Eigentlich irre: 599 Tage hat Manuel Neuer kein Länderspiel absolviert – und wird bei der WM wohl doch die Nummer eins sein. Ein Versuch einer Erklärung.
Manuel Neuer wippt im Strafraum auf seinen Fußballen auf und ab, in seinen Händen, direkt vor seinem Bauch, hält er einen Ball. Die deutsche Nationalmannschaft hat Aufstellung genommen zu einer taktischen Übung: verschieben, rausrücken, passen. Aber vorher ist noch Zeit für ein privates Duell zwischen Neuer, dem Torhüter, und Ilkay Gündogan, dem Mittelfeldspieler. Gündogan schlägt aus dem Mittelkreis einen langen Pass in Richtung Strafraum. Der Ball surrt durch die Luft und würde sich vermutlich genau ins Tor senken. Manuel Neuer wartet, er schaut, er holt Schwung aus der Hüfte, löffelt seinen Ball mit beiden Händen senkrecht in die Höhe – und trifft Gündogans Ball.
Zweifelt wirklich noch jemand, dass Manuel Neuer sein Gespür für Raum und Zeit wiedergefunden hat?
Und gab es irgendjemanden, der ernsthaft davon ausging, dass Neuer von Bundestrainer Joachim Löw aus dem Kader für die Weltmeisterschaft gestrichen würde? Drei Feldspieler und einen Torhüter hat es erwischt. Manuel Neuer war nicht darunter. Neuer, 32 Jahre alt, Stammtorhüter und Kapitän, wird in Russland dabei sein. Und natürlich wird er dann auch am Sonntag kommender Woche im ersten WM-Spiel des Titelverteidigers die Nummer eins sein.
Wenn es einen Gewinner unter den Verlierern gibt, ist es Neuer
Daran besteht spätestens seit Samstagabend, seit seinem Startelfeinsatz im Testspiel gegen Österreich, kein Zweifel mehr. Wenn es bei dieser 1:2‑Niederlage überhaupt einen Gewinner unter den deutschen Verlierern gibt, dann ist es Manuel Neuer. „Es war alles so weit so gut“, berichtet Bundestrainer Löw. „Er hat keine Probleme gehabt.“ Für Neuer ist es der erste Einsatz nach mehr als acht Monaten, sein erstes Länderspiel seit dem 11. Oktober 2016. Exakt 599 Tage sind seitdem vergangen.
Das Spiel in Klagenfurt ist so etwas wie die letzte Prüfung für Neuer – und sie fällt härter aus, als man das erwartet hätte. Es regnet und hagelt, blitzt und donnert. Beim Warmmachen prasseln die Hagelkörner auf Neuers Körper. Die Spieler müssen in die Kabine, zwei Mal wird der Anpfiff verschoben. Neuer, die Frisur vom Regen komplett verrutscht, blickt in den Himmel, er schließt kurz die Augen und schüttelt den Kopf.
Was, wenn das Spiel ausfällt?
Wenn er gegen Österreich nicht spielt, kann er nicht mit zur WM, hat es in den vergangenen Tagen geheißen. Aber was, wenn das Spiel ausfällt? Wenn Neuer durch höhere Gewalt um die Möglichkeit gebracht wird, sich noch einmal zu präsentieren?
103 Minuten dauert es, bis das Spiel angepfiffen wird, weitere 54 Sekunden, bis Neuer den ersten Ball in den Fuß gespielt bekommt. Und noch mal 31 Minuten, bis auch die letzten Zweifler an Neuer ihre Zweifel zumindest überdenken. Österreichs Mittelfeldspieler Florian Grillitsch steht fünf Meter vor ihm völlig frei, Neuer hat seinen Körper schon nach rechts verlagert, aber Grillitsch schießt nach links, ins kurze Eck. Neuer wendet, taucht hinab und lenkt den Ball mit der Hand am Pfosten vorbei.
Vor zwei Monaten wäre die Nachricht, dass Neuer bei der WM dabei ist, noch eine Sensation gewesen. Selbst vor zwei Wochen, als die Nationalspieler ins Trainingslager nach Südtirol aufbrechen, überwiegen eher die Zweifel als die Gewissheit. Seit dem ersten Trainingstag in Eppan aber kann man quasi dabei zusehen, wie Neuers WM-Chancen von Tag zu Tag größer werden. Wie über ihn nicht mehr im Konjunktiv, sondern zunehmend im Indikativ gesprochen wird. „Er kommt nicht in die Spur“, sagt Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft. „Er ist da schon drin.“
Mitte September hat sich Neuer im Training des FC Bayern München den linken Mittelfuß gebrochen. Um korrekt zu sein: Er hat sich zum dritten Mal den linken Mittelfuß gebrochen, und seitdem befindet sich die Nation, zumindest ihr fußballbegeisterter Teil, in einem Zustand ständiger Erregung. Kaum eine Woche ohne neue ärztliche Bulletins oder medizinische Ferndiagnosen. Anfangs heißt es, zur Rückrunde, also im Januar, werde Neuer auf den Trainingsplatz zurückkehren, später spricht Löw von Februar oder März.
Der Februar geht vorüber, der März auch. Von Neuer ist nichts zu sehen.
Verkraftet er das? Spielt sein Körper mit?
In Eppan nimmt der Wirbel um den Torhüter noch einmal eine neue Dimension an. An Tag vier erzählt Joachim Löw der ARD, wenn Neuer mit nach Russland fahre, werde er auch die Nummer eins sein. Später am Abend hat es diese Aussage des Bundestrainers zur Spitzenmeldung im Heute-Journal des ZDF geschafft. Neuer ist jetzt wichtiger als fehlende Kitaplätze, wichtiger als Nordkorea oder die Abstimmung der Iren über das Abtreibungsverbot.
Was passiert, wenn ihm ein Gegenspieler auf den Fuß tritt?
Rational ist das alles nicht. Auch nicht, dass Löw sich so früh auf seinen Kapitän als Nummer eins festgelegt hat. Neuer hat 90 Minuten gegen Österreich im Tor gestanden, zwei, drei gute Paraden gezeigt. Vielleicht darf er sich auch am Freitag gegen Saudi-Arabien noch einmal unter realen Wettkampfbedingungen versuchen. Er reist ohne nennenswerte Spielpraxis zur WM. Nach mehr als acht Monaten Pause müsste Neuer bei der WM im Idealfall sieben Spiele in nur vier Wochen bestreiten. Verkraftet er das? Spielt sein Körper mit? Was passiert, wenn ihm ein Gegenspieler auf den operierten Fuß tritt? Und was, wenn er in einem der K.-o.-Spiele einen Ball durch seine Hände flutschen lässt?
Sportlich ist die Entscheidung schwer zu begründen. Denn dass Manuel Neuer die Nummer eins sein wird, heißt eben auch, dass Marc-André ter Stegen es nicht sein wird.