Eigentlich irre: 599 Tage hat Manuel Neuer kein Länderspiel absolviert – und wird bei der WM wohl doch die Nummer eins sein. Ein Versuch einer Erklärung.
Ter Stegen, 26, steht seit vier Jahren beim FC Barcelona unter Vertrag, einem der größten Klubs der Welt. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten genießt er dort inzwischen allerhöchsten Respekt; die spanische Presse hat ihn als „Messi in Handschuhen“ gefeiert. Zumindest im Spielaufbau mit dem Fuß ist ter Stegen so gut wie Neuer. Und seine Leistungen in der Nationalmannschaft, anfangs schwankend, waren zuletzt ebenfalls über jeden Zweifel erhaben. „Dass er bei Barcelona so ein Standing hat, das ist überaus toll und klasse. Das hat auch was mit seiner Persönlichkeit zu tun“, sagt Joachim Löw. „Er ist unheimlich gereift. Er wirkt irgendwie so auch in der Mitte, sehr, sehr stabil und klar. Das hat mir schon imponiert in den letzten zwei, drei Jahren.“
Manuel Neuer mitzunehmen ist deshalb keine rationale Entscheidung. Neuer ist für den deutschen Fußball eine übersinnliche Erscheinung und für Bundestrainer Löw der Faktor X im Unternehmen Titelverteidigung. „Marc-André ter Stegen hat sich super entwickelt“, hat Nationalverteidiger Jerome Boateng gesagt, „aber Manu hat eine andere Ausstrahlung als jeder andere.“
Neuer füllt das Tor komplett aus – mit seiner Persönlichkeit.
Man muss nur mal ein Elfmeterschießen mit oder gegen Manuel Neuer erlebt haben: wenn er seinen Platz auf der Linie einnimmt, kurz auf und ab hüpft und es scheint, als könnte er mit seinem Scheitel die Latte berühren; wenn er den rechten Arm ausfährt und fast an den rechten Pfosten heranreicht. Und dann das Gleiche mit dem linken Arm macht. Das Fußballtor, 2,44 Meter hoch und 7,32 Meter breit, schrumpft in solchen Momenten auf die Größe einer Mülltonne. Neuer füllt es scheinbar komplett aus, mit seiner Statur, vor allem aber mit seiner Persönlichkeit.
Marc-André ter Stegen ist nur sechs Zentimeter kleiner, sieben Kilogramm leichter, und selbst wenn man es ungerecht oder sportlich unverantwortlich findet, dass er nun wieder hinter Neuer zurücktreten muss: Er entfaltet nicht dieselbe Wirkung, nicht in seine eigene Mannschaft hinein, aber auch nicht auf die Spieler des Gegners.
„Mit dem Fuß geht es wirklich gut.“
Was Neuer zu all dem denkt? Er äußert sich nicht. Auch nicht nach dem Spiel in Klagenfurt. Am Dienstag werde er sprechen, verkündet die Medienabteilung des Deutschen Fußball-Bundes, DFB. Am Tag nach der Kaderbekanntgabe. Neuer ist zwar der Kapitän, aber er hat auch in Eppan weder Interviews gegeben, noch ist er bei einer der täglichen Pressekonferenzen aufgetreten. Allein dem Fernsehmann des DFB spricht Neuer ein paar dürre Sätze in die Kamera. „Ich bin wirklich guter Dinge“, sagt er. Und: „Mit dem Fuß geht es wirklich gut.“ Auf der Internetseite des Verbandes ist zu Beginn der Vorbereitung jeden Tag ein neues Video über den Torhüter zu sehen: „Manuel Neuer – die Serie“, Folge eins bis fünf.
