommer … Über den Dächern der Hafenstraße flatterte die
Totenkopffahne im Nordseewind, der die Elbe hinunter blies. Die Auseinandersetzungen zwischen Ordnungskräften und Hausbesetzern erreichten ihren Höhepunkt. Der junge Torwart Volker Ippig solidarisierte sich mit den Hafenstraßenbewohnern, zog aus der Blankeneser Villa des Vereinspräsidenten Otto Paulick aus und verbrachte die sonnigen Monate an der umkämpften Bernhard Nocht-Straße. Und seine Mannschaft, der FC St. Pauli, stieg unter ihrem juvenilen Trainer Michael Lorkowski zum zweiten Mal in die 2. Liga auf. Es war der Sommer 1986, als die Geschichte begann.
Der Stadtteil hatte in den Jahren zuvor abgewirtschaftet. Dem Arbeiterbezirk war der Glamour abhanden gekommen. Große Unternehmen hatten St. Pauli verlassen, viele Rotlichtbars mussten schließen, die Angst vor Aids killte das Geschäft mit der Erotik, der Hafen hatte seine Bedeutung für das Viertel verloren. Zitat des früheren Innensenators der Hansestadt, Helmut Schmidt, von 1986: „Hamburger gehen kaum auf die Reeperbahn. St. Pauli gehört nicht zu den Attraktionen der Stadt.“
Folglich war Wohnraum günstig, und in der zweiten Hälfte der 80er Jahre begannen sich verstärkt Studenten und junge Künstler anzusiedeln. In diesem kulturellen Milieu regte sich ganz allmählich auch eine neue Zuneigung zu dem Fußballklub des Stadtteils. Zumal es der Hamburger SV seinen Anhängern immer schwerer machte, guten Gewissens die Spiele draußen in Stellingen zu besuchen. Die gewaltbereiten Hooligans aus dem berüchtigten Block E des Volksparkstadions hatten mit ihren rechtsradikalen, rassistischen Parolen viele Zuschauer vom HSV entfremdet.
Der FC St. Pauli war nach dem Krieg, abgesehen von einer kurzen Erfolgsphas zwischen 1948 und ’51, als der Klub jedes Jahr um die Deutsche Meisterschaft mitspielte, sportlich nie großartig in Erscheinung getreten. In den 60er und 70er Jahren scheiterte das Team, dessen Fans weitgehend aus dem bürgerlichen Spektrum stammten, sechsmal in der Bundesliga- Aufstiegsrunde. 1977 gelang für ein Jahr der Aufstieg ins Oberhaus, doch der gewonnene Kredit bei den Anhängern wurde durch die unvergleichliche Chancenlosigkeit in der Eliteliga verspielt. Auch dass der FC St. Pauli in diesem Jahr nur fünf Spiele am Millerntor bestritt und aus finanziellen Erwägungen die restliche Zeit ins Volksparkstadion umzog, nahmen die Fans dem Klub übel. Die Bundesliga geriet nicht nur sportlich, sondern auch finanziell zum Fiasko. Der Zuschauerschnitt in den 70er Jahren lag selten über 3500 Zahlenden. Genaue Zahlen sind rückblickend nur schwer zu ermitteln. Der ehemalige Verteidigungsminister Hans Apel, Mitglied des FC St. Pauli seit 1947 und langjähriges Vorstandsmitglied, berichtet: „Viele Präsidenten waren Schlitzohren. In den 60ern wurden vor Kassenschluss oft die Eintrittsgelder eingesammelt, so dass die Buchhaltung kaum Umsätze vermerken konnte.“
Draußen der „Hamburger Kessel“, drinnen steigt St. Pauli auf.
Diese Mentalität führte den Klub aus dem Rotlichtbezirk 1979 an den Rande des Ruins: Präsident Ernst Schacht und sein Getreuer Max Uhlig hatten einen Schuldenberg von 2,7 Millionen Mark angehäuft. Der DFB entzog St. Pauli die Lizenz, Gerüchte von Insolvenzverschleppung machten die Runde.
So wie sich der Stadtteil Anfang der 80er zu verjüngen und modernisieren begann, tat es auch der Verein. In der Finanznot blieb ihm nichts anderes übrig. Die Attraktion des Pleite-Klubs war die A Jugend, die im April 1981 vor 25 000 Zuschauern am Millerntor gegen Jupp Derwalls Nationalmannschaft spielte. Die neue sportliche Leitung rekrutierte Spieler aus der eigenen Jugend und aus dem Umland der Hansestadt. Jürgen Gronau, Stefan Studer und André Golke wurden nach 1982 zu den jungen Wilden, den Erfolgsgaranten und Identifikationsfiguren der nun folgenden Ära.
Die Rückkehr in die 2. Liga in jenem Jahr 1986 gelang mit einem Team aus Halbprofis, in dem Spieler mit 5000 Mark Monatsgehalt zu den Großverdienern zählten. Die Sympathie zu dem langjährigen Chaosklub nahm zu. Zu den Spielen in der Aufstiegsrunde kamen nun bereits durchschnittlich 5000 Zuschauer. Während der Partie am 8. Juni 1986 gegen den ASC Schöppingen gab es eine Gleichzeitigkeit von Ereignissen, die zur Legendenbildung beitrug. Während im Stadion Stefan Studer und André Golke für wichtige Punkte sorgten, kam es nebenan auf dem Heiligengeistfeld zur größten Massenverhaftung in der Geschichte der Bundesrepublik. Beim berüchtigten „Hamburge Kessel“ hielten die Ordnungskräfte 860 Anti-Atomkraft-Demonstranten knapp 15 Stunden lang fest.
