Rund um den DFB macht mal wieder das Wort „Nachwuchsproblem“ die Runde. Was aber sagen Kai Havertz, Thilo Kehrer und Co. zu dieser Kritik? Wir haben die größten deutschen Talente besucht.
Hinweis: Die Geschichte erschien erstmals Ende August und war die Titelstory von 11FREUNDE-Heft #202. Unter shop.11freunde.de könnt ihr die Ausgabe kaufen.
Der Junge mit der großen Zukunft schlendert durch die Säle mit der langen Vergangenheit. Thilo Kehrer, das Abwehrtalent des FC Schalke 04, setzt sich an den Dinnertisch im Kellergewölbe des österreichischen Schlosses Mittersill. Die Schalker residieren im Sommertrainingslager in dem über 900 Jahre alten Gemäuer, in dem schon Aristoteles Onassis und Clark Gable eingekehrt sind. Von so viel Glamour und globalem Ruhm ist Kehrer noch entfernt, er trägt Trikot und Schlappen.
Doch anderthalb Wochen später holt ihn Paris für 37 Millionen Euro und macht ihn zum teuersten deutschen Verteidiger aller Zeiten. Kehrer lief als Kapitän der deutschen U21-Nationalmannschaft auf und hatte sich in der Bundesliga beim Vizemeister in der Defensive etabliert. Da passt es, dass der deutsche Fußball nach dem blamablen WM-Vorrundenaus der DFB-Elf in Russland nach neuen Gesichtern sucht. Nach Spielern wie ihm.
„Es wird weniger über den Kopf gesprochen“
Kehrer ist erst 21 Jahre alt. Er spaßt mit dem Teilzeit-Zeugwart, „the legend“ Wolle, der sich bei den Athletikübungen der Profis anschließt und „ein bisschen Arme machen“ will. Kehrer schlägt sich mit der Hand vor Lachen auf den Oberschenkel, der Kopf kippt hin und her. In diesen Momenten wirkt er wie ein Abiturient mit den besten Späßen auf der Klassenfahrt. Aber wenn er über den deutschen Fußball und die Nachwuchsarbeit spricht, dann mit dem Abstand und der Selbstreflexion eines Enddreißigers. „Im deutschen Jugendfußball liegt der Fokus stark auf dem Spiel und auf der Athletik. Aber es wird weniger über den Kopf gesprochen, über die mentale Seite“, sagt Kehrer. Damit ist er einer der wenigen Spieler, die sich dezidiert zur Diskussion um den deutschen Jugendfußball äußern. Er sagt: „Es könnte größere Freiräume geben, damit sich individuelle Charaktere formen. Das gilt für das Spiel, aber auch außerhalb des Platzes.“
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Im Sommer 2018 reden sich Experten und Trainer über die Zukunft des deutschen Fußballs die Köpfe heiß. Wir haben innerhalb von zwei Wochen der Saisonvorbereitung mit acht Talenten zwischen 18 und 21 Jahren gesprochen, die als Versprechen auf genau diese Zukunft gelten. Dabei ging es auch um die Frage, der sich Kehrer nähert: Schnüren die Vorgaben der deutschen Nachwuchsakademien den Spielern ihre Individualität ab?
„Sie können 18 Systeme rückwärts furzen“
Die Frage kam erstmals durch einen flapsigen Spruch von Mehmet Scholl auf. Mit Bonmots des Ex-Nationalspielers könnte Christo alleine den Reichstag verhüllen. Aber Scholls Sätze weit vor der WM in Russland taugten plötzlich zu einer genauen Anamnese des kränkelnden deutschen Fußballs. Scholl hatte gesagt: „Die Kinder müssen heute abspielen, sie dürfen sich nicht mehr im Dribbeln ausprobieren. Stattdessen können sie 18 Systeme rückwärts laufen und furzen.“ Von der Flatulenz-Symbolik mal abgesehen, teilen nicht wenige Jugendtrainer seine These, wonach die strikte Taktikpädagogik der Internate zwar massenweise gefügige Musterschüler hervorgebracht hat.
