Wir bauen unsere Seite für dich um. Klicke hier für mehr Informationen.

Hin­weis: Die Geschichte erschien erst­mals Ende August und war die Titel­story von 11FREUNDE-Heft #202. Unter shop​.11freunde​.de könnt ihr die Aus­gabe kaufen.

Der Junge mit der großen Zukunft schlen­dert durch die Säle mit der langen Ver­gan­gen­heit. Thilo Kehrer, das Abwehr­ta­lent des FC Schalke 04, setzt sich an den Din­ner­tisch im Kel­ler­ge­wölbe des öster­rei­chi­schen Schlosses Mit­ter­sill. Die Schalker resi­dieren im Som­mer­trai­nings­lager in dem über 900 Jahre alten Gemäuer, in dem schon Aris­to­teles Onassis und Clark Gable ein­ge­kehrt sind. Von so viel Gla­mour und glo­balem Ruhm ist Kehrer noch ent­fernt, er trägt Trikot und Schlappen.

Doch andert­halb Wochen später holt ihn Paris für 37 Mil­lionen Euro und macht ihn zum teu­ersten deut­schen Ver­tei­diger aller Zeiten. Kehrer lief als Kapitän der deut­schen U21-Natio­nal­mann­schaft auf und hatte sich in der Bun­des­liga beim Vize­meister in der Defen­sive eta­bliert. Da passt es, dass der deut­sche Fuß­ball nach dem bla­ma­blen WM-Vor­run­denaus der DFB-Elf in Russ­land nach neuen Gesich­tern sucht. Nach Spie­lern wie ihm.

Es wird weniger über den Kopf gespro­chen“

Kehrer ist erst 21 Jahre alt. Er spaßt mit dem Teil­zeit-Zeug­wart, the legend“ Wolle, der sich bei den Ath­le­tik­übungen der Profis anschließt und ein biss­chen Arme machen“ will. Kehrer schlägt sich mit der Hand vor Lachen auf den Ober­schenkel, der Kopf kippt hin und her. In diesen Momenten wirkt er wie ein Abitu­rient mit den besten Späßen auf der Klas­sen­fahrt. Aber wenn er über den deut­schen Fuß­ball und die Nach­wuchs­ar­beit spricht, dann mit dem Abstand und der Selbst­re­fle­xion eines End­drei­ßi­gers. Im deut­schen Jugend­fuß­ball liegt der Fokus stark auf dem Spiel und auf der Ath­letik. Aber es wird weniger über den Kopf gespro­chen, über die men­tale Seite“, sagt Kehrer. Damit ist er einer der wenigen Spieler, die sich dezi­diert zur Dis­kus­sion um den deut­schen Jugend­fuß­ball äußern. Er sagt: Es könnte grö­ßere Frei­räume geben, damit sich indi­vi­du­elle Cha­rak­tere formen. Das gilt für das Spiel, aber auch außer­halb des Platzes.“

[[{„type“:„media“,„view_mode“:„media_large“,„fid“:„233117“,„attributes“:{„alt“:““,„class“:„media-image“,„height“:„480“,„typeof“:„foaf:Image“,„width“:„320“}}]]

Im Sommer 2018 reden sich Experten und Trainer über die Zukunft des deut­schen Fuß­balls die Köpfe heiß. Wir haben inner­halb von zwei Wochen der Sai­son­vor­be­rei­tung mit acht Talenten zwi­schen 18 und 21 Jahren gespro­chen, die als Ver­spre­chen auf genau diese Zukunft gelten. Dabei ging es auch um die Frage, der sich Kehrer nähert: Schnüren die Vor­gaben der deut­schen Nach­wuchs­aka­de­mien den Spie­lern ihre Indi­vi­dua­lität ab?

Sie können 18 Sys­teme rück­wärts furzen“

Die Frage kam erst­mals durch einen flap­sigen Spruch von Mehmet Scholl auf. Mit Bon­mots des Ex-Natio­nal­spie­lers könnte Christo alleine den Reichstag ver­hüllen. Aber Scholls Sätze weit vor der WM in Russ­land taugten plötz­lich zu einer genauen Ana­mnese des krän­kelnden deut­schen Fuß­balls. Scholl hatte gesagt: Die Kinder müssen heute abspielen, sie dürfen sich nicht mehr im Drib­beln aus­pro­bieren. Statt­dessen können sie 18 Sys­teme rück­wärts laufen und furzen.“ Von der Fla­tu­lenz-Sym­bolik mal abge­sehen, teilen nicht wenige Jugend­trainer seine These, wonach die strikte Tak­tik­päd­agogik der Inter­nate zwar mas­sen­weise gefü­gige Mus­ter­schüler her­vor­ge­bracht hat.

Aber diese zu oft indi­vi­du­elle Stärke, Mut und auch Resi­lienz ver­missen lassen. Die deut­sche Mann­schaft 2018 bestand aus Aus­nah­me­fuß­bal­lern. Auf dem Platz jedoch fand sie selb­ständig keinen Plan B. Bei­spiels­weise wenn die Mexi­kaner uner­wartet tief standen oder die Süd­ko­reaner sich wie Kletten an sie hängten. In Russ­land war zum ersten Mal eine deut­sche Aus­wahl ange­treten, deren Groß­teil die Jugend in den Nach­wuchs­leis­tungs­zen­tren ver­bracht hat. Die U19 schei­terte nach einem 2:5 gegen Nor­wegen kra­chend in der EM-Quali. Auch andere Jahr­gänge laufen den viel ath­le­ti­scheren Eng­län­dern und Fran­zosen hin­terher.