Der Klub wird zur Ersatzbefriedigung desillusionierter Aktivisten
Nach dem erneuten Zweitligaaufstieg formierte sich allmählich auf der Gegengerade ein Mob von Autonomen. Wer damals zum Fußball ging, galt in linken Kreisen gemeinhin als suspekt, schließlich waren die Samstage für Demos und Diskussionen vorgesehen, nicht für unterhaltende Ausflüge ins Stadion. Doch unter dem neuen Trainer Willi Reimann etablierte der junge Kader einen alternativen Fußball, der die Linken des Stadtteils ermutigte, ihr Interesse am Spiel auch wieder öffentlich zu machen. „Damals traten die St. Pauli-Tugenden zutage: Einsatz, Leidenschaft, Kampfkraft, Herz“, sagt André Trulsen, der heutige St. Pauli Trainer, der 1986 seine erste Saison auf dem Kiez bestritt.
„Der Post-Punk- und Hafenstraßenszene gefiel der Klub, weil sie dort einen fankulturell unbesetzten Raum einnehmen konnte. Die von der politischen Arbeit desillusionierten linken Polit-Aktivisten fanden im FC St. Pauli eine Art Ersatzbefriedigung“, erklärt René Martens, Autor des Buches „Wunder gibt es immer wieder. Die Geschichte des FC St. Pauli.“ Eine politische Mündigkeit und der Besuch eines Bundesligaspiels schlossen sich fortan nicht mehr aus. Die Spiele in der 2. Liga wurden zu Happenings der Spaßguerilla. Vorher traf sich die neue In-Group der Fans an der Balduintreppe bei den Häusern der Hafenstraße zum Vorglühen.
Zunächst waren es etwa 60 Autonome, die regelmäßig auf der Gegengerade hinter den Trainerbänken ihre Stehplätze einnahmen. In schwarzen Kapuzenpullis oder Bomberjacken, teilweise mit bunten Haaren, grölten sie das Team auf dem Rasen mit unkonventionellen Schlachtrufen nach vorne: „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg, nie wieder 3. Liga!“ Eine klare Abgrenzung zu den reaktionären Anhängern des HSV. Oder als Fingerzeig an die jahrzehntelang andauernde SPD-Herrschaft in der Hansestadt: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten! Wer verrät und nie? St. Pauli!“ Die Kuttenfans in den Kurven wanderten damals in dem noch durchlässigen Stadionrund in der Pause von einem Tor hinter das andere. Der Block von Autonomen aber hielt seinen Standort.
Auf der Haupttribüne kratzten sich Politiker wie Hans Apel, Geschäftsleute wie der zukünftige Präsident des Vereins, Heinz Weisener, und ein paar Luden – leicht zu erkennen an den grellen Outfits, den Körben, in denen sie ihre Hunde mit ins Stadion brachten, und den aufreizenden Damen an der Hand – fragend am Kopf, während allmählich ein neuer Geist am Millerntor einzog.
Das Besondere: Die Fans reflektierten ihr Handeln. Jeder neue Schlachtruf war eine bewusste Antithese auf das Tröten und „Schalala“-Einerlei in allen anderen bundesrepublikanischen Fankurven. Keeper Volker Ippig, der in seiner Anfangszeit als Spieler auf St. Pauli eine Auszeit nahm, um freiwillig Aufbauarbeit im sandinistischen Nicaragua zu verrichten, wurde zur Symbolfigur des neuen Fan-Geists linksalternativer Prägung. Schon bald genoss ein T‑Shirt bei Anhängern Kultstatus mit der Aufschrift: „Volker, hört die Signale“. Im Block der Punks von der Gegengeraden stand damals auch der Punkrocker Mabuse aus der Hafenstraße. An einem Samstagnachmittag entschloss er sich, die Totenkopfflagge vom Dach der besetzten Häuser für 90 Minuten mit ins Stadion zu nehmen. Das Zeichen für Widerstand und Freibeutertum gegen die Bonzen, der unter den Linken vorherrschte, flatterte fortan auch am Millerntor. Heute ist der Totenkopf auf schwarzem Untergrund weit mehr als das Vereinswappen, das Symbol des Klubs, der das Image des Unangepassten längst zur Corporate Identity gemacht hat: „Non-established since 1910“ lautet der offizielle Werbe-Slogan des FC St. Pauli heute.
Als das Team von Helmut Schulte am 29. Mai 1988 in Ulm den Aufstieg in die Bundesliga schaffte, hatte mit der Übernahme der Bundesliga-TV-Rechte durch RTL schon die schleichende Kommerzialisierung Einzug gehalten. Das Privatfernsehen mit seinem Ansatz, Fußball als Show zu vermarkten, transportierte fortan das Image des „etwas anderen Fußballvereins“ deutschlandweit in die Wohnzimmer. Das Image vom Kiezklub, vom „Freudenhaus der Liga“, wie schon bald Pauli-Spiele anmoderiert wurden, machte die Landkarte des Bundesligafußballs um einen dicken Farbtupfer bunter.