Aber diese zu oft individuelle Stärke, Mut und auch Resilienz vermissen lassen. Die deutsche Mannschaft 2018 bestand aus Ausnahmefußballern. Auf dem Platz jedoch fand sie selbständig keinen Plan B. Beispielsweise wenn die Mexikaner unerwartet tief standen oder die Südkoreaner sich wie Kletten an sie hängten. In Russland war zum ersten Mal eine deutsche Auswahl angetreten, deren Großteil die Jugend in den Nachwuchsleistungszentren verbracht hat. Die U19 scheiterte nach einem 2:5 gegen Norwegen krachend in der EM-Quali. Auch andere Jahrgänge laufen den viel athletischeren Engländern und Franzosen hinterher.
Im Schlosskeller von Mittersill schaut Thilo Kehrer hoch zum Kerzenkronleuchter, er überlegt kurz und analysiert dann die deutsche Nachwuchsarbeit: „Die Trainer und Ausbilder machen klare Vorgaben, der Leistungsdruck und auch der Zeitdruck sind groß. Wichtig ist, dass junge Spieler sich dennoch ausprobieren dürfen, um ihre Persönlichkeit und eine starke Mentalität entwickeln zu können.“
Junge Spieler brauchen von ihren Trainern eine gewisse Fehlertoleranz. In der vergangenen Saison wollte Kehrer in Hannover das Spiel eröffnen, ihm unterlief ein folgenschwerer Fehlpass zum Gegentor. Schalke verlor deswegen 0:1. Trainer Domenico Tedesco jedoch ermunterte Kehrer weiter zu solchen Spieleröffnungen und stellte ihn im nächsten Spiel wieder auf. Er kann auf beiden Seiten in der Dreierkette verteidigen, er ist flink und antizipiert gut. Er selbst will sein Spiel nicht ändern. Im Gegenteil: Als Verteidiger will er handlungsschneller werden, noch mehr tiefe Pässe spielen. Die Richtung ist klar, nach vorne.
„Wir benötigen mehr Freiraum für Kreativität“
Genau dieser Mut zur Spielfreude gehörte sehr lange auch zum Anforderungsprofil für deutsche Nationalspieler. Hansi Flick, der ehemalige Co-Trainer der Elf, gab der „FAZ“ im Mai ein bemerkenswertes Interview. Darin verlangte er, dass den jungen Spielern mehr Fehler zugestanden werden sollten. „Wir benötigen mehr Freiraum für Kreativität. Ich glaube, dass es wichtig ist, bis zu einem bestimmten Alter eher individuell als mannschaftstaktisch zu arbeiten.“ Flick gilt als unorthodoxer Tüftler, dessen kritische Expertise sich auch der Bundestrainer Joachim Löw zurückwünschen soll.
Denn strenggenommen geht es nicht darum, die Förderung der deutschen Jugendspieler auf den Kopf zu stellen. Sondern die individuellen Ausnahmetalente zu fördern. Mehr Atmungsfreiheit im Korsett. Sie sollen sich nicht nur toll in den Schnittstellen anbieten, sondern auch mal ein Eins-gegen-Eins wagen. Sie sollen noch den dritten Ball in die Tiefe spielen, selbst wenn zwei Pässe zuvor missraten sind. Frankreich lebte bei der WM trotz all der Geschlossenheit von der Explosivität eines Kylian Mbappé, der sich lustvoll in jedes Dribbling stürzte. Diesen Mbappé gibt es nicht zweimal. Aber auch Deutsch land verfügt trotz der Tristesse der WM über ausreichend Hochbegabte. Das sieht auch Flick so: „Da können Sie selbst die U19 nehmen, die nicht zur EM gefahren ist. Leverkusens Kai Havertz und Arne Maier von Hertha BSC sind zwei Spieler, die richtig gut sind.“
Maier sagt: „I know“
Anfang August ist es in Berlin auf dem Trainingsplatz brütend heiß, weit über dreißig Grad, doch Arne Maier scheint die Hitze nichts auszumachen. Er fordert Zuspiel um Zuspiel. Er zeigt mit dem Finger an, in welchen Fuß er die Pässe haben will, er diskutiert mit Abwehrchef Karim Rekik über die Zuordnung in der Defensive. Am Ende des Spiels kommt Rekik zu Maier, will ihm etwas erklären, doch Maier tippt sich mit dem Finger auf die Brust und sagt: „I know“.
