Rund um den DFB macht mal wieder das Wort „Nachwuchsproblem“ die Runde. Was aber sagen Kai Havertz, Thilo Kehrer und Co. zu dieser Kritik? Wir haben die größten deutschen Talente besucht.
Im Schlosskeller von Mittersill schaut Thilo Kehrer hoch zum Kerzenkronleuchter, er überlegt kurz und analysiert dann die deutsche Nachwuchsarbeit: „Die Trainer und Ausbilder machen klare Vorgaben, der Leistungsdruck und auch der Zeitdruck sind groß. Wichtig ist, dass junge Spieler sich dennoch ausprobieren dürfen, um ihre Persönlichkeit und eine starke Mentalität entwickeln zu können.“
Junge Spieler brauchen von ihren Trainern eine gewisse Fehlertoleranz. In der vergangenen Saison wollte Kehrer in Hannover das Spiel eröffnen, ihm unterlief ein folgenschwerer Fehlpass zum Gegentor. Schalke verlor deswegen 0:1. Trainer Domenico Tedesco jedoch ermunterte Kehrer weiter zu solchen Spieleröffnungen und stellte ihn im nächsten Spiel wieder auf. Er kann auf beiden Seiten in der Dreierkette verteidigen, er ist flink und antizipiert gut. Er selbst will sein Spiel nicht ändern. Im Gegenteil: Als Verteidiger will er handlungsschneller werden, noch mehr tiefe Pässe spielen. Die Richtung ist klar, nach vorne.
„Wir benötigen mehr Freiraum für Kreativität“
Genau dieser Mut zur Spielfreude gehörte sehr lange auch zum Anforderungsprofil für deutsche Nationalspieler. Hansi Flick, der ehemalige Co-Trainer der Elf, gab der „FAZ“ im Mai ein bemerkenswertes Interview. Darin verlangte er, dass den jungen Spielern mehr Fehler zugestanden werden sollten. „Wir benötigen mehr Freiraum für Kreativität. Ich glaube, dass es wichtig ist, bis zu einem bestimmten Alter eher individuell als mannschaftstaktisch zu arbeiten.“ Flick gilt als unorthodoxer Tüftler, dessen kritische Expertise sich auch der Bundestrainer Joachim Löw zurückwünschen soll.
Denn strenggenommen geht es nicht darum, die Förderung der deutschen Jugendspieler auf den Kopf zu stellen. Sondern die individuellen Ausnahmetalente zu fördern. Mehr Atmungsfreiheit im Korsett. Sie sollen sich nicht nur toll in den Schnittstellen anbieten, sondern auch mal ein Eins-gegen-Eins wagen. Sie sollen noch den dritten Ball in die Tiefe spielen, selbst wenn zwei Pässe zuvor missraten sind. Frankreich lebte bei der WM trotz all der Geschlossenheit von der Explosivität eines Kylian Mbappé, der sich lustvoll in jedes Dribbling stürzte. Diesen Mbappé gibt es nicht zweimal. Aber auch Deutsch land verfügt trotz der Tristesse der WM über ausreichend Hochbegabte. Das sieht auch Flick so: „Da können Sie selbst die U19 nehmen, die nicht zur EM gefahren ist. Leverkusens Kai Havertz und Arne Maier von Hertha BSC sind zwei Spieler, die richtig gut sind.“
Maier sagt: „I know“
Anfang August ist es in Berlin auf dem Trainingsplatz brütend heiß, weit über dreißig Grad, doch Arne Maier scheint die Hitze nichts auszumachen. Er fordert Zuspiel um Zuspiel. Er zeigt mit dem Finger an, in welchen Fuß er die Pässe haben will, er diskutiert mit Abwehrchef Karim Rekik über die Zuordnung in der Defensive. Am Ende des Spiels kommt Rekik zu Maier, will ihm etwas erklären, doch Maier tippt sich mit dem Finger auf die Brust und sagt: „I know“.
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Er steht mit einer Selbstverständlichkeit auf dem Platz, die man bei den anderen Spielern seines Alters vergeblich sucht. Er ist der Einzige, dessen Statur nichts mehr mit der eines A‑Jugendlichen zu tun hat. Er sucht Bälle, er findet Lösungen. Er behauptet sich auf der vielleicht anspruchsvollsten Position im Fußball, im Mittelfeldzentrum. Maier, der Junge, der als nächstes großes Ding im deutschen Fußball gilt, verdeutlicht mit jeder Aktion: Er ist bereit. Dabei sieht er täglich, wie fragil die Hoffnung sein kann. Einen Steinwurf von Maier entfernt sitzt einer der talentiertesten Spieler des Landes, stützt den Oberkörper hinten mit den Armen ab und jongliert mit den Füßen während des Warmmachens einen Ball, vielleicht aus Jux, vielleicht um ein bisschen zu prahlen. Es ist Sinan Kurt, 22 Jahre, der Ex-Bayern-Spieler. Er darf nur noch bei Herthas Amateuren trainieren, der Verein würde ihn gerne abgeben.