Doch die politisierte Fankultur auf St. Pauli stieß nicht nur auf Sympathie. Im Juni 1988, anlässlich des EM-Halbfinals zwischen Deutschland und Holland, griffen Hunderte Deutschland-Hooligans die Häuser am Hafenrand an. Die „Zecken“ vom Millerntor mit ihrem Grundkonsens, dass rassistische und sexistische Äußerungen am Millerntor nicht mehr toleriert wurden, polarisierten und schürten den Hass derer, die das Stadion bis dato als rechtsfreien Raum begriffen hatten, um ihren Frust mit den herrschenden Zuständen ungefiltert herauszulassen.
Das Maskottchen „Wumbo“ wird mit einer Astra-Salve empfangen
Nachdem es bei einem Match gegen den 1. FC Nürnberg zu „Nigger“-Schmähungen gegen den Clubberer Souleyman Sané gekommen war, erarbeiteten Mitarbeiter des neuen Fan-Organs „Millerntor Roar“ (MR) im August 1989 gemeinsam mit Spielern wie Volker Ippig und Peter Knäbel ein Flugblatt, mit dem sich das gesamte Team und mehrere Fanklubs gegen menschenverachtende Hetzparolen im Stadion aussprachen. Zitat aus dem Manifest, das 18 Jahre vor der ersten „Rote Karte gegen Gewalt“-Kampagne in deutschen Stadien entstand, und bis heute als Leitlinie der sportlichen Führung und der Fans gilt: „Unser FC St. Pauli steht für völkerverständigende und internationalistische Kultur des Sports.“
Der „MR“ entstand als Reaktion auf den von St. Pauli-Präsident Otto Paulick mit Architekt Heinz Weisener geplanten „Sport-Dome“ Anfang 1989. Für 500 Millionen Mark sollte damals eine Multifunktionsarena mit Hotel, einer Mehrzweckhalle und Einkaufspassagen entstehen. Mit Flugblättern, Unterschriftensammlungen und einem „Schweigeprotest“ beim Heimspiel gegen den Karlsruher SC organisierte sich ein massiver Widerstand gegen das größenwahnsinnige Projekt der Kommerzialisierung. Im April 1989 erklärte Paulick aufgrund des massiven Widerstands den „Sport-Dome“ für gescheitert. Weil sich die offizielle Stadionzeitung zuvor geweigert hatte, über den Fortgang der Entwicklung bei dem Bauvorhaben zu berichten, entschlossen sich einige Aktivisten, zukünftig ein eigenes, alternatives Stadionmagazin herauszubringen. Kurz darauf wurde auch der Fanladen eröffnet – mit „MR“-Schreiberling Sven Brux als Fanbeauftragten, womit die alternativen Anhänger endlich auch einen zentralen Treffpunkt erhielten. Die intensivierte Arbeit mit den Fans und die verbesserte Kommunikation schlossen schon bald den nach wie vor bestehenden Graben zu den Vereinsfunktionären. Nach Entstehung des Hangouts begann im Oktober 1989 auch eine strukturierte Organisation von Auswärtsfahrten. Während beim Bundesligaspiel im Juni 1989 noch ganze 17 Pauli-Anhänger mit nach Waldhof fuhren, sind es heute im Schnitt mehr als 2000, die das Team zu den Auswärtsspielen begleiten.
Die verbesserte Fanarbeit sorgte für Aufsehen: Der vom „MR“ veröffentlichte Spucki/Aufnäher „St. Pauli Fans gegen Rechts“ wurde schon bald zum Klassiker des modernen Flugblatts, das von vielen Klubs später adaptiert wurde. Als der Trainer Klaus Schlappner mit seinen Waldhof-Buben ans Millerntor kam, wiesen Spruchbänder auf dessen Vergangenheit als Mitglied der NPD hin. Die Kuttenträger der „United“-Fans auf St. Pauli wurden kurz vor der WM 1990 samt der von ihnen bei Heimspielen geschwenkten Reichskriegsflagge aus dem Stadion eliminiert. Selbstbewusst stemmten sich die Fans im Stadion nun auch gegen aufkommende Kommerzialisierungstendenzen. Als ein Sponsor das Maskottchen „Wumbo“ in der Halbzeit auf den Platz schickte, feuerte die Gegengerade eine Salve voller Astra Becher auf das traurige Stofftier. Der Geldgeber stellte sein Engagement daraufhin ein. Die Klänge einer britischen Militärkapelle in der Pause konterten die Fans spontan mit IRA-Liedern. Blasmusik gab es am Millerntor anschließend nie wieder.