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Er steht mit einer Selbstverständlichkeit auf dem Platz, die man bei den anderen Spielern seines Alters vergeblich sucht. Er ist der Einzige, dessen Statur nichts mehr mit der eines A‑Jugendlichen zu tun hat. Er sucht Bälle, er findet Lösungen. Er behauptet sich auf der vielleicht anspruchsvollsten Position im Fußball, im Mittelfeldzentrum. Maier, der Junge, der als nächstes großes Ding im deutschen Fußball gilt, verdeutlicht mit jeder Aktion: Er ist bereit. Dabei sieht er täglich, wie fragil die Hoffnung sein kann. Einen Steinwurf von Maier entfernt sitzt einer der talentiertesten Spieler des Landes, stützt den Oberkörper hinten mit den Armen ab und jongliert mit den Füßen während des Warmmachens einen Ball, vielleicht aus Jux, vielleicht um ein bisschen zu prahlen. Es ist Sinan Kurt, 22 Jahre, der Ex-Bayern-Spieler. Er darf nur noch bei Herthas Amateuren trainieren, der Verein würde ihn gerne abgeben.
Sternschnuppen gibt es im Fußball genug, doch in Berlin zweifeln nur wenige an Arne Maier, er selbst erst recht nicht. „Manches, was er hat, kann man nicht lernen. Dieses Selbstbewusstsein, die Ausstrahlung. Wenn er gesund bleibt, wird er sehr erfolgreich werden“, sagt Herthas U19-Trainer Michael Hartmann über Arne Maier. „Er hat auf dem Platz keine Angst, deswegen kann er eine Mannschaft Fußball spielen lassen“, sagt Teamkollege Salomon Kalou über Arne Maier. „Ich habe immer gerne den Ball, ich will mich nicht verstecken. Ich suche, wann immer es geht, den Ball in die Tiefe“, sagt Arne Maier über Arne Maier.
Wenn er über sich selbst spricht, dann macht er das souverän wie ein erfahrener Spieler. Die Fragen arbeitet er Stück für Stück weg, weder unhöflich noch ausufernd, er weiß, wie man etwas sagen kann, ohne zu viel zu verraten. Ob er gegen die Platzhirsche auch mal die Ellbogen ausfahren müsse, um sich Respekt zu verschaffen? Quatsch, sagt er, jeder helfe jedem, man sei schließlich ein Team und kämpfe für die gleichen Ziele.
Auch bei den Fotos ist er längst Profi. Er posiert geduldig, er setzt die Regieanweisungen um – einer Kamera zwanzig Minuten in die Linse zu starren, verunsichert ihn nicht. Er wirkt, wie sein Freund Kai Havertz, erschreckend erwachsen, nicht wie ein 19-Jähriger. Auch das ist ein Produkt der Nachwuchsleistungszentren: Die Spieler bekommen in der Jugend nicht nur Fußball‑, sondern auch Medientraining. In beiden Fällen lautet das Ziel: Risikominimierung.
„Dieses Team bedeutet mir viel“
Alle Wegbegleiter von Maier sind sich einig: Seine Einstellung ist herausragend. Da gibt es beispielsweise die Geschichte von der U19-Meisterschaft. Maier, längst Stammspieler im Bundesliga-Team, fiel im Frühjahr 2018 wochenlang krank aus. Pfeiffersches Drüsenfieber. Eines Abends, kurz vor dem Halbfinalrückspiel in Dortmund, vibrierte das Handy von U19-Trainer Hartmann. Eine Nachricht von Maier.
„Er schrieb: Egal, ob ich nur fünf Minuten spielen kann oder komplett auf der Bank sitzen werde. Ich will unbedingt mitfahren. Dieses Team bedeutet mir viel.“ Hartmann nahm Maier mit, setzte ihn auf die Bank, und als das Team den Vorsprung aus dem Hinspiel zu verspielen drohte, wechselte er Maier ein. Fünf Minuten später bereitete der das erlösende Tor vor. Eine Woche danach war Herthas U19 zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte Deutscher Meister.