Man sieht Neuer bei der Ankunft in Südtirol mit falsch herum aufgesetzter Basecap, man sieht ihn in Trainingsklamotten, beim Fahrradfahren und beim Schuhanziehen – vor allem aber sieht man ihn beim Springen und Hechten, beim Fangen und Fausten, beim Laufen und Grätschen. Die Botschaft lautet: Macht euch keine Sorgen! Flankiert werden die Bilder von entsprechenden Aussagen aus dem Trainerteam und aus der Mannschaft. „Im Training hat man von der Sprungkraft, von der Beweglichkeit überhaupt keine Unterschiede gesehen“, sagt Andreas Köpke, der Bundestorwarttrainer. „Es war, als wäre er nie weggewesen.“
Köpke, 56, war selbst Nationaltorhüter. Auch er hat nichts erkennen können bei Neuer, keine Einschränkungen, keine schiefen Bewegungen, keine Schonhaltung, keinen falschen Respekt. Die Nationalmannschaft zeichnet jede Trainingseinheit per Kamera auf. Köpke hat die Videobilder noch mal in Zeitlupe an seinem Laptop seziert. Auch da: keine Auffälligkeiten. So erzählen es alle. „Ich habe schwer aus der Röhre geguckt, wie er im ersten Training die Bälle rausgekratzt hat“, berichtet Innenverteidiger Niklas Süle. „Das habe ich so noch nicht erlebt.“
Torhüter sind eine eigene Spezies. Mal kommen Neuer und die anderen drei – Marc-André ter Stegen, Bernd Leno und Kevin Trapp – ein bisschen früher auf den Platz als die Feldspieler, mal später. Sie absolvieren ihr eigenes Aufwärmprogramm, jeder so, wie er es für richtig hält. Neuer läuft parallel zur Torauslinie, er schmeißt sein Bein, gerade wie eine Zaunlatte, in die Luft, die Fußspitze schießt über seinen Kopf hinaus. Nach ein paar Bahnen setzt er sich am Strafraumeck auf den Boden.
Manuel Neuer ist etwas Besonderes
Trapp jongliert den Ball auf seinem Fuß, Leno schießt scheppernd gegen eine Wand, die im Fünfmeterraum aufgebaut ist, und ter Stegen plaudert mit Köpke. Als der Torwarttrainer seine Übungen beginnt, sitzt Neuer immer noch auf dem Rasen. Er dehnt und streckt sich. Schon dieser kurze Einblick genügt, um zu erkennen, dass Manuel Neuer etwas Besonderes ist.
„Er ist unser Mannschaftskapitän, wir sind 2014 Weltmeister mit ihm geworden, deshalb versuchen wir auch bis zum Schluss alles, damit es hundertprozentig funktioniert“, sagt Köpke. Die Deutschen haben ihre Torhüter schon immer für die besten der Welt gehalten, egal ob Sepp Maier, Toni Schumacher oder Oliver Kahn.
„Er ist eigentlich in allen Bereichen komplett“
Auf Manuel Neuer, viermal Welttorhüter des Jahres, kann sich auch der Rest der Welt verständigen. Weil er nicht nur gut auf der Linie ist, wie viele deutsche Torhüter der Vergangenheit, sondern mit seiner offensiven Interpretation des Torwartspiels stilbildend gewirkt hat. So wie Neuer – vorausschauend, mutig, ballsicher auch mit dem Fuß – muss man heutzutage als Torhüter auftreten. „Er ist eigentlich in allen Bereichen komplett“, findet Thomas Schneider, Löws Assistent, „unfassbar gut“.
Die Erfahrung zeigt, dass es bei einem großen Turnier wie einer WM immer ein Spiel gibt, in dem es für die Mannschaft nicht so läuft wie erhofft. Ein Spiel, das der Torhüter mehr oder weniger allein gewinnen muss. Vor vier Jahren in Brasilien hat Manuel Neuer den Deutschen zwei Spiele gewonnen. Das erste war das Achtelfinale gegen Algerien. Der krasse Außenseiter überrumpelte den Favoriten aus Deutschland immer wieder mit simplen Kontern. Neuer sprintete in Serie aus seinem Strafraum, er grätschte jeden Angriff weg. Manu, der Libero, wurde er anschließend genannt.