Rolf-Arnd Marewski, sind Sie nach 23 Jahren als pädagogischer Leiter des Fan-Projekt Dortmund e. V. eigentlich noch Fan von Borussia Dortmund?
Rolf-Arnd Marewski: Ich bin Sozialarbeiter für die Fans, aber kein ausgemachter Fan von Borussia Dortmund. Natürlich sehe ich es sehr gerne, wenn der BVB gewinnt und ich fiebere auch bis zu einem gewissen Grad mit. Aber offene Begeisterung ist nicht meine Sache.
Seit Beginn der pädagogischen Arbeit mit Fußballfans in Dortmund 1988 sind Sie dabei. Zu dieser Zeit trieb die berüchtigte „Borussenfront“ um den bekannten Neonazi „SS-Siggi“ ihr Unwesen im Westfalenstadion. Was hat Sie bewogen, den Job zu übernehmen?
Rolf-Arnd Marewski: In der Jugend habe ich selber beim BVB gespielt, ich war Torwart. Mit über 30 Jahren bin ich dann als Sozialarbeiter zurückgekehrt – für mich hat sich ein Kreis geschlossen. Der Job hat mich zudem gereizt, weil die Arbeit mit auffälligen und gewaltbereiten Fans damals noch etwas völlig Neues war.
Was waren erste Ansatzpunkte Ihrer Arbeit?
Rolf-Arnd Marewski: Eine meiner ersten Amtshandlungen war ein Besuch in der Borsigstube, dem damaligen Treffpunkt der „Borussenfront“. Ich habe direkt den ersten Anwesenden angesprochen: „Hier sind also die Borussenfrontler und hier muss ja dann irgendwo auch der SS-Siggi sein!“ Dann meldete sich ein Bär von einem Mann, es war der berüchtigte „SS-Siggi“. Das war unser erster Kontakt.
Sie wurden höchstwahrscheinlich nicht mit offenen Armen empfangen.
Rolf-Arnd Marewski: Natürlich nicht. Die ersten Artikel, in denen wir als „Gewalt-Experten“ beschrieben wurden, standen schon in der Zeitung, bevor wir richtig losgelegt hatten. Den Hooligans haben wir unsere Hilfe angeboten und versprochen, uns auch ihre Beweggründe anzuhören – das hat denen wohl Respekt abgenötigt. Dass wir selber keine Nazis waren, haben wir gleich klargemacht. Wobei das bei mir wahrscheinlich gar nicht nötig gewesen wäre. Ich sah damals aus, wie man sich so einen linken Sozialarbeiter vorstellt: lange Matte, Bart, rotes Brillengestell.
Wie haben Sie im Anschluss an den Kneipenbesuch das Vertrauen der „Borussenfront“ gewonnen?
Rolf-Arnd Marewski: Das war am siebten Spieltag der Saison 1988/89 beim Auswärtsspiel in Mannheim. Von einem Spitzel hatten wir erfahren, dass der harte Kern mit dem IC morgens um acht Uhr nach Mannheim fährt. Wir sind dann mit einer Palette DAB-Dosenbier unter dem Arm in den Zug gestiegen, weil wir dachten, dass das der Schlüssel sein könnte – bei einigen war es das sicher auch. Die ganz Harten standen da schon mit Wodka und Kirschsaft, da konnten wir mit unserem Pils nicht allzu viel reißen. Insgesamt waren es vielleicht 30 Hooligans und die haben unser Kommen ganz positiv aufgenommen, zumindest nach außen. Credo war: Na, dann kommt doch einfach mal mit.
Und Sie sind friedlich mit dem Zug nach Mannheim gefahren?
Rolf-Arnd Marewski: Das kann man nicht behaupten. Ich war mittendrin und habe zuerst gar nicht mitbekommen, dass das Abteil immer leerer wurde. In Essen kam der Schaffner und meinte, dass Fahrgäste von der Gruppe bedroht worden waren. Ich habe dann versucht, zu vermitteln. Den Schaffner konnte ich überzeugen, aber die Jungs haben weiter die Fahrgäste eingeschüchtert. In Duisburg kam der Schaffner noch einmal und hatte schon die Polizei benachrichtigt, die in Bonn auf uns wartete. „Fußball ist für die Jungs heute eh vorbei“, waren des Schaffners letzte Worte.
Wie haben die Hooligans reagiert?