„Ich appelliere an die Verantwortlichen, den jungen Torhütern Spielpraxis zu geben“
Von der Talentschmiede profitiert der Klub schon jetzt. Hertha BSC setzt vermehrt auf den Nachwuchs. Dieses Credo lassen auch alle anderen Vereine verlauten, in der Realität aber werden hoffnungsvollen Talenten zu oft etablierte Kräfte vor die Nase gesetzt. Beim FC Bayern hat mit David Alaba im Jahr 2012 das letzte Talent den Durchbruch geschafft.
Eintracht Frankfurt stand in diesem Sommer vor dem Problem, dass zeitweise nur zehn deutsche Spieler im Kader standen, die DFL allerdings zwölf vorschreibt. Im weltweiten Transfermarkt suchen die deutschen Klubs derzeit nicht nur nach gestandenen Spielern aus dem Ausland, sondern auch nach dortigen Nachwuchskräften. Der BVB beispielsweise holte Christian Pulisic im Alter von 15 Jahren aus den USA nach Dortmund. Deutsche Nachwuchstalente bekommen also seit einigen Jahren auch Konkurrenz aus der ganzen Welt.
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Der erhöhte Druck kann mitunter zu einer verblüffenden Nachricht führen: Deutschland hat keinen Torhüternachwuchs mehr! Dieser Satz schien lange ähnlich unrealistisch wie „England hat kein Bier mehr in den Pubs“ oder „Italien hat keine Strände mehr“. Doch im Unterbau der Nationalmannschaft kommt kein Torhüter auf regelmäßige Einsatzzeiten in den ersten Ligen. Vor nicht allzu langer Zeit balgten sich Bundesliga-Keeper wie Marc-André ter Stegen, Bernd Leno oder Timo Horn um die Plätze, heute muss Klaus Thomforde, der Torwarttrainer der deutschen U20, öffentlich bitten: „Ich appelliere an die Verantwortlichen, den jungen Torhütern Spielpraxis zu geben.“ Der Coach sieht seine Schützlinge am Wochenende meist nur auf der Bank sitzen. U21-Stammkeeper Alex Nübel ist nur die Nummer zwei auf Schalke.
Selbst Schalkes Stammtorwart Ralf Fährmann hält ihn für „eines der größten Torwarttalente, die Deutschland jemals hatte“. Doch an Fährmann, der S04-Identifikationsfigur, kommt er nicht vorbei. Nübel ist ein Kumpeltyp, beim Gespräch in Österreich sagt er Sätze wie „Ich mach mir da keine Platte“ oder dass er „nicht so die Pakete“ (sprich: dicke Muskeln) habe.
„Der Ralle“ sei sein Freund und solle ihn mal wieder zum Grillen im neuen Garten einladen. Nübels Torhüterbiografie sticht hervor, weil er in seiner Jugend in Paderborn nur höchstens zwei Mal pro Woche spezielles Torhütertraining erhielt. Ansonsten kümmerten sich die Keeper um sich selbst, übten Torschüsse und spielten im Feld gegen die jüngeren Keeper. Der Autodidakt Nübel wurde so zu einem beidfüßigen, mitspielenden Torwart. Seine Stärken konnte er bisher nur in 46 Minuten Bundesliga unter Beweis stellen. Er erkennt die Stärke von Fährmann an, aber Nübel sagt auch: „Wenn ich in der kommenden Saison kein einziges Spiel mache, muss ich mich sicher im nächsten Sommer umschauen.“
„Ich könnte heulen, dass wir den Jungen nicht gekriegt haben“
Ähnlich ergeht es Johannes Eggestein, dem zwanzig Jahre alten Mittelstürmer von Werder Bremen. Ihm wird ständig ein Älterer vor die Nase gesetzt. Eggestein war Torschützenkönig der B‑Junioren-Bundesliga, der A‑Junioren-Bundesliga, schoss sagenhafte 80 Tore in 79 Spielen. Er galt zu dieser Zeit als Synonym für die deutsche Zukunft – jetzt stagniert seine Karriere. Vor ihm ist Max Kruse gesetzt, nun sogar der 40-jährige Claudio Pizarro. Nur sieben Spiele hat Eggestein bisher als Profi absolviert, in der vergangenen Saison kam er auf mickrige 93 Einsatzminuten.