Die Vermischung von Anhängern und Mannschaft bis Ende der 80er war etwas Besonderes für einen Profiklub. Die Spieler trugen die Nähe zu den Fans nicht nur auf den Lippen, sondern lebten sie. „Viele von uns hatten Abitur. Wir waren insgesamt ein intelligenter Kader, was sich auch im Engagement widerspiegelte“, erinnert sich Volker Ippig. Einige Kicker arbeiteten aktiv beim „MR“ mit. Im „Clubheim“ am Stadion trafen sich die Spieler nach dem Match zwangsläufig mit den
Anhängern. Bei Wirtin Brigitte, die oft in Strapsen am Zapfhahn stand, wurde gemeinsam gezecht. Und wenn einer frech wurde, hagelte es von der rigorosen Bardame Ohrfeigen, egal, ob sich ein Spieler oder ein Fan daneben benommen hatte. André Trulsen erinnert sich: „Besonders die Küche war für die Spieler der Anziehungspunkt. Da gab es einen Art Klüngel, fünf, sechs Spieler, die dort regelmäßig abhingen und befreundete Fans mitbrachten, um in Ruhe ein paar Bier zu trinken oder eine zu rauchen.“
Hier verschmolz der Stadtteilklub zu einer großen Familie. Parallel zum Aufschwung auf dem Rasen prosperierte auch der Stadtteil in der zweiten Hälfte der 80er: Fußläufig zum Stadion entstanden rund 500 Szene-Kneipen, ‑Bars und –Discos, die den Stadionbesuch mehr und mehr als Warm-up für das anschließende Abtauchen ins Nachtleben interessant machten. Am Clubheim starteten nicht nur die Fans ihre Ausflüge ins Nachtleben, sondern auch die Spieler. Trulsen: „Wir gingen immer in die „Blaue Nacht“ mit dem Wirt Easy. So etwas wäre heute gar nicht mehr möglich, wo alle Spieler sich permanent medizinischen Tests unterziehen müssen.“ Der bei anderen Klubs übliche Star-Kult um die Spieler galt auf dem Kiez stets als verpönt. Womöglich auch aus Mangel an echten Weltstars. Auch bei Niederlagen und anhaltend schwachen Leistungen bewiesen die Fans eine unvergleichliche Leidensfähigkeit. Im Gegenteil: Je schlechter der Klub spielte, desto mehr feierten sich auf St. Pauli die Fans – und die Begeisterung nahm die Spieler dabei gleich in Sippenhaft: Ein Bilderwitz des Cartoonisten Schröder zeigte 1993, wie der brasilianische Joker Leo Manzi euphorisch vom „Leo, Leo“-rufenden Anhang auf Händen getragen wird. Irgendwann sagt Manzi: „Aber ich kam doch erst in der 90. Minute rein und habe nicht ein Mal den Ball berührt.“ Der Mob stutzt, überlegt und singt dann weiter: „Leo, Leo“ So ist es auf St. Pauli – bis heute.
In diesem Geist wachsen die nachfolgenden Spielergenerationen heran. Die Verantwortlichen haben erkannt, dass der FC St. Pauli ohne seine Verwurzelung auf dem Kiez keine Überlebenschance hat. Teamchef Holger Stanislawski, der 1993 als Spieler vom HSV ans Millerntor wechselte, sagt: „Der Mythos lässt sich nicht in einem Satz erklären. Man braucht Zeit, um wirklich zu verstehen, wo man sich hier befindet. Für mich ist dieser Prozess bis heute nicht abgeschlossen.“ Die lange andauernde Phase des sportlichen Erfolgs nach 1986 – 18 Jahre Profifußball, davon sechs Jahre in der 1. Liga – hat dafür gesorgt, dass zwischen Fans und Verein eine so enge Verbindung entstanden ist, dass selbst in den drei Jahren Regionalliga ab 2003 noch 15 000 Zuschauer im Schnitt ans Millerntor kamen.
Doch dem Verein ist es gelungen, den FC St. Pauli als Marke zu positionieren, ohne ihn um das alternative Flair zu berauben. Hans Apel, 60 Jahre im Verein, beschreibt es so: „Der Verein präsentiert sich als lebender Organismus und erfüllt für viele junge Leute einen Familien- und Bindungsersatz.“ Was in den 80ern aus einer politisch ambitionierten Subkultur hervorging, ist längst vom Mainstream aufgesogen worden. Die Andersartigkeit ist kein polarisierender Makel im aalglatten Fußballbusiness mehr, sondern das Alleinstellungsmerkmal des Klubs – der unique sales point –, also ein wichtiger Faktor für die Verkäuflichkeit des Vereins. Sven Brux, der nach fast neun Jahren als Fanbeauftragter zum Organisationschef des Vereins aufstieg, sagt: „Hier werden konservative Werte auf linken Ideen aufgebaut. Wir müssen zusehen, dass wir uns soweit wie möglich gegen die Kommerzialisierung wehren, um die Austauschbarkeit nicht zu beschleunigen.“
Während er und die Fans der frühen Jahre für ihre politische Überzeugung als Pauli-Anhänger auch immer wieder den Anfeindungen anderer Fangruppierungen ausgesetzt waren, ist der FC St. Pauli mit seinem ideologischen Überbau längst zum Konsensklub in Deutschland avanciert, den sogar Uli Hoeneß tatkräftig als „Retter“ bei der jüngsten Finanzmisere 2003 unterstützte. Selbst britische Medien schauen inzwischen neidisch auf das Phänomen FC St. Pauli, wo vermeintlich althergebrachte Fußballwerte überlebt haben. Die heilige Trias aus Bier, Stehplatz und ironisierenden Schlachtrufen. Die englische Zeitschrift „FourFourTwo“ nannte den Klub: „Most Rock’n’Roll-Club in the World“
Doch die Gefahr, sich auf Kosten des eigenen Mythos zurück zu entwickeln, besteht. „Spieler, die wie früher die Phantasie der Fans beflügeln, braucht man heute nicht mehr“, glaubt René Martens. Warum auch, das Millerntor-Stadion ist sowieso immer ausverkauft. Wirtschaftlich spielt es keine Rolle mehr, dass bestimmte Fan-Gruppen und versprengte Pioniere unter den Anhängern, dem Klub den Rücken kehren. Mabuse, der Hausbesetze mit der Totenkopfflagge, geht inzwischen lieber zum Ortsrivalen Altona 93, der in der Oberliga spielt. Zuviel Mode-Fans, zuviel Kommerz. Denn neben der politischen Ambition hat auch die Fan-Folklore am Millerntor Einzug gehalten. Die Wirklichkeit korrigiert den Mythos, etwa mit Aktionen wie 2004 „Viva St. Pauli – Kampf der Drittklassigkeit“, bei der die Marketingabteilung des Klubs marktschreierisch eine „ganz eigene Revolution“ ausrief. Motto: „Bei uns fließt kein Blut, nur Astra und Bommerlunder.“ Die Spiele des FC St. Pauli sind ein Stück weit das geworden, was Fußball überall in den großen Stadien ist – ein Event, pures, gleichgeschaltetes Entertainment. Der kleine Unterschied: Wenn andere Mannschaften zum „Star Wars“-Thema einlaufen, lässt Orga-Boss Sven Brux vor den Spielen AC/DCs „Hells Bells“ erklingen. Treffen Heimmannschaften anderswo zum „Can Can“ ins Tor, schallt am Millerntor „Song 2“ von Blur.