Rolf-Arnd Marewski: Die haben mich in die Pflicht genommen. Frei nach dem Motto: Du wolltest uns doch helfen! Jetzt sieh zu, dass du die Sache wieder geradebiegst. Ich habe dem Schaffner klargemacht, dass bei einem Polizeieinsatz möglicherweise der Zug von den Hooligans komplett auseinandergenommen werden würde. Unter Aufbietung all meiner Ausweise und Überredungskünste habe ich ihn schließlich überzeugt. In Bonn wartete aber immer noch die Polizei. Kaum am Bahnsteig angekommen, haben wir direkt mit dem Kollegen mit den meisten Abzeichen auf der Schulter gesprochen. Ich habe absolut auf die Kacke gehauen. Dass das Projekt erst zwei Monate alt war, habe ich natürlich verschwiegen. Irgendwie sind wir damit durchgekommen und bis Mannheim ist es tatsächlich ruhig geblieben. Dort erwarteten uns wieder Polizisten, dieses Mal deutlich weniger einsichtig. Fünf aus der Gruppe wurden verhaftet, der Rest durfte ins Stadion.
Sind Sie mit ins Stadion gefahren?
Rolf-Arnd Marewski: Nein. Ich bin mit auf die Wache. Zwei der Jungs habe ich tatsächlich noch frei bekommen. Gemeinsam mit den beiden Hools wurde ich von der Polizei mit dem Streifenwagen bis unter die Tribüne gefahren worden. Welch ein Triumph! Wir wurden wie Helden empfangen und ich war auf einmal doch der Gute. Was ich zu dem Zeitpunkt noch nicht wusste: Die Hooligans hatten mit uns eigentlich etwas ganz anderes geplant. Ursprüngliche Idee war, meinen Kollegen und mich in Köln aus dem Zug zu zerren und nackt vor den Dom zu stellen. Zurück in Dortmund hat sich dann recht zügig eine Legende gebildet. Wir galten als die Sozialarbeiter, die die Jungs aus dem Knast geholt hatten.
Die „Borussenfront“ galt als sehr gewalttätig – gab es auch Gewalt oder Drohungen gegen Sie und Ihre Kollegen?
Rolf-Arnd Marewski: Im Grunde war ich als Sozialarbeiter tabu. Das ein oder andere böse Wort ist schon gefallen, gerade im betrunkenen Zustand. Aber nach der Geschichte in Mannheim haben die Jungs sich auch geöffnet. Mit einigen Rädelsführern konnte ich auch über ihre ureigenen Probleme reden: Verschuldung, Arbeitslosigkeit. Ich hab mich um Kredite gekümmert und auch mal einen Job besorgt. Damals ging das noch einfacher als heute. An Handgreiflichkeiten erinnere ich mich jedenfalls nicht. Wenn, dann ganz selten und es hat keine bleibenden Schäden hinterlassen.
Wenn man heute an die achtziger Jahre im ehemaligen Westfalenstadion zurückdenkt, sind die Nazis ein großes Thema. Die deutliche Symbolik …
Rolf-Arnd Marewski: Einspruch! Die deutliche Symbolik gab es zumindest in der Endphase der achtziger Jahre nicht mehr wirklich. Ich habe die Hooligans damals so beschrieben: „Nette junge Männer von nebenan, die sportlich elegant gekleidet ihrem Hobby nachgehen.“ Und dieses Hobby bestand darin, sich jeden Samstag mit Gleichgesinnten zu treffen und festzustellen, wer der Stärkere ist. Ich habe der Polizei damals auch ganz unverhohlen vorgeschlagen, eine Wiese bereitzustellen, wo die sich dann die Köpfe einhauen können. Der damalige Polizeichef entgegnete mir: „Herr Marewski, wenn da mal einer liegen bleibt! Ein bisschen Gewalt ist genauso wie ein bisschen schwanger.“
Die Fanszene in Dortmund galt zumindest als aggressiv, nicht wenige der Hooligans waren im Stadion. Heute werden die Fans vom BVB als die besten der Liga bezeichnet. Die „Gelbe Wand“ ist zur Marke geworden. Schreiben Sie sich diesen Verdienst auf die Fahne?
Rolf-Arnd Marewski: Das wäre vermessen. Diese positive Entwicklung ist ein Zusammenspiel so vieler Faktoren: Der Zusammenarbeit zwischen Verein, Polizei, Ordnern und uns. Und vor allem des Prozesses, der innerhalb der Fanszene stattgefunden hat. Heute reinigt sich die Kurve auch mal von alleine.