Eine so zähe Wartezeit schien unwahrscheinlich, als Eggestein noch in den Juniorenmannschaften für den TSV Havelse kickte. Bei einem renommierten Jugendpokal in Niedersachsen 2011 explodierte er, schoss 20 Tore für den Stützpunkt Hannover. „Da haben wir gegen alle Kreisauswahlmannschaften überzeugt“, sagt Eggestein. Er wurde so vom kleinen Sprungbrett in Havelse aus durch die Galaxien der Scoutingabteilungen geschleudert. Nicht nur aus Deutschland riefen sämtliche Vereine an, auch Manchester United und der FC Liverpool klingelten durch, zudem die U15-Nationalelf.
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Er aber entschied sich, in Havelse zu bleiben. „Ich hatte doch alles da. Meine Freunde, meine Familie, Fußball“, sagt er. Der Junge mit dem blonden Pony ist jemand, der nachdenkt, bevor er spricht. „Ich glaube, dass es nicht schadet, wenn ein Fußballer lange zu einer ganz normalen Schule geht.“ Erst im Alter von 15 Jahren entschied er sich zum Wechsel und folgte seinem älteren Bruder Maximilian nach Bremen. Als U15-Nationalspieler schoss er gleich sieben Tore in vier Spielen. „Ich könnte heulen, dass wir den Jungen nicht gekriegt haben“, zeterte Hannovers Scout Dieter Schatzschneider.
„Wir brauchen Geduld“
Die „Bild“-Zeitung berichtete über das Juwel aus dem Stadtteil Garbsen, als wäre soeben die Vorherrschaft im deutschen Fußball entschieden worden. Als Werder Bremen 2016 Eggesteins Vertrag verlängern wollte, musste sich der Verein erneut gegen Bewerber wie Manchester United durchsetzen. Er blieb, weil er dem Klub etwas zurückgeben wollte, sagt er. Zwei Jahre später, im letzten Jahr seines Vertrags, hat sich die Situation verändert. Der 20-Jährige sei ein klassischer Leihkandidat für einen Zweitligisten, meint der „Kicker“. „Ich möchte im nächsten Jahr mehr Einsatzzeit“, sagt er selbst. Eggestein soll nun zum Außenstürmer umgeschult werden.
In einer Zeit, in der Deutschland über die Mangelware Mittelstürmer klagt, finden sich im Land drei Talente außer Dienst. Jann-Fiete Arp (HSV), Janni Serra (BVB, mittlerweile Holstein Kiel) und Eggestein standen im Zentrum der U‑Nationalmannschaften. Aber keiner von ihnen hat sich bisher im Profifußball durchsetzen können. „Die Fälle von Jann-Fiete und Janni zeigen ja auch, dass es nicht den Königsweg gibt. Wir brauchen eben Geduld“, sagt Eggestein. Mit Serra steht er im Austausch, zusammen haben sie beim TSV Havelse begonnen.
Um den Dritten im Bunde, Jann- Fiete Arp, entstand im Sommer ein wildes Gezerre am Transfermarkt. So- gar Bayern München soll schon handfeste Gespräche mit dem Talent geführt haben. Am Ende unterschrieb der 18-Jährige für ein weiteres Jahr beim Hamburger SV. Doch Arp verpasste den Saisonstart in der zweiten Liga, er war in die zweite Mannschaft der Hamburger beordert worden. Die HSV-Pressestelle blockt gerade alle Anfragen für Arp ab. Der Verein will ihn aus der Öffentlichkeit heraushalten, weil der Hype nicht spurlos an ihm vorbeigegangen sei. Fälle wie Eggestein oder Arp zeigen, dass die Begeisterung für ein vermeintliches Wunderkind in manchen Fällen auch zu früh und zu groß sein kann.
Rein sportlich stellen sich den Vereinen in diesem Sommer entscheidende Fragen: Lassen sie ihren Talenten Fehler durchgehen, ermöglichen sie ihnen Freiheiten auf dem Rasen – und geben sie ihnen im Kampf mit den erfahrenen Spielern überhaupt eine Chance? Auf der anderen Seite müssen sich die Jugendspieler fragen: Finden sie nach behüteten Jahren in den Internaten ihren Weg, mit Widerständen und dem gesteigerten Druck umzugehen – und zwar sportlich und medial? Gehen sie selbst ins Risiko?