Da in der Gesellschaft vor allem der individuelle Freigeist etwas gilt, taugt die Dauerkarte vom FC St. Pauli für viele Anhänger der Neuzeit auch als Statussymbol für Andersartigkeit und vermeintliche Basisverbundenheit. Auch der politisch Meinungslose bezieht mit dem Gang ans Millerntor Stellung. Ein Quentchen freies Denken im Leben des geknechteten Werbetexters mit seiner 70-Stunden-Woche. Seine Ration St. Pauli beweist ihm im Zweiwochentakt, wie unangepasst er doch geblieben ist.
Das Klischee vom Gegenentwurf zum Fußballmainstream sorgt immerhin dafür, dass der Verein derzeit bei jedem Heimspiel ein ausverkauftes Stadion hat. Und was ist nicht alles Klischee im Fußball? Volker Ippig sagt heute: „Ich habe das Geld, das ich als Profi verdient habe, nie großartig für soziale Einrichtungen gespendet. Ich habe es gespart und mir irgendwann ein Haus davon gekauft. Ganz spießig.“ Ein anderes Klischee besagt, dass alle Profifußballer die Charts rauf und runter hören. Dementsprechend antworten neun von zehn Kickern auf die Frage nach ihrem Musikgeschmack: „Ach, was so im Radio läuft.“ Also die Charts, rauf und runter. Marcel Eger, aktueller Spieler beim FC St. Pauli, antwortet auf dieselbe Frage: „Am liebsten höre ich im Moment die Arctic Monkeys, die Shout Out Louds und, wenn es ein bisschen ruhiger sein soll, Damien Rice.“ Eger sagt auch, seine Schule sei von den drei weiterführenden im fränkischen Ansbach „eher das Hippie-Gymnasium“ gewesen. Von den beiden anderen war „eines für die Mathe-Streber und das andere für die Tussis“. Wohl die wenigsten Fußballer können mit dem Begriff „Hippie-Gymnasium“ etwas anfangen, wogegen die meisten das, was Eger eine „Tussi“ nennt, bedenkenlos zur Ehefrau nehmen würden. Damit ist Schluss mit den Klischees, aber es wird wohl ungefähr klar, was gemeint ist: Marcel Eger ist ein Prototyp des etwas anderen Profis. So wie Volker Ippig, Peter Knäbel oder auf ihre Art auch André Trulsen und Holger Stanislawski.
Als solcher passt er natürlich gut zu diesem Klub. Er ist ein Zögling dieser Faszination, die der FC St. Pauli ausübt. Der Tag, an dem Eger dies klar wurde, war der 20. Mai 2001. Damals spielte der heute 24-Jährige für die Jugend des 1. FC Nürnberg und war dabei, als der FC St. Pauli im Frankenstadion zum vierten Mal in die Bundesliga aufstieg. Nach dem Abpfiff waren beide Mannschaften am Ziel ihrer Wünsche, auch die Nürnberger hatten die Rückkehr ins Oberhaus geschafft. Doch während ihre Anhänger Hausrecht genossen, blieben die Pauli-Fans, abgeschottet von Polizei und Ordnungskräften, in ihrem Block, was sie nicht daran hinderte, nach allen Regeln der Kunst zu feiern. Die Party, die der Mob aus Hamburg veranstaltete, ließ manchen Club-Fan neidisch herüberblicken, auch Marcel Eger, das hoffnungsvolle Talent in Diensten des 1.FC Nürnberg: „Was sind das für coole Typen, haben viele gedacht. Die lassen sich von nichts abschrecken.“
Meggle muss im Clubheim auf einer Bierkiste Volksreden halten
In ihm selbst reifte der Gedanke, wie schön es wäre, als Spieler dazuzugehören und sich von diesen Leuten anfeuern zu lassen. Doch so läuft der Profifußball natürlich nicht, der alte Satz, dass dir dein Verein gegeben wird, gilt für die Akteure selbst auf andere Weise, aber meist noch mehr als für jeden Fan. Als es nach der Juniorenzeit für Eger beim Club keine Zukunft gab, wechselte er zum SC Feucht in die Regionalliga Süd. Während der junge Fußballer überlegte, ob er seinen Ehrgeiz lieber auf ein Studium fokussieren sollte, lief er in seinem fränkischen Heimatort dem dort wohnhaften Georg Volkert über den Weg, einst Manager beim FC St. Pauli. Man kam ins Gespräch und Volkert fragte, was Eger so mache. Eger erzählte es ihm und auch von seinen Gedanken die Zukunft betreffend, und irgendwann sagte Volkert: „Du würdest gut zu St. Pauli passen, weil eine Grätsche dort mehr Applaus bekommt als ein Übersteiger.“ Bald darauf gelang es seinem Berater tatsächlich, Eger ans Millerntor zu vermitteln.