An die Stelle der Hooligans sind heute Ultra-Gruppierungen getreten …
Rolf-Arnd Marewski: Die beiden Gruppierungen sind nicht miteinander zu vergleichen. Schon rein äußerlich setzen sich die Ultras viel mehr vom „Normalzuschauer“ ab, als es die Hooligans jemals getan haben. Die Ultra-Szene ist auch wesentlich größer als die der Hooligans. Wir sprechen bei den Ultras von einer Jugendbewegung, die auf eine selbstbewusste Art ihre eigenen Interessen vertritt.
Die Interessen einzelner Ultra-Bewegungen werden allerdings auch am rechten Rand angesiedelt. Vor gut zwei Jahren haben einige Mitglieder der Gruppen „Desperados“ und „Northside“ an Straßenkampfübungen in einer Dortmunder Turnhalle teilgenommen. Ein Verfall in alte Strukturen?
Rolf-Arnd Marewski: Das wurde in den Medien größer gemacht, als es tatsächlich war. Die Ultras hier in Dortmund haben wenig mit Rechtsradikalismus zu tun. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass die führenden Köpfe der einzelnen Ultra-Gruppierungen einen demokratischen Hintergrund haben. Das beruhigt mich enorm. Gerade bei den „Desperados“ sind wir sehr nah dran und ich kann deshalb ein Beispiel gegen die Nazi-Theorie anführen: 2010 habe ich in Südafrika den Fußballverein „Borussia Commondale“ gegründet, um mit Hilfe von Dortmunder Fußballfans vor Ort eine Turnhalle und einen Fußballplatz aufzubauen. Die „Desperados“ haben spontan reagiert, ein Fußballturnier organisiert und über 800 Euro für das Projekt gespendet. Nazis hätten diese Spende für den Aufbau demokratischer Strukturen sicherlich nicht unterstützt.
Heute sind eher die unterklassigen Partien Schauplatz für Gewalt. Auch die „Borussenfront“ ist bei einem Spiel der zweiten Mannschaft vom BVB gesichtet worden. Ist das ein Trend, den Sie auch so wahrnehmen?
Rolf-Arnd Marewski: Ich muss ihn wahrnehmen, weil darüber berichtet wird. Unmittelbar kriege ich es nicht mit mit, wenn einige Hooligans beim Spiel in Wanne-Eickel Stunk machen. Vor drei bis fünf Jahren hat eine Verlagerung auf die kleineren Plätze stattgefunden. Aber auch das ist wieder zurückgegangen. Sicherlich ist es aus Sicht der Hooligans reizvoll, in Stadien zu gehen, in denen weniger Polizeipräsenz ist. Aber: Wenn das Spiel der Mannschaft die Hooligans nicht interessiert, also keine emotionale Bindung besteht, dann gehen die da auch nicht hin.
Es wird häufig argumentiert, dass Teile der Hooligans nicht wegen des Fußballs ins Stadion kommen, sondern wegen der berüchtigten „dritten Halbzeit“.
Rolf-Arnd Marewski: Wenn ich das schon höre! Was für ein Quatsch! Als Guido Buchwald 1992 den Traum der Dortmunder Meisterschaft hat platzen lassen, hingen vier der hartgesottensten Hooligans an meiner Schulter und heulten wie die Schlosshunde.
Mit Kevin Großkreutz steht aktuell ein Profi im Dortmunder Kader, der von den Medien gerne zum einzigen Fußballprofi mit echter Fanseele hochgejazzt wird. Können Sie seine Popularität bei Ihrer Arbeit im Fanprojekt nutzen?
Rolf-Arnd Marewski: Der Kevin war schon einmal als Gast bei der „Young Generation“, ein Projekt, das unter 18-Jährigen Auswärtsfahrten ohne Alkohol und Nikotin anbietet. Als Jugendlicher ist Kevin bei den damaligen „Borussenkids“ mitgefahren. Wenn man so will, ist er hier erst mit der Ultra-Szene in Berührung gekommen. Zu Beginn seiner Profilaufbahn hier in Dortmund hatte sein Auftreten gerade in Bezug auf Schalke 04 nicht gerade etwas mit der hohen Kunst der Diplomatie zu tun. Aus pädagogischer Sicht war er als Vorbild für die jungen Leute schwer zu vermitteln. Mittlerweile hat auch er dazugelernt.