In den nächsten Monaten stehen erst einmal andere Spieler, die älter als 21 Jahre sind, in der Nationalelf vorne in der Schlange: Leroy Sané, Serge Gnabry, Leon Goretzka – alle drei spielen jetzt schon in Spitzenvereinen um Titel. Für Arne Maier, Johannes Eggestein und die anderen Spieler zwischen 18 und 21 gilt der flapsige Spruch: „Talent ist nur große Geduld.“ Gesagt hat das der Schriftsteller Anatole France – und ausnahmsweise mal nicht Mehmet Scholl.
Erstes Bundesligaspiel, erstes Tor
Manchmal starten große Karrieren eben auch nicht am Reißbrett, sondern am Rastplatz. Der zwanzig Jahre alte Mainzer Jugendspieler Ridle Baku war im Mai gerade mit den Amateuren im Bus auf dem Weg zum Auswärtsspiel in Freiburg. Am gleichen Tag kämpfte die Profimannschaft mit Haut und Haaren gegen Leipzig um den Klassenerhalt. Dem Trainer Sandro Schwarz brachen wegen Verletzungen und Krankheiten gleich zwei Mittelfeldspieler weg, da erinnerte er sich an diesen laufstarken Burschen aus der Jugend: Ridle Baku. „Ich kenne ihn schon lange und war überzeugt, dass er das drauf hat, von Anfang an zu spielen“, sagt Trainer Schwarz heute. Er gab die Order, dass jemand schnell diesen Jungen herbringen sollte. Baku bekam also die Nachricht, stieg aus dem Bus und spazierte eine Stunde lang auf einem Rastplatz umher. Erst dann wurde er von einem Betreuer der ersten Mannschaft mit dem Auto abgeholt und zurück nach Mainz gebracht.
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Bakus Eltern gehen regelmäßig zu Mainz 05, und sie saßen auch gegen Leipzig auf der Tribüne. Als die Spieler den Rasen betraten, trauten sie ihren Augen nicht: Ihr Junge, der doch eigentlich in Freiburg sein sollte, lief in der ersten Elf auf. Mainz spielte wie befreit, rang Leipzig 2:0 nieder und in der 90. Minute fiel kurz hinter der Mittellinie ein hoher Ball vor Bakus Füße. Er legte ihn sich vor, rannte einfach los, vorbei am letzten Leipziger Verteidiger und stand plötzlich alleine vor dem Torwart. Die lange Ecke war frei, dachte er, und schob den Ball genau dort hin. 3:0. Erstes Bundesligaspiel, erstes Tor, Baku legte sich ungläubig die Hände vors Gesicht. In der folgenden Woche spielte Mainz beim Champions-League-Anwärter Dortmund, Baku zum ersten Mal vor 80 000 Zuschauern. Nach vier Minuten traf er mit einem Traumtor zum 1:0. Mainz gewann 2:1 – und feierte sensationell den Klassenerhalt.
Sein Vater rief ihn zu Ehren von Karl-Heinz Riedle stets „Ridle“
Im Sommertrainingslager trifft Mainz 05 auf das mit Altstars gespickte West Ham United. Der 20 Jahre alte schmächtige Ridle Baku wuselt rechts im Dreiermittelfeld umher. Nach zehn Minuten sprintet er bei einem Angriff bis in die vorderste Reihe und verpasst nur knapp das Tor. Trainer Schwarz hebt den Daumen. „Gut, Ridle.“ Nur drei Minuten später schimpft Schwarz und hebt zwei Finger. „Ridle, zwei vor der Abwehr, geht der Pierre, bleibst du.“ Baku nickt brav. Er läuft und läuft. Für die Fans ist der Junge, der seit der E‑Jugend für Mainz spielt, nach einer Saison voller Grabenkämpfe und ungewöhnlicher Mainzer Unruhe wie ein zusätzlicher Kitt. Und für alle Fußballromantiker kommt noch hinzu, dass ihn sein Vater zu Ehren von Karl-Heinz Riedle „Ridle“ rief – bis der Filius sich den Namen in den Pass eintragen ließ. Eigentlich fehlt in Mainz zur Glückseligkeit nur noch, dass er nicht „Ridle“, sondern Kloppo Baku oder Bumm-Bumm Babatz Baku heißt.