Es wäre natürlich Quatsch, zu sagen, alle Spieler im Kader des FC St. Pauli seien von Geburt Fußballromantiker und Idealisten. Manch einer geht dort nur ganz normal seinem Beruf nach, anderen ist der Appetit erst beim Essen gekommen. Das gilt für Thomas Meggle. „Ich wäre damals auch zu Rot-Weiß Oberhausen gegangen“, sagt der 32-Jährige, der erstmals 1997 zum Kiezklub kam und mittlerweile zum dritten Mal dort unter Vertrag steht. Doch zu den sportlichen Gründen, die für Meggle zunächst im Vordergrund standen, gesellten sich bald weiche Standortfaktoren wie „das interessante Innenleben des Vereins“. Der neugierige Münchner ließ sich von Sven Brux in die Welt der Pauli-Fans einführen und machte interessante Erfahrungen: in der Vereinskneipe auf einer leeren Astra Kiste zu stehen und Volksreden zu halten, das hatte er sich zuvor nicht vorstellen können. Dabei gesteht Meggle, dass ihn der weltanschauliche Aspekt allenfalls am Rande interessiert: „Ich brauche das Politische nicht. Ich brauche die menschliche Wärme, den Wohlfühlfaktor.“ Der Mann, der als Torschütze im Weltpokalsiegerbesieger-Spiel in die Geschichte einging, hat sich gleichwohl ein pragmatisches Verhältnis zu seiner Karriere bewahrt und auch bei München 1860 und Hansa Rostock sein Glück versucht.
Solch ein Pragmatismus ist jedem Spieler des FC St. Pauli anzuraten, denn er beruht auf Gegenseitigkeit. Es darf keiner glauben, der Verein beschäftige einen Spieler, bloß weil er sich in das kuschelige Pauli-Universum gut einfügt. Die Schreibtische in der Geschäftsstelle sind voll mit Bewerbungen von Fußballern, die beim FC St. Pauli spielen wollen, weil es eben der FC St. Pauli ist – doch das und ein klubkompatibler Charakter allein hat noch niemandem einen Vertrag eingebracht. Und im Zweifel keinen davor geschützt, auf die Straße gesetzt zu werden. Diese schmerzliche Erfahrung musste im Sommer Benjamin Adrion machen, der mit seiner „Viva con agua“-Kampagne für sauberes Trinkwasser in Entwicklungsländern eines der Vorzeigegesichter des „anderen“ Klubs war, was ihm aber keine Verlängerung seines Kontraktes beschert hat.
Teamchef Holger Stanislawski erklärt: „Auch wir suchen die Spieler in erster Linie nach der sportlichen Qualität und ihrer Teamfähigkeit aus – und erst dann, ob sie in der Lage, sind das Umfeld zu antizipieren.“ Mit nicht allzu viel Geld ein erfolgreiches Team zu basteln, das mehr als irgendwo sonst zur Identifikation taugen muss, ist ein heikles Unterfangen. Um Letztere zu fördern, verpflichtet der FC St. Pauli seine Spieler einmal im Jahr zu einem Stadtteilrundgang und zum Besuch des Fanladens, was die Bindung zum Viertel stärken soll. Doch ein Spagat bleibt es allemal, wie überhaupt die ganze Philosophie des Vereins. „Ich hoffe, dass wir mittelfristig in der 1. Liga spielen und uns dort festsetzen, ohne den Charme zu verlieren und dem schnöden Mammon zu erliegen“, sagt Marcel Eger. Hört sich fast so an, als wollte sich da jemand an der Quadratur des Kreises versuchen. Vielen geht es ja jetzt schon deutlich zu weit. „St. Pauli ist neben Bayern und Dortmund der kommerzialisierteste Klub Deutschlands“, sagt etwa Marcus Lindenau, der den Braun-Weißen seit Jahr und Tag als Fan verbunden ist. Auch Heiko Schlesselmann vom Fanladen macht sich so seine Gedanken: „Der Verein versilbert alles, was da ist. Und irgendwann haben wir nichts mehr.“ In der Tat hat der FC St. Pauli, meist der Not gehorchend, eine Menge seiner Rechte, etwa am Catering, dem Ticketing oder dem äußerst profitablen Merchandising, zum Teil auf Jahrzehnte hin veräußert. Auf der anderen Seite hat er vor nicht allzu langer Zeit seine Vermarktungsrechte zurück erworben und ist damit neben Bayern München und dem SC Freiburg der einzige deutsche Profiklub, der dieses Pfund nicht an eine Agentur abgetreten hat. Was nun zuletzt die Gemüter erhitzte, war die mögliche Umbenennung des Stadions, für viele eines der letzten Tabus auf St. Pauli. Bei einer lebhaften Jahreshauptversammlung im November stimmten die Mitglieder gegen den Verkauf der Namensrechte, was den Vorstand aber nicht rechtlich, sondern höchstens moralisch bindet. Doch immerhin, dieses Votum war eindeutig, erst recht, nachdem Jochen Harberg von der einflussreichen „Abteilung Fördernder Mitglieder“ den Saal mit dem Satz zum Kochen gebracht hatte, man würde ja auch „nicht die Binnenalster in Astra-Pfütze“ umbenennen.
