Mal sind es 19, mal 20 und mal nur 17 Rote Karten. In Südamerika endet anscheinend kein Spiel ohne Massenplatzverweis. Kürzlich hat ein Schiedsrichter 36 Spieler des Feldes verwiesen. Ist das der endgültige Weltrekord? Wir hoffen es.
Wir lieben den Abgrund. Das Leben am Limit. Typen, die Bruce oder Jack heißen. Brennende Autos, tollkühne Polizisten. Und wir lieben: Weltrekorde. Solche wie den von Kazuhiro Watanabe, der einen 1,18 Meter hohen Iro trägt und deswegen Autos oder geschlossene Räume nicht betreten kann. Oder diese legendäre Hündin mit der 43 Zentimetern langen Zunge, die Frau mit den 15.000 Barbie-Puppen, der Mann mit den 241 Piercings, den Jungen, der einmal 224 T‑Shirts übereinander zog und damit sehr dick aussah. Und als kürzlich ein Österreicher aus 39.000 Metern Höhe auf die Erde sprang, fanden die Menschen das besonders großartig. Ein total crazy Typ. Kurz vor dem Sprung rief der Österreicher: „I’m coming home“. Kurz danach sagte er, dass er eine „gemäßigte Diktatur“ gar nicht so schlecht findet. Aufstieg und Fall an einem Tag.
Der Fußball ist jeden Monat am Limit, denn im Fußball wird jeden Monat ein Weltrekord geknackt. Die Menschen lesen davon dann in der Zeitung und denken wie beim crazy Baumgartner „Gibt’s doch gar nicht!“ Oder sie erzählen die Geschichten in den Mittagspause ihren Kollegen und dann sagen die: „Gibt’s doch gar nicht!“ In Südamerika sagen die Menschen sehr oft „Gibt’s doch gar nicht!“, denn hier werden nahezu jeden Monat Platzverweisweltrekorde gebrochen.
17 Rote Karten? Das ist Kindergarten!
Am vergangenen Samstag war es wieder mal so weit: Ein Fußballspiel in Montevideo endete mit 17 Platzverweisen. Beim Stand von 3:3 hatte Schiedsrichter Leodan Gonzalez der Heimmannschaft Montevideo Wanderers FC einen Strafstoß verweigert. Kurze Zeit später kam es zu tumultartigen Szenen auf dem Platz, Spieler gingen aufeinander los, Fans prügelten sich auf den Tribünen, fliegende Steine und Fäuste. Das komplette Programm. Gonzalez zeigte jeweils acht Spielern aus beiden Teams die Rote Karte, schon während der regulären Spielzeit war ein Wanderers-Profi des Feldes verwiesen worden. Die Presse schrieb von „rekordverdächtigen 17 Roten Karten“. Doch so aufregend das klingt: Das ist weder „Rekord“ noch „rekordverdächtig“! Das ist Kindergarten!
Bereits im März 2009 hatte ein Schiedsrichter 18 Spieler des urugayischen Klubs General Lamadrid vom Platz gestellt, weil sie auf Provokationen der Heimfans mit Handgreiflichkeiten reagierten. Auch hier jubelte die Presse: „Weltrekord!“ Doch auch hier stellte sich heraus, dass bereits 1993 eine Partie in Paraguay (Sportivo Ameliano und General Caballero) stattgefunden hatte, bei der es 20 Platzverweise hagelte. Der Rekord, folgt man dieser Berichterstattung, wurde erst im Dezember 2011 in Antigua eingestellt. Das Spiel zwischen Wadadli 5Ps und den CPTSA Wings musste der Schiedsrichter nach 70 Minuten abbrechen, weil es auch hier zu einer Massenschlägerei gekommen war. Hier flogen ebenfalls 20 Spieler runter. Weltrekord! Nun aber!
Platzverweis für über 30 Akteure?
Oder doch nicht? Es ist kompliziert. Denn mit einem Mal geisterte da das Jahr 1990 durch die Almanache. Damals sollen im Montevideo-Derby zwischen Peñarol und Nacional alle 22 Spieler vom Platz geflogen sein. Und in der Nähe von Buenos Aires fand im März 2011 ein Spiel statt, bei dem über 30 Akteure die Roten Karte sahen. Doch der Fußballverband hob etliche Sperren nachträglich wieder auf, da man Sorge hatte, einen Präzedenzfall zu schaffen.
Dann passierte erst einmal nichts. Immerhin krachte es zwischenzeitlich endlich mal in Europa. Ricky Broadley, Waliser in Diensten der Mountain Rangers, trat in einem Pokalspiel gegen Caernarfon Town FC seinen am Boden liegenden Gegenspieler, beschimpfte den Schiedsrichter mit üblem Vokabular, übergoss ihn noch mit Wasser und bedrohte ihn im Klubheim. Dafür verdiente er sich vier Rote Karten. Dabei blieb es allerdings in dem Spiel, denn kein weiterer Spieler wurde vom Platz gestellt.
Der „Brutalo-Kolumbianer“ und der „Rot-Rüpel“
Genaugenommen passt Broadley also ebenso wenig in diesen Text wie Gerardo Bedoya. Der Kolumbianer erhielt 41 Rote Karten – nicht in einem Spiel, sondern in seiner gesamten Karriere. Die Namen stehen hier trotzdem, denn auch sie sind Weltrekordhalter und haben in Deutschland besonders tolle Kosenamen. Bedoya ist der „Brutalo-Kolumbianer“ (t‑online), Broadley ist der „Rot-Rüpel“ („Bild“). Wie lange werden sie diese Titel tragen?*
Zurück zu den Massenplatzverweisrekorden. Denn vor einigen Wochen erreichte uns eine erlösende Nachricht: Nach einer Schlägerei zwischen zwei Spielern von Teniente Farina und Libertad Club zeigte Referee Nestor Guillen zweimal Rot. Danach stürmten die restlichen Spieler und Ersatzspieler das Feld. Der Schiedsrichter flüchtete in die Kabine und notierte 36 Rote Karten. Einige Funktionäre reagierten mit Unverständnis. Angeblich wollten die anderen Spieler den Streit schlichten.
Wichtiger indes: Es gibt endlich einen Weltrekord, der so absurd ist, dass er echt sein muss. 36 Spieler! Hieß einer von ihnen Bruce? Oder zumindest Rodriguez? Brannten ihre Autos? So oder so: 36! Das ist endlich mal eine Ansage! Das ist ein Leben am Limit. Am Abgrund. Zumindest so lange bis in der kommenden Woche 37 Spieler bei einem Drittligaspiel in Peru oder bei einem Amateurspiel in Venezuela vom Platz fliegen.
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*Kurz vor Abschluss des Textes erreichte die Redaktion diese Nachricht.