Nach dem Spiel gegen West Ham steht er am Zaun bei den Jugendlichen, die nur ein paar Jahre jünger sind als er. Sie fragen nach seinen Schienbeinschonern, nach einem Foto, nach einem Autogramm. Baku lächelt geschmeichelt, tippelt von einem Fuß auf den anderen. Hinter ihm läuft West Hams Marko Arnautovic vorbei und dreht ein Facetime-Video. Baku schaut kurz rüber, fast selbst Fan. So ganz kann er seine Geschichte noch nicht erklären. Er wisse gar nicht mehr, wie dieser ominöse Rastplatz damals hieß. „Aber irgendwann würde ich noch mal gerne dahin zurückkehren, um alles Revue passieren zu lassen.“
In der Debatte um Systeme, Nachwuchsleistungszentren, flache Hierarchien oder Laufdiagnostik ist Bakus Story eine Erinnerung an die Basics. Am Ende sind es talentierte Fußballer, bloß Jungs, die loslaufen wollen. Die sich bestenfalls „keine Platte machen“. Und falls irgendwer in ein paar Jahren den Startpunkt einer womöglich großen Karriere besuchen will: Es handelte sich um die bestens gelegene Autobahnraststätte Bruchsal an der A5.
Kai Havertz, war es schwer, mit 15 für den Fußball von daheim wegzuziehen?
Es war nicht einfach, meine Mutter war anfangs total dagegen. Doch letzten Endes haben meine Eltern mir die Entscheidung überlassen. Der Kompromiss war, dass sie sich meine Gastfamilie aussuchen konnten. Es wurde zufällig der Stadionsprecher von Bayer Leverkusen, und wir verstanden uns direkt im ersten Gespräch prächtig. Ich zog dann in seinem Altbau in eine Art WG mit zwei anderen Spielern.
Wie lebt es sich mit der Doppelbelastung von Schule und Fußballinternat?
Die Schulzeit war hart, das gebe ich zu. Ich erinnere mich an unser Pokalspiel mit den Profis in Lotte. Das Spiel ging in die Verlängerung, dann ins Elfmeterschießen. Ich habe meinen Versuch verwandelt, aber wir schieden aus. Da war ich um vier Uhr nachts zu Hause, und um acht Uhr morgens musste ich eine Englischklausur schreiben. Die Klausur ist dann dementsprechend nicht so gut ausgefallen – ähnlich wie das Spiel in Lotte. Aber ich habe mich doch durchgekämpft und mein Abitur geschafft.
Sie haben angefangen, Klavier zu spielen. Warum?
Zur Ablenkung, ich muss den Kopf freibekommen. Momentan lerne ich ein klassisches Stück und versuche mich an den Songs aus dem Film „Die fabelhafte Welt der Amélie“. Ich will nicht jede Tonart lernen, sondern nur einzelne Lieder. Ich habe Unterricht, wenn es gerade passt. Eine Zeitlang traf ich mich ein Mal pro Woche mit einer Lehrerin, aber das ist bei den „Englischen Wochen“ natürlich schwer.
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Sie sind mit den Kollegen Arne Maier und Gian-Luca Itter befreundet. Haben Sie auch Freunde außerhalb des Fußballs?
Früher war mein Freundeskreis in Aachen größer, heute habe ich außerhalb des Fußballs eigentlich nur noch zwei echte Freunde. Der Kreis sollte auch nicht zu groß sein. Ich merke nämlich schon, dass sich nun mehr Leute bei mir melden, mit denen ich früher nicht viel zu tun hatte. Sie fragen mich dann nach Trikots oder Eintrittskarten. Ihnen geht es dann mehr um den Profifußballer Kai Havertz als um den Menschen. Da muss ich aufpassen, nicht ausgenutzt zu werden.
Trotz Ihnen und Maier scheiterte die U19 an der EM-Quali. Auch andere U‑Teams stagnieren. Hat der deutsche Nachwuchs ein Problem?