Am Tag nach der Versammlung sitzt Marcus Schulz, einer der stellvertretenden Vorsitzenden des Klubs, in der Geschäftsstelle und sagt: „Man wird sich daran halten, auch wenn ich den Beschluss falsch finde.“ Das Besprechungszimmer ist klein, aber es ist der größte Raum in der Büroetage an der Stresemannstraße, die der Verein für die Zeit des Stadionumbaus angemietet hat. Von der Büro-Warteschleife erklingt „Rockin’ all over the World“ von Status Quo. Und es sind die gefühlt letzten Büros in Deutschland, in denen noch offen und selbstverständlich geraucht wird. Auch das ist St. Pauli, hier stemmt sich ein letztes Häufl ein der Aufrechten im Geiste Störtebeckers gegen die voranschreitende Prohibition. Doch es soll um die Stadionumbenennung gehen, den Kommerz und das ganze Gedöns. „Ich bin Realist“, sagt Marcus Schulz. „Was nützt es, einen Verein zu haben, der nur noch in der Erinnerung lebt?“ Der Mythos allein ernährt dich nicht, will er wohl sagen. Es geht darum, die Grenze zu definieren zwischen dem, was noch toleriert werden kann, und dem, was die Welt des Klubs im Innersten zusammenhält – und wenn man daran rührt, bricht das ganze Gerüst in sich zusammen. Dass es beim FC St. Pauli keine Maskottchen und Cheerleader geben soll, dass kein marktschreierischer Stadionsprecher den Sponsor des Eckenverhältnisses herausbrüllen soll, darüber sind sich soweit alle einig. Beim Stadionnamen ist es schon schwieriger.
Ein anderer neuralgischer Punkt war die so genannte „Retter“-Kampagne im Frühjahr 2003, als verschiedene Aktionen vom T‑Shirt-Verkauf bis zum Biergroschen mehr als zwei Millionen Euro in die Kassen des Vereins spülten und ihn damit vor dem Lizenzentzug und der Rückstufung in die Oberliga retteten. Dass dabei auch die Hilfe von Klassenfeinden wie McDonald’s oder dem CDU-Bürgermeister Ole von Beust in Anspruch genommen wurde, ging einigen Anhängern so sehr gegen den Strich, dass sie sich von ihrem Klub abwandten. Sogar Telefon-Sexlines warben damals damit, dass ein Teil der Gebühr der Kampagne zugute käme. Ein grundlegender Verstoß gegen das Dogma des Anti-Sexismus unter den Pauli-Fans. „Die Retterkampagne hat null geschadet“, sagt dagegen Marcus Schulz. „Außerdem war sie pure Notwendigkeit, weil der Verein sonst pleite gewesen wäre.“ Möglicherweise wären einige der Gegner tatsächlich lieber in Schönheit gestorben. An solch einem Punkt noch einen Konsens zu finden, kann tatsächlich ein Ding der Unmöglichkeit sein.
Der FC St. Pauli wird sich weiter an der Frage abarbeiten, ob er ein ganz normaler Profiklub oder doch lieber eine romantische Vision sein möchte. Und er wird probieren, inwieweit sich nicht doch das eine mit dem anderen verbinden lässt. „Auch ich habe große Sehnsucht nach dem authentischen Spiel“, sagt Schulz, „und ich frage mich, wie schaffen wir es, einen möglichst kommerzfreien Verein hinzukriegen?“
In der Not verscherbelte der Verein Lebensdauerkarten
So viel anders hört sich das auch bei Heiko Schlesselmann vom Fanladen nicht an, wenn er meint: „Ich würde mir wünschen, dass wir eine Insel der Glückseligkeit bleiben, dass wir das durchhalten und nicht jeden Scheiß mitmachen.“ Präsident Corny Littmann, das gestehen ihm selbst seine Gegner zu, hat den Verein entschuldet und damit zukunftsfähig gemacht. Dass der Vorsitzende dennoch umstritten ist, hat mit seiner Beratungsresistenz zu tun, die ihn immer wieder mit dem von Fanvertretern dominierten Aufsichtsrat kollidieren lässt. „Als Schwuler aus dem Viertel bringt er eigentlich alle Voraussetzungen mit“, glaubt Schlesselmann, „doch er macht sich mit seiner Art viel kaputt.“ Der Boss von zwei Theatern auf dem Kiez steht dazu, dass er keine Ahnung vom Fußball hat. Der sportlichen Abteilung und den Faninitiativen droht vom grellen Präses wenig Gefahr. In Geschäftsbelange lässt sich Littmann indes ungern hinein reden. Und er entscheidet mitunter nach Gutsherrenart und selbst für Vertraute wenig nachvollziehbar. Im Zuge der „Retter“-Kampagne veräußerte der Verein auf Geheiß des Präsidiums 450 Lebens Dauerkarten ab 1910 Euro. Gerade junge Fans nahmen das Schnäppchen gerne mit, zu dem eine ortsansässige Bank jungen Pauli-Fans mit einem Null-Prozent-Kredit den Kauf der Zeitkarten ermöglichte. Dieses Geld wird dem Verein zukünftig fehlen. Im