Andere Länder wie Frankreich oder England sind in der Jugendarbeit weiter, gerade beim Thema Athletik. Viele Spieler aus diesen Ländern waren in der U17 schon richtige Büffel und ganz andere Kaliber; sie waren größer, schwerer und athletischer als wir. Der deutsche Fußball hat immer noch einen sehr guten Ruf, wenn man sich all die Talente anschaut, aber klar: Andere Länder schlafen nicht.
Haben Sie einen Zukunftsplan, vielleicht auch in puncto A‑Nationalelf?
Das kann man schwer vorhersagen. Ich möchte vielmehr alles für Bayer geben. Wir haben ehrgeizige Ziele. Und in Bezug auf die Nationalmannschaft: Ich möchte in zwei Jahren bei der EM dabei sein, da bin ich 21 und in einem guten Alter. Ich muss noch viel dafür arbeiten, aber es ist nicht unmöglich.
Dennis Geiger, können Sie 18 Systeme rückwärts furzen?
Nein.
Mit diesen Worten kritisierte Mehmet Scholl die deutsche Jugendarbeit. Er behauptete, den jungen Spielern werde das Kreative ausgetrieben, dafür könnten Jungs wie Sie 18 Systeme rückwärts furzen.
Ich weiß nicht, wie es war, als Mehmet Scholl Fußball spielen gelernt hat. Deswegen kann ich schwer beurteilen, ob die jungen Spieler früher mehr Kreativität vermittelt bekamen. Mich interessieren solche Diskussionen wenig und mir ist es auch egal, wer was über irgendwelche Jugendtrainer sagt. Ich muss mich auf meine Leistung konzentrieren.
Mit Ihrer Leistung überraschten Sie vergangene Saison in der Bundesliga. Hatten Sie damit gerechnet, dass Sie sich so schnell als Profi etablieren würden?
Nein. Dass es so schnell ging, kam auch für mich überraschend. Aber ich bin dankbar für die Chance, die mir der Trainer gegeben hat, und froh darüber, dass ich das Vertrauen bisher zurückzahlen konnte. Damit das so gut klappen konnte, war das Jahr davor für mich extrem wichtig. Da habe ich ja schon mit den Profis trainiert.
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Gab es in der Jugend einen Moment, in dem Sie darum bangen mussten, den nächsten Schritt zu packen?
Das soll nicht arrogant klingen, aber bei mir war immer klar, dass ich von einer U‑Mannschaft in die nächste hochgezogen werden würde. Ich spiele ja auch, seitdem ich 14 Jahre alt bin, in der Jugendnationalmannschaft. Damals habe ich mit der badischen Auswahl an Sichtungsturnieren teilgenommen und bekam danach per Mail eine Einladung.
Was denken Sie: Hat der deutsche Fußball derzeit ein strukturelles Problem?
Wenn man mal überlegt, welche Spieler bei der WM in Russland nicht nominiert waren oder aber als Ergänzungsspieler dabei waren, dann bin ich auch für die Zukunft optimistisch. Ein strukturelles Problem sehe ich nicht.
Welche Spieler haben Sie im Kopf, wenn es um die Zukunft der Nationalmannschaft geht?
Zum Beispiel Leroy Sané, Julian Brandt oder Leon Goretzka.
Was ist mit Dennis Geiger?
Ich selbst bin noch weit davon entfernt.
Dafür kennen Sie sich im internationalen Nachwuchsfußball bestens aus. Wo stehen die deutschen U‑Mannschaften im internationalen Vergleich?
Das kommt total auf den Jahrgang an. Manche sind ganz vorne mit dabei, andere hinken vielleicht ein bisschen hinterher. Generell würde ich aber sagen: Die deutschen U‑Mannschaften brauchen sich nicht zu verstecken.
Vor keiner Mannschaft der Welt?
Die Franzosen und die Engländer sind derzeit wohl ein Stück vor uns. Speziell die Franzosen spielen, was Spitze und Breite ihrer Jugendmannschaften angeht, in ihrer eigenen Liga. In den U‑Nationalmannschaften waren, egal wann ich gegen sie gespielt habe, ausschließlich Raketen dabei. Vor allem im Mittelfeld und in der Offensive ist Frankreich das Maß der Dinge.