März 2007 gab es auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung einen Showdown zwischen Aufsichtsrat und Geschäftsführung. Littmann wurde vom Aufsichtsrat unter anderem beschuldigt, Scheinverträge mit Spielern ausgehandelt zu haben und eine unseriöse Finanzierung beim Stadionneubau zu verfolgen. Der Präsident konnte die Vorwürfe jedoch entkräften. Immerhin: Littmanns Prestigeobjekt, das neue Stadion, ist auf dem Weg. Erst vor einigen Wochen wurde auf der Südtribüne als erstem Bauabschnitt Richtfest gefeiert, ein Termin, der Thomas Meggle geradezu verstörte. „Als ich 1997 hierher kam, hieß es: In einem halben Jahr geht’s los. Seitdem habe ich jeden Sommer auf die Bagger gewartet.“
Nun hat das Warten ein Ende, und wenn die nach englischem Vorbild mit steilen Rängen konstruierte Arena im Jahr 2014 fertig sein wird, soll sie nicht nur individueller gestaltet sein als viele andere moderne Stadionbauten, sondern auch immer noch mehr Steh- als Sitzplätze beherbergen, etwa 15 000 bei einer Gesamtkapazität von 27 000. Und wieder schauen die Briten neidisch nach Hamburg, weil eigentlich England ein Exklusivrecht auf ein solch fanfreundliches Stadion für sich beansprucht. Doch das Clubheim, über Jahrzehnte Treffpunkt von Team und Anhängern, wird abgerissen. Ob die typische Fannähe aufrechterhalten werden kann, muss die Zukunft weisen.
Entscheidend für das künftige Charisma des FC St. Pauli wird sein, ob es gelingt, das neue Millerntor wieder zum Hexenkessel zu machen. Der Ruf des alten hat zuletzt gelitten. Die einst für ihren „Roar“ legendäre Gegengerade ist in die Jahre gekommen, die jungen Ultras in der Südkurve kochen ihr eigenes Süppchen, und die meisten anderen Zuschauer kommen aus einer Bevölkerungsgruppe, die hinter vorgehaltener Hand bei Verantwortlichen abschätzig als „Galão-Fraktion“ gehandelt wird, also Konsumenten von portugiesischem Milchkaffee, der sich im neo-hippen Schanzenviertel großer Beliebtheit erfreut. Der Stadtteil hat sich gewandelt: Die Schanze war lange das Junkieviertel, dominiert von der Methadon-Ausgabe „Fixstern“ neben der besetzten „Roten Flora“ am Schulterblatt. Heute trifft sich die Bohème gegenüber auf der „Piazza“ – von alteingesessenen St. Paulianern „Galão-Strich“ tituliert – zum zweiten Frühstück. Im Souterrain eines der Hafenstraßenhäuser brunchen die Nachkommen der New Economy in der „Amphore“.
Sven Brux, nur einer von mehreren Fan-Pionieren, die vom Verein angestellt wurden und die Belange mitbestimmen, sieht im sozialen Wandel aber keine Gefahr für den Klub: „Ich kann auch den hippen Leuten aus der Schanze nur eine hohe Leidensfähigkeit bescheinigen. Auch sie haben uns zum Großteil in den Jahren Regionalliga die Treue gehalten.“ Doch als Stimmungskanonen sind sie weitgehend unbrauchbar. Und wenn sich einige von ihnen über die seit Jahr und Tag ins Stadion pilgernden Redskins beschweren, weil sie die feinen Unterschiede nicht kennen und sie für Nazis halten, geht einem wie Heiko Schlesselmann schon mal der Hut hoch. Um der Überalterung entgegen zu wirken, hat der Verein nun 600 Tickets in die Obhut der linken Gruppierung „Ultrà Sankt Pauli“ (USP) gegeben, damit über die Basisnähe dieser Fans auch junge Zuschauer wieder den Weg ins Stadion finden. Die Hoffnungen für die neuen Zeiten ruhen denn auch weniger auf der Galão-Fraktion als auf einem besseren Zusammenspiel von Gegengerade und Südkurve. Stanislawski sagt: „Früher war der Zusammenhalt unter den Fans auch auf dem Platz spürbarer.“
Neulich, zur Premiere der neuen Tribüne beim Spiel gegen den FC Augsburg, gab es einen ersten Vorgeschmack darauf, dass womöglich bessere Zeiten anbrechen. Da galt es, den einstigen Pauli-Helden Felix Luz zu verspotten, der im Sommer mit der Begründung, er wolle sich „sportlich verbessern“, nach Augsburg gewechselt war, sich dort aber auf einem Abstiegsplatz und meist auch auf der Ersatzbank wieder findet. Also sangen Gegengerade und Südkurve zur Melodie des Gassenhauers „Es gibt nur ein’ Rudi Völler“ im Wechselgesang: „Sportlich verbessert, du hast dich sportlich verbessert, sportlich verbessert …“ Und da war es wieder, das alte Pauli-Gefühl. Oder wie Pauli-Ikone Volker Ippig sagt: „Das Gesamtkunstwerk ›FC St. Pauli‹ lebt. Anders als zu meiner Zeit, aber es lebt.“